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…mich zu lieben, mich zu hassen
Als wir uns zum ersten Mal sahen, war es wie Magie. Die Blicke berührten sich und ich wusste, dass wir zusammen gehörten. Ihr ging es auch so. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem wir uns kennen lernten. Mit gesenktem Kopf ging ich durch den endlosen Korridor der Schule. Einsam hallten meine Schritte im Gang, bis ich weitere mir entgegen kommen hörte. Es waren die von Sarah. Ich sah auf, um ihr ins Gesicht zu sehen. Sie lächelte und ich tat das gleiche. Mein Herz schlug heftig in der Brust. Ich zitterte ein wenig. Dann ging sie an mir vorbei, wendete den Blick ab und ich sah ihr hinterher. Von diesem Moment konnte ich in der nächsten Zeit zehren. Immer wenn es mir schlecht ging, ich mich einsam fühlte, ja dann rief ich mir diese Begegnung ins Gedächtnis. Sah ihr rotbraunes Haar. Die blauen Augen. Das nette Lächeln, ohne das sie mir ihre weißen Zähne zeigte. Aber ich hatte in den folgenden Jahren und vor allem jetzt, genug Zeit um sie zu sehen. Wann immer ich es wollte. Aber diese Kopfschmerzen…
Ich hatte nie viele Freunde in der Schule, alle fanden mich seltsam. Ich weiß nicht warum. Wahrscheinlich bin ich eben etwas Besonderes. Ein verkanntes Genie. Das sagte mir meine Mutter jeden Abend bevor sie starb.
Während der Pausen schaute ich den anderen zu, wie sie sich unterhielten, über Dinge die mir fremd waren. Freunde, Freizeit. Wie sie immer lachten. Sich in ihren Gruppen einschlossen. Ich war immer alleine. Ich wollte es so.
Trotz allem waren die Pausen die schönsten Erinnerungen, die ich an vergangene Schuljahre hatte, denn da konnte ich sie beobachten. Meine Sarah. Mein Bienchen. Manchmal, meist wenn sie alleine war, schaute sie zurück, einmal sogar ihre ganze Clique. Alle guckten so ernst. Ich sah die Verwunderung in ihren Augen, die Abscheu gegenüber mir. Doch verstanden sie nicht. Sahen das Band zwischen Sarah und mir nicht. Sie beruhigte schließlich alle mit ihrer lebhaften Art. Einem Lachen. Einer Geste. Sicher auch mit einem Witz. Witzig war sie. Ja. Sie war etwas Besonderes - genauso wie ich.
Eines Morgens wartete ich vor ihrer Haustür. War bereit sie abzuholen. Eigentlich wartete ich immer bis sie losging und lief ihr mit ein wenig Abstand hinterher, wie wir es besprochen hatten. Passte auf sie auf.
Heute aber nicht. Wir sollten ihnen zeigen, dass wir zusammen waren. Von unseren heimlichen Treffen erzählen. Von den Telefongesprächen. Den Spaziergängen. Wie wir zusammen auf ihrem Bett lagen. Ich sie streichelte. Ich würde einer von ihnen werden. Bei dem Gedanken lächelte ich unweigerlich.
„Hallo Sarah!“, grüßte ich sie fröhlich, als sie die Haustür hinter sich zugeschlossen hatte.
Zuerst zuckte sie zusammen. Hatte das Bienchen wohl erschrocken. Ihre linke Hand lag auf dem Herzen.
„Mensch Andi, du hast mich aber erschreckt, was machst du denn hier um diese Zeit?“
Einwenig verwundert war ich über die Antwort, aber das machte nichts. Sarah war ja ab und an so verwirrt. Gut, das ich ständig auf sie Acht gab.
„Ach, tu doch nicht so, du weißt doch warum ich hier bin.“
Ihre Miene versteinerte.
„Nein, das weiß ich nicht.“
Als sie das sagte, machte mich das ganz schön wütend, aber ich atmete tief durch und beruhigte mich. Sie konnte nichts dafür.
„Ich hab auf dich gewartet. Ich meine, es wird doch langsam Zeit den anderen zu sagen, dass wir zusammen sind.“
Sarah sah mich schweigend an, wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, dass sie Angst hatte. Aber das konnte nicht sein.
„Andi, ich find die Sache nicht lustig. Haben dich Jogi oder Mark dafür bezahlt, damit du mich so erschreckst?“
„Bezahlt?!“, rief ich aus, „bezahlt dafür, dass ich auf MEINE Freundin aufpasse?!“ Ich beruhigte mich wieder. Musste es.
„Sag mal Sarah, hast du deine Tabletten gar nicht genommen? Muss ich dir, das ständig sagen?“
Sie machte einen Schritt zurück, griff mit der Hand nach der Türklinke. Aber sie hatte schon abgeschlossen. Das würde nichts werden.
„Andi“, wimmerte sie. Oh Gott, was hatte ich getan? Sie wimmerte tatsächlich.
„Bitte, du machst mir Angst, bleib da wo du bist“, dann sagte sie es noch mal mit Nachdruck, jede einzelne Silbe aussprechend.
„Bitte, bleib stehen“
Aber das konnte ich doch nicht machen, in ihrem Zustand. Ich streckte ihr meine Hand entgegen.
„Sarah komm’ nimm meine Hand, wir gehen jetzt rein und dann nimmst du deine Tabletten. OK?“
„Woher, weißt du von meinen Tabletten?“
„Du hast sie mir doch gezeigt“
„Wann?!“, schrie sie hysterisch.
„Erinnerst du dich denn nicht mehr? Gestern zum Bespiel. Als du die Jalousien nicht runter gezogen und dich zu mir ungedreht hast. Du hast mich doch gesehen“
„Du hast mich beobachtet? Du glaubst ich hätte dich gesehen?“
Ich lachte. Jeden Abend ging das so und jetzt tat sie so überrascht.
„Natürlich du willst es doch so, wer soll denn sonst auf dich aufpassen?“
„Hast du eine Ahnung für was ich die Tabletten brauche?“
„Für die Depressionen. Den Gedächtnisschwund, den du hast. Das weiß ich doch. Ich kenne dich“
„Andi, das ist nur Calcium. Ich habe von Geburt an Calciummangel“
„Das kannst du den anderen sagen, aber nicht mir. ICH weiß es doch!“
Es reichte mir langsam und ich ging auf sie zu. Plötzlich zog sie ihren Hausschlüssel aus der Tasche und versuchte die Tür aufzuschließen, während ich noch hinter dem Zaun stand. Aber ich war mir sicher schneller zu sein. Wurde Zeit ihr wieder den Kopf zu waschen von dem ganzen Unsinn.
Ich tat einen weiteren Schritt auf sie zu und sprang über den Zaun, ohne mich großartig zu beeilen.
„Ruhig Sarah“
„Verpiss dich du Wichser!“, brüllte sie so laut sie konnte, „Hiiiillllfe! Hiiiiillllfe!“
Ich kicherte - so ein Dummerchen.
Diesmal war ich es der brüllte
„SARAH! Du kannst so laut schreien wie du willst! Es ist niemand da. Die nächsten Nachbarn, die noch in der Straße sind, sind die Schusters und das sind Rentner, die am anderen Ende wohnen“
„OH, GOTT! Es muss doch noch jemand da sein!?“, jammerte sie.
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Jeden einzelnen verfluchten, verschissenen, Arschgefickten Tag bin ich hier! Mach Kontrollfotos zu DEINER Sicherheit! Und so dankst du mir das. Wir telefonieren jeden Tag, jeden scheiß Abend bin ich in deinem Zimmer und bewache dich im Schlaf. Ich kenne die Gegend“
Sie war so aufgeregt, dass sie die Schlüssel wieder fallen ließ, so ungeschickte war sie. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Andi, beruhige dich doch. Überleg mal. Von dem was du sagst hab ich keine Ahnung. Du hast nie etwas erwähnt. Denk nach!“
„Nie gesagt? Erzähl mir nicht du hättest mich in den Pausen nicht bemerkt. Mir nicht zugelächelt als wir uns im Korridor begegneten. Du bist wahnsinnig total verrückt!“
Ich hatte das Gefühl so nicht weiterkommen zu können, also entschloss ich mich ihr gut zuzureden. Das ganze hatten wir schon so oft, aber wenn sie die Tabletten nicht nahm war sie nicht sie selbst.
„Jetzt denk du mal nach. Das Telefongespräch gestern. Am Sonntagabend war ich in deinem Zimmer und wir haben uns unterhalten. Und vor ein paar Monaten hast du mir gesagt, dass du ständig Angst hast und ich auf dich aufpassen soll. Wie ein Schatten hast du gesagt. Erinnerst du dich? Nimm die Tabletten, dann wird alles wieder anders aussehen“
„Aber Andi, das war doch nichts, hab doch nur mal gelächelt und am Telefon, ich dachte da würde mir jemand einen Streich spielen, wenn du es warst, hast du doch immer gleich aufgelegt, wir haben nie miteinander gesprochen, nie, kein Wort haben wir gewechselt, wollte doch nur…“
Meine Gefühle gingen mit mir durch. Nicht schon wieder, das ganze hatten wir schon. Es war so wie in einer dämlichen Dauerschleife. Nie tat sie das was ich ihr sagte. Sie musste die Tabletten nehmen. Die Gedächtnislücken. Das war so typisch. Ich musste sie endlich zurechtstutzen. Sie erwartete es.
„Halte dein Schandmaul!“, brüllte ich sie hasserfüllt an, „Halte jetzt dein verdammtes, dreckiges Schandmaul! Weiß du was ich für dich - für uns getan habe? Als du von Maries Party nachhause gegangen bist, hat dich so ein Irrer verfolgt. Den Penner hab ich den Schädel eingeschlagen“
Mein Atem ging schneller, das Herz pochte vor Wut, das Blut stieg mir in den Kopf, fühlte Hass, nur den Hass.
„Meine Mutter hat gestern die Fotos gesehen. Sagte mir was von nem Arzt. Therapie. Das du mich nicht liebst. Der Schlampe hab ich den Bauch aufgeschlitzt. Abgestochen wie ein Schwein hab ich sie", als sie das hörte wurde sie bleich im Gesicht, ihr Atem ging schnell und schweißtropfen perlten ihr von der Stirn. Ich genoss einen Moment dieses Gefühl der Macht bevor ich schließlich fortfuhr, "Sie war nach dir die einzige Person, die mich liebte! Und ich opferte sie ohne zu zögern! War das umsonst?“
Mittlerweile hatte Sarah die Schlüssel wieder in der Hand, den richtigen sogar im Schloss und ehe ich mich versah, war die Tür offen und ein Fuß über die Schwelle getreten, aber es war zu spät - fast hatte sie den Hausflur erreicht, aber meine Faust schlug ihr auf den Hinterkopf. Sie fiel bewusstlos um.
Und jetzt war sie bei mir zuhause, an einen Stuhl gefesselt. Geknebelt, damit sie ihre Fresse hielt. Bald würde sie aufwachen. Sie würde lernen mich zu lieben.
Ich betrachtete sie. Plötzlich war sie aufgewacht, hob ihren Kopf und schaute mir tief in die Augen. Ich blickte auf sie herunter. Die Augen schienen so leer zu sein. Die Dinge waren nicht so wie sie sein sollten. Waren es meine Tabletten? Wer war ich? Und dann drehte sich alles. Mit einem Schlag war ich es auf einmal, der zu ihr aufschaute. Der Knebel war verschwunden, die Fesseln ebenso und als ich an mir herunter sah, saß ich auf einem Stuhl. Sarah stand vor mir. Wollte mich bewegen, doch ein Seil hinderte mich daran. Wollte etwas sagen, aber ein Tuch umspannte meine Mund.
Mit einer Kälte in der Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, flüsterte sie mir ins Ohr.
„Du wirst noch lernen mich zu hassen.“