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A groovy Kind of Love
Es roch nach Schweiß, Bierdunst und billigen Erdnüssen. Miles schlug die Augen auf. Nur flüchtig ordneten sich seine Gehirnströme zu einem zusammenhängenden Ganzen, sodass ihm erst einige Momente später klar wurde, was hier eigentlich geschehen war und warum gegenüber ein riesiges Loch in der Wand klaffte. Miles lächelte. Er war rundum zufrieden. Er versuchte sich aufzusetzen. Er versuchte es noch einmal. Er ließ es für den Moment auf sich beruhen. Sein Nacken schmerzte, dennoch gelang es ihm, wenigstens seinen Kopf leicht zur Seite zu drehen. Sein noch dumpfer Blick fiel auf Tyler, zeitlebens sein bester Freund, der mit leichtem, triumphierenden Grinsen auf der Klimaanlage schlummerte, die er die Nacht zuvor mit äußerster Präzision und seinem bewährten Stemmeisen aus der Wand bugsiert hatte. Einzig sein schmerzender Nacken hinderte Miles noch daran, lauthals loszulachen. Die Verspannungen begannen allerdings schon nach kurzer Zeit sich zu lockern, sodass er den Kopf bereits im rechten Winkel drehen konnte. Er überblickte nun gut die Hälfte des Raumes. Ein durchschnittlicher, nüchterner Mensch wäre bei diesem Anblick sicher schockiert, vielleicht ungläubig vom Stuhl gefallen. Da Miles allerdings kein durchschnittlicher Mensch ist, nicht auf einem Stuhl saß und, am allerwenigsten, nüchtern war, nahm er die Verwüstungen die den Raum durchzogen, gelassen, mit gleichgültig, volltrunkenem Blick zur Kenntnis. Die Satincouchbezüge waren heruntergerissen worden oder Zentimeter dick von Müll bedeckt. Gläser, wenn überhaupt noch als solche zu erkennen, lagen im ganzen Raum verstreut, viele Champagnergläser ohne ihre abgesprengten Hälse, andere einfach entzwei, wahlweise auch mehr Teile, gebrochen. Der gesamte Untergrund musste ein einziger Scherbenteppich gewesen sein. Beinahe beiläufig entdeckte Miles die Vielzahl Freunde, Bekannter und auch Unbekannter, die den Großteil der weiblichen Gäste stellten, die bunt gemischt, kreuz und quer im Raum verteilt lagen. Sie schlummerten alle noch, teils eng umschlungen, nackt, auf provisorischen Schlafgelegenheiten. Vereinzelt trat man auf Gäste, die, vielleicht geistesgegenwärtig, vielleicht aus purem Zufall, ihre gefährdetsten Bereiche noch mit Decken oder anderen verfügbaren Stoffen bedeckt hatten, bevor ihr Kreislauf unter der Last der konsumierten Rauschmittel endgültig zusammenbrach. Jetzt gab es kein Halten mehr. Miles begann lauthals loszulachen. Die losbrechenden Emotionen betäubten seine Sinne, sodass nicht einmal die qualvollsten Verspannungen ihn hätten zurückhalten können. Tränen schossen ihm in die Augen, seine wahnsinnig-psychopathische Lache musste noch in den angrenzenden Straßenzüge zu hören gewesen sein. Erst als der Sauerstoff langsam knapp wurde und kurz bevor der Überschuss an Kohlenmonoxid das letzte bisschen gesunden Menschverstandes endgültig aus Miles Kopf geblasen hatte, fing er sich wieder. Die Massenmörderlache wich einem schelmischen Grinsen. „Besser geht´s nun wirklich nicht“, dachte Miles. Überglücklich lag er auf seinem, eigentlich nur irgendeinem, Bett. Für den Moment wollte er keinen weiteren Versuch unternehmen sich aufzusetzen, oder gar aufzustehen. Er wollte einfach hier liegen, den Moment genießen und glücklich sein.
In diesem Moment fuhr ihm, mitten durch den dumpfen, unästhetischen Bier- und Schweißgeruch, ein lieblich-süßer, weiblich-zarter Duft in die Nase. Seine Nüstern blähten sich augenblicklich. Die Quelle dieses majestätischen Duftes schien ihm greifbar nahe, sie musste ganz nah sein, womöglich direkt neben bzw. unter seinem Schlafplatz. Miles war noch stark angeschlagen, die Spuren der letzen Nacht ließen sich nicht einfach so verwischen. An Aufstehen war deshalb nicht zu denken, weshalb er sogleich begann sich robbenartig, dabei jedoch vollkommen orientierungslos, in Richtung einer beliebigen Bettkante zu bewegen. Es muss eines dieser kleinen Wunder, an die keiner recht glauben will, die aber täglich, völlig unverhofft, Menschen, egal welchen Alters oder Hautfarbe, widerfahren, ihnen die Augen öffnen und sie erkennen lassen, dass zum Leben mehr gehört als Kontinuität und Sicherheit, gewesen sein, dass Miles sein Ziel unverletzt erreichen ließ. Leben, bedeutet nicht atmen, sondern die Anzahl an Momenten, die dir den Atem rauben. Sein Leben sollte nie wieder das Selbe sein.
Miles hob den Kopf und spähte über die Bettkante. Da lag sie, die Frau mit dem lieblich-süßen, weiblich-zarten Duft und schlief, neben dem Bett, auf einer verfleckten Tischdecke. Blondes, zart duftendes Haar, ein weiches, dennoch ausdrucksstarkes Gesicht, wohlproportionierte Körperformen. Es gab keinen Zweifel...er hatte mit ihr geschlafen. Er hatte mit einer Frau geschlafen die er geradeeben zum ersten Mal gesehen hatte. So unglaubwürdig diese These auch klang, so überzeugt war er davon. Die offenkundigen Logiklöcher, erklärte er mit übermäßigem Drogenkonsum und dem daraus resultierenden, vorübergehenden Verlust seiner Fähigkeit zu denken. Damit gab sich sein Verstand auch schon zufrieden.
Sein Kopf sank sanft, beinahe vorsichtig aufs Bett zurück. Er atmete tief aus. Glücksgefühle, ungeahnten Ausmaßes, durchströmten seinen Körper, moderne, gigantische Wolkenkratzer waren, verglichen mit seinem Ego, schäbige, dreckige, kleine Baracken geworden. Er war der größte, er musste es sein. Erschreckend leichtfällig drehte Miles sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Das Gesicht, überzogen von einem breiten Grinsen.
„Das“, flüsterte Miles, „war eine richtig gute Junggesellenabschlussfete!“. Das letzte Wort, ohnehin schon schwer genug, traf ihn wie ein Vorschlaghammer. Junggesellenabschluss. Abschluss, zu Ende, nie wieder. Miles stand senkrecht im Bett. die angesammelten Glücksgefühle waren innerhalb von Sekundenbruchteilen vergessen, sie wichen blankem entsetzen. Heute war sein Hochzeitstag, es sollte der schönste Tag in seinem Leben sein, Miles machte er nur zu einem psychischen Wrack. Er sprang panisch vom Bett auf, Schweißperlen bahnten sich ihren Weg von der Stirn bis in die Mundwinkel. Miles war so perplex, dass er nicht einmal bemerkte, dass seine feinmotorischen Fähigkeiten, zumindest halbwegs, wieder hergestellt waren. Verzweiflung überkam ihn. Was sollte er tun? Er wollte sich nicht mehr für den Rest seines Lebens binden. Er empfand es als Ressourcenverschwendung, sich, den selbsternannten, größten Lover dieses Planeten, anderen Frauen vorzuenthalten. Sie hätten ebenso ein Anrecht auf ihn, wie seine Verlobte. Diese hatte ihr Anrecht mittlerweile allerdings schon mehr als ausgekostet, fand Miles. Die kleine, nächtliche Nummer hatte Miles´ Verstand benebelt, er war offenkundig größenwahnsinnig geworden. Mit wahnsinnigem Blick philosophierte er noch minutenlang, auf Scherben auf und ab gehend. Gott habe ihn mit mannigfaltigen Fähigkeiten ausgestattet, wohl wissend dass Miles zu größerem bestimmt sei. Er könne sein Leben nicht hier in der dunkelsten Provinz zwischen spießigen Minivans und sonntäglichen Barbecues mit frustrierten Nachbarn in der Midlife-Crisis fristen, Gott würde ihn fürchterlich bestrafen. Was dann folgte war Resignation. Miles nahm einen demolierten, nicht total zerstörten, Sessel, richtete ihn auf, wischte gründlich den Schmutz ab und setzte sich. Sein Blick führte ins Nirgendwo. Er war verloren. Alles was er wollte war Freiheit und Unabhängigkeit, mehr wirklich nicht, wie einst die Gründerväter vor über 200 Jahren. In wenigen Stunden würden sich diese, seine, Ideale für immer verflüchtigen. Miles seufzte. Was würden die Gründerväter an seiner Stelle tun? Ganz plötzlich riss Miles die Augen auf, sein Blick fokussierte wieder reale Gegenstände. Dynamisch sprang er aus dem Sessel, „DAS ist es!“ schrie er. Er wusste nun was zu tun war. Flucht. Vielleicht feige, vielleicht auch infantil, aber...so einfach! Er musste nur durch die Tür und war für immer verschwunden. Was hielt ihn hier noch? Sein Job?! Sicher nicht. Sadistische, chronisch unzufriedene Vorgesetzte findet man an jeder Straßenecke. Und sie, sie würde sicher nicht daran zerbrechen. Sie war eine starke Frau. Hübsch, intelligent und zielstrebig, nein, sie war wirklich nicht auf einen Mann wie ihn angewiesen. Mit diesem Gedankengang war es beschlossen. Er würde gehen, für immer aus ihrem Leben verschwinden. Sein Ziel? Der Weg war das Ziel. Er wollte die Welt sehen, die verschiedensten, wenn nötig auch die minderwertigsten und demütigsten, Arbeiten verrichten, zu sich selbst, seinen inneren Frieden, finden und, wenn wir ehrlich sind der eigentliche Hauptgrund, mit so vielen Frauen wie möglich schlafen. Miles war sehr zufrieden mit seiner Planung. Er konnte wieder grinsen.
Jetzt musste es schnell gehen. Er wollte keine Zeit verlieren, daher packte er nur das nötigste zusammen. Auch sein vorläufiges, erstes Reiseziel wollte er erst später, ganz spontan festlegen. Er nahm eine kleine schwarze Tasche, bis heute weiß niemand, wo er sie gefunden hatte, stopfte seinen Geldbeutel voller Kreditkarten hinein, sein Schweizer-Allzwecküberlebensmesser, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Delphine sind schwule Haie“, das er offensichtlich Tyler geklaut hatte, und eine Familienpackung Taschentücher. Miles war Allergiker. Die Pflanze, bei deren Anblick Miles´ Nase sich nicht sofort niagarafallartig entleerte, musste noch gefunden werden. Miles stürmte samt schwarzem „Überlebenspaket“ , wie er es später nannte, zur Tür. Er trug nur schwarze Boxershorts und ein weißes T-Shirt. Er wusste, dass er noch halb nackt war, doch es war ihm einfach egal. Er hob beinahe die Tür aus den Angeln und da, wie aus dem Nichts, stand sie, vor der Tür, vor seiner Tür. Sie lächelte. Sein Blick verlor sich in ihren kristallblauen Augen. Er konnte sich sehen, er konnte seine Tränen sehen. Er war auf der Türschwelle gescheitert. Sein Leben sollte nie wieder das Selbe sein. ENDE