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60 Sekunden Verfänglichkeit
Es war ein herrlicher Maimorgen gewesen, als es mir wieder mal passierte: Manchmal verlieren sich meine Augen im Nichts und glotzen entstellt durch den menschlichen Äther, während ich im Geiste verloren zwischen meinen Gedanken wandle. Meine Muskeln entspannen sich in derlei Situationen und verrichten nur das Allernotwendigste. An diesem Morgen hielten sie meinen Körper in seinen Seilen, so dass er nicht erschlaffen und von dem Stuhl gleiten konnte, auf dem ich meinen Kaffee zu mir nahm. Ich saß an einer belebten Einkaufsstraße und hatte Urlaub. Vier Nächte in Folge plus Wochenende kein Schicht- oder Telefondienst, kein Essen-Auf-Rädern und keine Behindertentransporte. Keine endlosen Sisyphosaufgaben bürokratischer Reißzweckkacker, keine ekelhafte und die Autositze eingeweichte Melange aus Aluminium und Bratfett, keine verzwickten Rollstuhlgurte, die sich nicht mit Rädern, Stangen und Schlaufen vereinen wollen, kurz: Vier Nächte (plus Wochenende) kein Zivildienst!
So weit, so gut. Bloß passiert es mir mitunter, dass sich meine Augen in derlei Situationen auf Orten festkleben, die so gar nicht gesellschaftstauglich zum Glotzen geeignet sind. Menschen mit Behinderungen, beispielsweise. Paare, die sich streiten. Mütter, die – peinlich genug – ihre Kleinkinder zur Sau machen, obwohl sie viel schweinähnlicher anmuten. Aber vor allen Dingen: Ärsche und Titten.
Bei Hintern ist es meistens nicht weiter tragisch, wenn ich grenzdebil Sabber absondere, ohne überhaupt zu bemerken, was genau ich gerade betrachte. Immerhin können sich die Träger jener anatomischen Wunderwerke kaum darüber ereifern, da sie mir eben ihr Hinterteil zugewendet haben. Schlimmer ist es bei Brüsten. Aber so schlimm wie heute, war es noch nie.
Ich wandelte in Gedanken durch einen Garten. Allerdings keinen Phantasiegarten, wie ihn sich jede drittklassige Romanfigur ausmalen kann, sondern einen echten Garten. Den Garten meiner Kindheit, den Kindergarten. Entschuldigen Sie das Wortspiel, denn mein Kindergarten – ein für sich recht einfach gebautes, wenig bemerkenswertes Haus – verfügte tatsächlich über einen Garten. Mit Rutschen, Klettergerüst, Efeu, Büschen und so weiter. Sogar ein paar Obstbäume, Erdbeeren und Blumen gab es. Ich schweife ab.
Aber genau hierin liegt das Problem: Abschweifungen. Denn während mein Kaffee zu erkalten drohte, starrte ich eine junge Dame derart auffällig an, dass es geschah: Sie fühlte sich beobachtet, fokussiert. Und das zu recht! Nun bekam ich diesen Umstand genauso wenig mit, wie die ganze Starrerei für sich genommen. Erst als sich die Ponyträgerin mit zu Schlitzen geformten braunen Augen auf das Café zu bewegte, indem ich mein Frühstück zu mir nahm, durchfuhr es mich wie einen Blitz.
Zu allem Überfluss brauche ich dann noch immer eine gewisse Zeit, bis ich wieder zu mir komme. Freilich spreche ich hier von Sekunden. Aber diese können Gold wert sein, wenn ein D-Zug von Frau auf einen zurast. Genau dasselbe dachte ich auch in diesem Augenblick: "D-Zug". - Und schon war ich wieder fort. Kann man bei diesem zierlichen Wesen überhaupt von D-Zug sprechen? Steht das D des Zuges für dessen massive Form oder dessen Geschwindigkeit? Dolly Buster oder Dirk Nowitzki, Dampfbrocken oder Dreihundertmetersprinter?
10 Sekunden mochte ich diesen albernen Gedanken nachgehangen haben. Meine Augen hatten sich derweil in ein neues „Opfer“ verguckt und die junge Dame ließ noch auf sich warten, was mich sehr verwirrte. Ich nachhinein glaube ich, dass sie die Glastür anvisiert hatte, die sich direkt bei meinem Tisch befand. In ihrem Zorn muss ihr entgangen sein, dass morgens nur die äußerste aller Türen geöffnet ist und direkt bei der Stullenablage mündet. Apropos: Genau hinter dieser Stullenablage befand sich die arme Frau Backwarenfachverkäuferin, in deren monströsen Fettwulst von Bauch ich ausgerechnet gedachte, meine Augen hineinbohren zu müssen. Zudem hatte ich wohl ein selten dämliches Grinsen abgelassen, als ich mir eine Dampflok mit Dirk Nowitzki und Dolly Buster als Passagiere zusammenphantasiert hatte.
Sekunde 45, das packende Finale beginnt:
Die Junge kam gerade zur Tür hinein gestürmt, als die Alte (und damit meine ich: Fette) hinter dem Tresen hervor trat. Im Gleichschritt kamen sie auf meinen Tisch zu, und da sie dabei um einen großen Block anderer Tische herum mussten, wurde ihnen diese Situation schnell gewahr.
„Wollen Sie mich auch veräppeln“, brachte die Verkäuferin als Erste hervor.
„Nein“, die hübsche, Junge war nun ganz kleinlaut. Ihr Brüste, die ich ja zum ersten mal mit Bewusstsein betrachtete, waren unter einem engen T-Shirt versteckt, welches gelb zu Jeans und Gürtel hinablief, nicht ohne einen winzigen Blick auf ihren Bauch preiszugeben. Dann ging das Theater schon los:
Die Fette: „Mir hat er auf meinen Wanst gestarrt. Es hält halt eben nicht jeder seine Figur, nach der Geburt von Zwillingen. Und blöd gelacht hat er, die Flitzpiepe.“
Die Junge: „Ach so ist das. Mich hat er auch angestarrt, wie ein notgeiler Perversling.“
Das war mir nun doch peinlich. Vor allen Dingen, da mein Blick noch immer verschleiert die absurde Situation zu begreifen versuchte, in die ich geraten war.
„So nicht, junger Mann“, kam die Verkäuferin zu Sinnen und setze gerade dazu an, mir eine ordentliche Ohrfeige zu verpassen, als ein Kunde älteren Jahrgangs von hinten zeterte:
„Geht’s hier bald weiter oder was, oder muss ich sie erst wieder mit einen Kran hinter den Tresen hieven?“
Der blöde Spruch galt der Verkäuferin. Die arme Frau! Ich hatte nicht wenig Lust, dem aufgeblasenen Kerl im Frührentnerlook (Batschkappe, 80er Jahre Jeans, Turnschuhe) die Meinung zu geigen. Aber gerade da hielt die Linie 8 mit einem ohrenbetäubenden Quietschen an. Es musste der Bus gewesen sein, auf den die hübsche Junge gewartet hatte. Parallel und verdattert, wie sie gekommen waren, drehten sich beide Opfer meiner voyeuristischen Glotzattacke um und widmeten sich größeren Zielen. Der Frührentner bekam sein Fett weg und der Bus setzte sich tosend in Fahrt (mit einem hübschen Mädchen als Insasse).
Ich nutzte die Chance und legte einen Fünfer neben meinen kaum zur Hälfte getrunkenen Kaffee. Mit einem ungesunden Gefühl im Magen verließ ich den Schauplatz dieser Wirren, meine Dienststelle fast ein wenig vermissend.