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70 Cent
Es war der heißeste Tag des Jahres. Keine Wolke war am Himmel zu sehen und selbst im Schatten waren die Temperaturen unerträglich. Alle Welt schien träge geworden zu sein. Selbst die Kinder auf dem Spielplatz hatten sich auf den Sandkasten im Schatten beschränkt, während die Eltern auf Bänken dösten. Ich kämpfte mich durch die Hitze und wünschte mir nichts sehnlicher als eine kalte Dusche. Meine Kleidung klebte am Rücken und jeder Schritt kostete Kraft. Während ich einem kleinen Kind auswich, das sein Eis gefährlich in der Gegend herum schwang, eilte ich an weiteren Cafés und Eisdielen vorbei.
„Hey, Kira!“, hörte ich auf einmal meinen Namen. Ich drehte mich um und erkannte eine Bekannte auf mich zu rennen. Während ich noch über ihre Kraft staunte, bei diesen Temperaturen noch rennen zu können, stand sie schon vor mir.
„ Hi“, strahlte sie und ihre blauen Augen leuchteten. Gequält versuchte ich zu lächeln.
„ Hör mal, ich hab’s ein wenig eilig. Meine Mutter wartet auf die Eier für das Essen“, erklärte ich und hob die Eier hoch, die ich in meiner Hand hielt. Sara ließ sich nicht so schnell abwimmeln, sie hatte mir offenbar etwas Wichtiges zu erzählen.
„ Ich muss dir etwas erzä – “, weiter kam sie an diesem Tag nicht.
Ein ohrenbetäubender Lärm war ausgebrochen und Menschen eilten an uns vorbei. Sara und ich drängten uns an einer Touristengruppe Japaner vorbei und hatten freien Blick.
Erschrocken presste ich die Hände vor den Mund, als ich das Blut sah. Sara erging es nicht besser, sie unterdrückte einen Schrei.
„ Los, macht den Alten fertig!“, brüllte der Junge und verpasste dem alten Mann einen weiteren Tritt.
Als ich es geschafft hatte, meinen Blick von der Gruppe Jugendlicher abzuwenden, erkannte ich, dass sich ein Kreis gebildet hatte. Ein Kreis voller schockierter, gelähmter Menschen.
Es handelte sich um vier Jungs, die Eisenringe an den Fingern hatten und schwarz gekleidet waren. Der alte Mann war offensichtlich obdachlos, denn neben ihm war Kleingeld verteilt und ein umgedrehter Hut lag daneben.
Erschrocken drückte ich die Augen zusammen, als einer der Jungen wieder zuschlug, diesmal in den Magen. Die Straße war jetzt totenstill, einzig das Geschrei der Jugendlichen und das Stöhnen des Mannes war zu hören.
„ Obdachlosen-Pack! Verschmutzt unsere Straßen!“, schrie einer der Jungen, ein großer, stämmiger Dunkelhaariger.
Mit jedem weiteren Schlag merkte ich wie die Lähmung aus meinen Knochen wich. Als ich wieder zur Besinnung gekommen war, schüttelte ich Sara. Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
„ Wir müssen etwas tun“, flüsterte sie so leise, dass ich es nicht verstanden hätte, wäre ich nicht direkt vor ihr gewesen wäre. Als ich allerdings auf die tobenden Jugendlichen sah, verlor ich jeden Mut. Sie traten, schrieen und johlten, während der alte Mann immer mehr Blut verlor.
Alles in mir schrie, ich wollte „Stop!“ brüllen und dazwischen gehen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Er stand still. Ganz so, als wäre nichts. Als käme es nicht darauf an, dass ich etwas tat!
Und dann war alles vorbei. Polizei drängte sich an den Menschen vorbei und ergriff die Jugendlichen. Einer schaffte einen letzten Tritt und sein Schuh traf den Alten im Gesicht. Er sackte endgültig zusammen. Die Polizisten zerrten die Jugendlichen zu einem Auto und drängten sie einzusteigen. Kurz danach erschien ein Krankenwagen, hob den bewusstlosen Mann hinein und fuhr mit Sirene davon.
Alles war wie vorher, die Sonne schien noch immer gnadenlos heiß auf die Erde hinunter. Die Menschen lösten sich auf und gingen zurück zu ihren Tätigkeiten, wenn auch langsamer als vorher. Sara verabschiedete sich und eilte davon. Das alles bekam ich nur vage mit. Ich sah alles wie durch einen Schleier, als wäre ich woanders, als mein Körper war. Langsam ging ich auf die Stelle zu, auf der der Alte gelegen hatte und sammelte das Kleingeld zusammen. 70cent, das war alles was ich fand. Während ich es in den Hut legte, merkte ich erst jetzt, dass ich weinte. Stumm und mit angehaltenem Atem betrachtete ich das Blut, das am Boden klebte. Ich empfand keinen Schmerz. Die Tränen rannen an einer leeren Hülle hinunter.
Erst viel später kam das Schuldgefühl, nachdem ich eine Weile auf dem Asphalt gesessen hatte. Ich wusste nicht wie lang ich so dagesessen hatte, aber irgendwann kehrte der Schmerz in meinen Körper zurück. Ich sah den Menschen dabei zu, wie sie ein Eis aßen oder sich auf Bänken sonnten und wünschte mir nichts sehnlicher als etwas mehr Mut.