A groovy Kind of Love
Die Wellen brandeten gegen die Cays. Donnergrollen. New Providence erwachte von neuem unter einem märchenhaften Sonnenaufgang. Jonathan lehnte im Türbogen, trank Kaffee aus einer schwarzen Porzellantasse, den Blick starr auf die tiefblaue See gerichtet. Seit drei Jahren lebte er nun schon hier, dennoch faszinierte ihn dies morgendliche Schauspiel, jedes Mal von neuem. Ein wohltuend kalter Schauer fuhr ihm den Rücken hoch und stellte seine feinen Nackenhaarchen auf. Er war zuhause. Behutsam stellte er die Kaffeetasse beiseite, ging durch die Tür, über die Hazienda, direkt zum anliegenden Strand. Fest bohrte er seine nackten Füße in den feinen, kühlen Sand. Er mochte den Sand. Weißer Sand war anders als dieser körnige, klebrige braune Dreck der sich Sand schimpfte. Selbst bei tropischen Temperaturen blieb er dennoch kühl, er war auch nicht körnig, vielmehr ein feines, lockeres Puder. Jonathan konnte stundenlang über weißen Sand sprechen. Das Problem war nur, dass selbst der höflichste und geduldigste Mensch nach 10 Minuten, entnervt und gelangweilt abschaltete und Jonathan sich selbst überließ. Daher nahm er sich morgens 5 Minuten Zeit, bohrte die Zehen tief in den Sand und führte seinen inneren Monolog, was weißer Sand doch für eine tolle Sache sei.
„Hey Mr.C., was macht das Leben !?“. Dean kam den Strand herauf, sein Surfbrett unter den rechten Arm geklemmt. Jonathans´ innere Ruhe war, wie eigentlich jeden Morgen, jäh durchbrochen worden. Er zog die Füße aus dem Sand.
„Hey Dean, wie geht’s dir? Lange nicht gesehen!“, antwortete Jonathan leidlich freundlich. „Seit fast 24 Stunden“, fügte er gedanklich hinzu.
„Alles groovy, Man! Haben sie gesehen wie ich durch die Tube hindurchgeglitten bin, total heavy!, fuhr im Dean mit bebender Stimme ins Wort. Jonathan lächelte. Dean war vielleicht trottelig, naiv und der Begriff „nicht grade der Hellste“ für ihn nahezu schmeichelhaft, aber er war ohne Zweifel ein liebenswerter Kerl. Ein liebenswerter Trottel. Man musste ihn einfach mögen.
„Ich hab alles gesehen Kleiner, das war Extraklasse!“ Gelogen. Jonathan hatte rein gar nichts gesehen, hatte ihn nicht einmal im entferntesten wahrgenommen als er draußen in der Bucht die meterhohen Wellen bezwang. Was eine Tube sein sollte, wollte er sich gar nicht erst fragen. Dean grinste über beide Ohren, dass war alles was Jonathan erreichen wollte.
„Wann kann ich eigentlich ihr nächstes Buch lesen, Mr.Carpentier?“, fragte Dean plötzlich, wie aus dem nichts. Darauf war Jonathan nicht vorbereite gewesen. Eine Frage die eine richtige Antwort verlangte.
„Ich hab dir so oft gesagt, nenn mich einfach Joe!“ Zeit geschunden.
„Ich mache gerade eine schöpferische Pause, tut mir Leid Kleiner, du wirst dich noch etwas gedulden müssen“, antwortete Jonathan schließlich mit überzeugendem Tonfall. Wieder gelogen. Er würde nie wieder auch nur eine einzige Zeile schreiben. Es war vorbei. Endgültig. Er hatte nie wirklich gefallen an seinem Schriftstellerdasein gefunden, nie Freude beim niederschreiben seiner Werke empfunden. Geld reizte ihn auch nicht sonderlich, Reichtum definierte sich für Jonathan anders als durch die Dollarscheine in seiner Tasche. Nein, beides keine akzeptablen Motive.
Jonathan war schon in seiner Jugend, immer ziemlich beliebt gewesen. An Kumpels und guten Freunden hatte es nie gemangelt, nur mit den Frauen hatte er so seine Probleme. Er war nie gut darin gewesen, über seine Gefühle zu sprechen. Er war sehr zurückhaltend, schon immer. Ihm war das alles immer irgendwie peinlich gewesen, Offenheit, vor allem gegenüber potenziellen Partnerinnen. Wenn er sich dann doch einmal überwinden konnte, zögerte er jedes Mal so lange, bis er die Ausfahrt Beziehung endgültig verpasst hatte und es auf der Geraden Richtung Freundschaft ging. Natürlich ist Abbiegen kniffliger als einfach geradeaus fahren. Verschiedene Faktoren spielen zusammen, vergisst man bloß zu bremsen, landet man womöglich im Straßengraben. So sind die Regeln. Jeder muss selbst eine Entscheidung treffen, ob er lieber weiter konstant im Dritten weiterrollt, oder eine Kurve ins Ungewisse wagt.
Jonathans Worte. Er rollte weiter.
Die unausgesprochenen Gefühle ließen sich natürlich nicht ewig zurückhalten, dass wollte Jonathan auch gar nicht denn sie deprimierten ihn entsetzlich. Er begann sie in Geschichten zu verarbeiten. Seine Hauptcharaktere waren keine fiktiven Figuren. Joey, Taylor, alle ihre Eigenschaften vereinten sich in einer Person. Ihm selbst. Nur eine fügte er hinzu. Er gab ihnen den nötigen Mut und Entschlossenheit um ihren Liebschaften ihre Gefühle offen legen zu können und sie für sich zu gewinnen. Er legte ihnen jene magischen Worte in den Mund, die er nie zu sagen vermocht hatte und die Leute fanden Gefallen daran. Der Rest ist Geschichte.
Schon vor gut drei Jahren hatte er sein letztes Buch veröffentlicht. Dean wusste das natürlich nicht. Es waren schon lang nicht mehr seine Geschichten gewesen. Die hatte er mit zwanzig, oder auch noch mit fünfundzwanzig geschrieben. Da hatte er geheiratet, eine Familie gegründet, war glücklich geworden. Kein Platz mehr für unausgesprochene Gefühle. Er fing an sich selbst zu kopieren oder von austauschbaren, stereotypen Charakteren, die nichts weiter als tumbe Worthülsen wiedergaben, zu schreiben. Es waren nur schmalzige Worte, Jonathan fühlte nichts dabei. Der Erfolg hielt an. Es kümmerte ihn nicht.
„Naja, ich muss jetzt los, Michelle wartet bestimmt schon mit dem Frühstück“, durchbrach Dean die kurze Stille.
„Grüß sie recht herzlich von mir! Bis morgen, Kleiner!“, Jonathan lächelte stolz. Er liebte diesen Jungen.
„Bis dann, Mr.C.!“, rief Dean noch, kurz bevor er hinter dem Hügel verschwand. Jonathan hörte einen V8-Motor aufheulen, dann war es für den Bruchteil einer Sekunde vollkommen still. Bis die nächste Welle auf den Strand hereinbrach.
Jonathan schlenderte zurück zum Haus, schlug noch eine Kokosnuss von der Palme die quer in seine Hazienda hineingewachsen war und nahm sie mit in die Küche. Dort nahm er seine Machete von der Wand und spaltete die Frucht sauber in zwei Teile. Die Milch spritzte zwar quer durch den ganzen Raum, da er aber sowieso meist nur das Fruchtfleisch lutschte, kümmerte es ihn nicht weiter.
Es war mittlerweile kurz nach 9 Uhr morgens. „Die Post müsste eigentlich auch schon da sein“, dachte er. Begleitet von Schmatz- und Schlürfgeräuschen ging er durch die Vordertür, zielstrebig Richtung Briefrohr. Die Fahne stand senkrecht, man hatte ihn scheinbar nicht vergessen. Mit der noch freien Hand gab er der Klappe, unüberlegt, einen schwungvollen Stoß, woraufhin die ohnehin völlig verrosteten Scharniere endgültig brachen und die Klappe donnernd auf dem Boden aufschlug. Jonathan stand verdutzt daneben. Auch wenn es ihn eigentlich herzlich wenig kümmerte ob sein Briefrohr nun eine Klappe hatte, oder offen stand, wollte er doch nicht recht glauben was da soeben passiert war. Er kam sich plötzlich vor wie in einem schlechten Adam Sandler Film. Wenn im nächsten Moment Rob Schneider, nur mit Toilettenpapier bekleidet, den üblichen, verstörend dämlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt, die Straße herunter gerannt käme und einen Witz über weibliche Menstruation kombiniert mit Briefrohrklappen, der so geschmack- und niveaulos wäre, dass selbst Spongebob und Patrick sich dafür schämen würden, reißen würde, Jonathan wäre alles andere als überrascht gewesen.
Er lächelte verschmitzt, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. Es war wieder passiert, er hatte sich in seiner ganz eigenen Phantasiewelt verirrt, wie er es zuweilen gern tat. Erst ein lärmendes Rudel Touristen brachte ihn zurück, zurück in seinen Garten, zurück zu seinem demolierten Briefrohr. Ein Einheimischer, ein Gringo führte die Gruppe an. Er schien ihnen weißgemacht zu haben, sie durchs „Prominentenviertel“ Nassaus zu führen. Kurz, er hatte sie mustergültig abgezockt. Der Architekturstil der Häuser hätte einen durchaus auf Prominenz schließen lassen können. Überdurchschnittlicher Luxus und ein Hauch von Überheblichkeit waren schon von weitem unschwer auszumachen. Deren Bewohner als Prominente zu zelebrieren wäre dann allerdings doch ein Schritt zu weit in die falsche Richtung gewesen. Zugegeben, Jonathans Roman „Against All Odds“ war mit Meg Ryan und Tom Hanks in den Hauptrollen verfilmt worden.
„Das nennt man wohl den „Ritterschlag“ Hollywoods“, hatte Jonathan einmal gesagt. „Das Problem ist nur, niemand sitzt mehr im Kino wenn im Abspann „based on the novel by...“ durchläuft“. Er war nicht berühmt, dass wusste er auch.
Sein Nachbar Clive war früher irgend ein großes Tier bei Delta Airlines gewesen. Mit einer horrenden Abfindung hatte man ihn vor knapp drei Jahren zur „Niederlegung seines Aufgabenbereiches bei Delta Airlines“, wie er es immer nannte, bewegt. Seine traditionellen, gemäßigten Ansichten und Vorstellungen seien nicht mehr mit der neuen Managementstrategie vereinbar, hieß es. Er solle die Entscheidung des Vorstandes bitte verstehen, man benötige frisches Blut, erfolgshungrige Jungmanager um die Gewinne maximieren zu können.
„Wollen sie denn gar nichts dazu sagen, Mr. McNamara?“, hatte ihn sein Boss damals gefragt.
„Um es mit den Worten meiner Generation zu sagen; lecken sie mich an meinem faltigen Arsch!“, hatte er daraufhin geantwortet, sich den Sicherheitssausweiß vom Jackett gerissen und hatte langsamen, stilvollen Schrittes den Raum verlassen. Das er, im Eifer des Gefechts, ein Loch in seinen Armanianzuge gerissen hatte, bemerkte er erst im Aufzug.
Vor 3 Wochen etwa hatte Delta Airlines Insolvenz angemeldet.
„Dem habe ich nichts hinzuzufügen“, sagte Clive als ihm Jonathan an jenem Morgen die Nachricht überbrachte. Dann brachen beide in schallendes Gelächter aus.
Die halbe Welt kennt die Namen der Vorstandsmitglieder von Delta, die den Konzern ruiniert hatten. Den Namen Clive McNamara kennt bis heute kaum jemand.
Jonathan und Clive waren beinahe zeitgleich nach New Providence gekommen. In den letzten 3 Jahren hatte sich eine enge Männerfreundschaft entwickelt. Sie spielten morgens zusammen Golf, wobei beide, auch nach so langer Zeit, noch immer unschlüssig über die wahre Bedeutung von „Par“ in Bezug auf diesen Sport waren. Sie begannen ihre eigenen Regeln zu entwickeln, die es ihnen letztendlich ermöglichen sollten so zu spielen, dass sie wenigstens ab und zu einen Ball, nicht nur in den Wasserlöchern, versenkten. Abends saßen sie zusammen auf der Hazienda im Licht einer Fackel, tranken Bier, vorzugsweiße Corona, und erzählten sich von ihren früheren Leben. Wenn der Tag allzu deprimierend gewesen war, packte Clive immer ein silbernes Döschen aus und drehte ihnen zwei „Mystic River“, so nannte er sie. Die Qualität dieser Blätter war ohne Zweifel exzellent, an sich waren es trotzdem nur handelsübliche Joints.
Auf seinem aller ersten Trip hatte sich Clive plötzlich in einer Wüste wiedergefunden. Dem verdursten nahe, hatte er unverhofft einen Zitronenfalter getroffen, der ihn hilfsbereit, wie Zitronenfalter nun mal sind, zu einem Fluss geführt hatte.
„Eine tiefgreifend existenzielle Erfahrung“, nannte es Clive damals. Da er sich nicht an den Namen des Zitronenfalters erinnern konnte, nannte er seine Joints von da an „Mystic River“, da er, jenseits des Flusses, ohne jeden Zweifel, Bostons Skyline erkannt haben wollte.
Ihr Dope bezogen sie von Nancy. Ein ganz junges Ding, Anfang zwanzig, die allein in der pompösen Villa gegenüber hauste. Niemand wusste so recht wie sie das alles finanzierte, denn für Arbeit hatte sie offenkundig keine Zeit. Entweder gab es eine Party zu organisieren oder sie musste an ihrer Bräune arbeiten.
Clive behauptete einmal, herausgefunden zu haben, dass ihr Vater der Erfinder von geriffelten Chips sei und damit ein Vermögen gemacht hätte. Zu ihrem achtzehnten Geburtstag solle er ihr dann einen netten, kleinen Treuhandfond geschenkt haben. Das Ende aller Geldsorgen für die kleine Nancy. Jonathan hatte für diese Theorie nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Ihm schwebte da eher so etwas wie Drogenhandel vor. Im großen Stil versteht sich.
Nancy hatte die beiden älteren Herren schnell in ihr Herz geschlossen. Ihr Dope bekamen sie zum Freundschaftspreis, auf den unzähligen Partys gab’s den Trip umsonst. Ein Privileg.
Die Partys. Ein gewöhnungsbedürftiges Bild, Jonathan und Clive, zwei 57-jährige Männer, saufend, kiffend, inmitten einer Horde Kids, die mit etwas Glück und Ehrgeiz ihre Enkel hätten sein können.
„Ich fühl´ mich schrecklich alt! Wenn du mich suchst, ich lieg in meinem Bett und heule!“, hatte Jonathan gesagt als sie dass erste Mal durch die Tür kamen.
„Was wir hier brauchen, ist ein bisschen Optimismus!“, hatte Clive mit funkelnden Augen erwidert, kurz bevor er den ersten Bierbong gezogen hatte. Jonathan hatte an diesem Abend natürlich nicht geheult, er hatte nicht mal in seinem Bett gelegen. Nur so viel sei gesagt; von da an, waren Jonathan und Clive die hippsten und angesagtesten 57-jährigen in Nassau.
Nein, Nancy war sicherlich auch keine Berühmtheit. Außerhalb Nassaus, versteht sich.
Jonathan blickte der Touristengruppe lächelnd nach. Sie waren teilnahmslos an ihm und seinen Freunden vorbeigezogen, andere Menschen nerven. Lautstark lutschte er das letzte bisschen Fruchtfleisch seiner Kokosnuss ab, bevor er die Schale schwungvoll gegen eine Palme in Clives Garten donnerte. Clive trat aus der Tür, die weiße Holztreppe herunter.
„Findest du das witzig, alter Mann!?“, fragte er scharf.
Jonathan lächelte, sagte jedoch kein Wort, nahm sein Bündel Briefe aus dem Rohr und ging langsamen, anmutigen Schrittes zurück ins Haus. Clive lächelte. Jetzt war es wieder an ihm. Athletisch nahm er die drei Stufen mit einem Satz und schloss die Tür hinter sich.
Jonathan schleuderte die Post unmotiviert auf den Küchentisch, holte eine neue Tasse aus dem Schrank und goss sich frischen Kaffee ein. Wo er die Tasse von heute morgen abgestellt hatte, wusste er nicht mehr. Eigentlich hatte er keine Lust, die Post zu erledigen, das offizielle Siegel auf dem obersten Brief weckte jedoch sein Interesse. „Jack Slater, Staatsanwaltschaft Vermont“, las er laut. Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich. Er setzte in der Mitte an und zerriss den ungeöffneten Brief sauber in zwei Teile.
„Dieser kleine Bastard!“, dachte er. „Wenn er einfach eine Email schreiben würde! Dafür würden nicht jedes Mal drei Bäume draufgehn!“. „Und überhaupt!? Stephen King kann mich mal!“, fügte er verbal hinzu.
Er war sehr ungehalten. Um sich abzulenken, beschloss er nun doch die Post zu erledigen. In mehreren Briefen versprach man ihm er hätte einen Mustang, eine Blockhütte in Kanada oder einen Katamaran gewonnen, er müsse nur an der gekennzeichneten Stelle unterschreiben.
„Zu viel des Glückes“, dachte Jonathan und feuerte sämtliche Gewinnchancen in den Papierkorb.
„Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich!?“, fragte er. Er erwartete keine Antwort.
Nur ein Brief war noch übrig geblieben, er war in einem rosafarbenen Kuvert verschlossen. Jonathan betrachtete ihn skeptisch. Das Kuvert war mit Kugelschreiber beschrieben, Werbung war es demnach keine. Eine Staatsanwaltschaft konnte er auch ausschließen. Kein Staatsanwalt in den USA würde es wagen, seine Briefe in einem rosa Kuvert zu verschicken. Ein öffentlicher Skandal wäre die Folge. Rosa. Die Farbe der Homosexualität. Man würde den Galgen vor dem Kontinentalkongress in Philadelphia wiederaufbauen. Jonathan war schon wieder kurz davor abzudriften, als er bemerkte, dass kein Absender auf dem Kuvert stand.
Er nahm ein Messer aus dem Schrank, setzte vorsichtig an und öffnete das Kuvert. Langsam zog er den Brief heraus und faltete ihn auf. Der Duft frischer Rosen entwich dem Papier. Die Handschrift, der Duft, das alles kam ihm sonderbar vertraut vor. Sein erster Blick galt der rechten, oberen Ecke, dem Absender.
Es traf ihn, wie ein verdeckter Schlag ins Gesicht. In einem Moment stehst du noch gerade, die Luft ist gut, du denkst, du hast alles unter Kontrolle. Dann, von einer Sekunde auf die nächste, stockt dir der Atem, du taumelst, du siehst nichts mehr, du fragst dich nur noch:
„Scheiße, wo kam das denn her!?“.
Jonathan erging es nicht besser. Getreu Murphys´ Law war er eigentlich immer auf so manches apokalyptische Szenario vorbereitet gewesen. Aber nicht mal Murphy hätte sich hierauf irgendwie vorbereiten können . Immer noch starrte er ungläubig in die rechte, obere Ecke des Briefes.
Er war von ihr. Sie hatte ihn geschrieben. Die Handschrift, der Duft, plötzlich ergab alles einen Sinn. Endlich konnte er seine Aufmerksamkeit auf die eigentliche Nachricht richten. Zwei Zeilen. Mehr schaffte er nicht. Er ließ das Papier fallen und taumelte, vollkommen orientierungslos, Richtung Wohnzimmer. Mit viel Glück, traf er die Couch. Schweiß perlte auf seiner Oberlippe ab, ihm war mitunter heißer als die Hölle jemals hätte sein können. Sein Magen war irgendwo in den Beckenbereich abgerutscht, ein Vakuum hatte seinen Platz eingenommen. Ein grauenhaftes Gefühl, zugleich aber einfach wunderbar und vor allem, keineswegs neu.
Er wusste, es würde nicht länger als ein paar Sekunden andauern. Gut behütete Erinnerungen kamen langsam zurück an ihren angestammten Platz gekrochen. Mit einem Mal überkam ihn Sehnsucht.
Jene sonderbaren körperlichen Reaktionen überkamen ihn früher ständig, jedes Mal wenn er sie unverhofft irgendwo getroffen hatte, oder auch nur wenn das Telefon geklingelt hatte und er ihre Stimme hörte. Er hatte ausschließlich für jene Momente gelebt. Nicht einmal die gemeinsamen Stunden mit ihr hatten solch intensive Gefühlsregungen zu bewirken vermocht. Plötzlich war es, als hätten die letzten 32 Jahre seines Lebens nie stattgefunden. Sämtliche Erinnerungen, kleinste Hinweise auf seine Existenz, schienen gewichen, den nostalgischen Erinnerungen an sie, die eine, Platz zu machen. In jener Woche im November hatte er sie unverhofft am Flughafen Frankfurt wiedergesehen. Dort hatte er es zum letzten Mal gespürt.
Er schüttelte den Kopf. Besann sich. Mit beinahe jugendlicher Agilität sprang er auf, rannte jedoch schnurstracks gegen die nächstbeste Wand.
„Ahhh, das hat gut getan“, sagte er mit erleichtertem Tonfall.
Er war wieder in der Gegenwart angekommen.
„Das ist alles doch schon so lange her“, dachte er.
Sie war seine Jugendliebe gewesen, dass ließe sich nicht leugnen und das wollte er auch gar nicht. Nur, Jugendlieben waren nun mal zum Scheitern verurteilt, sie konnten einfach nicht das ganze Leben überdauern. Irgendwann wurde man nun einmal Erwachsen und musste einsehen, dass es toll gewesen sein mag, man sich aber in verschiedene Richtungen entwickelte hatte, gemeinsame Interessen mitunter nicht mehr vorhanden waren, kurz, man sich fremd geworden war. Irgendwann würde man doch auseinandergehen, wenn nicht früher dann später, im Guten oder im Bösen. Nur je später es wurde desto böser würde es enden.
Jonathans Philosophie.
Er hatte sie überraschend schnell vergessen können. Kurze Zeit später schon, hatte er Maja getroffen, die Frau seines Lebens. Nun ja, die Frau für 29 Jahre seines Lebens.
„In unserem Sündenpfuhl von Gesellschaft bedeutet „bis dass der Tod euch scheide“ schon lange nichts mehr“, sagte er oft nach dem dritten Corona. Er überlege sogar ernsthaft dem Vatikan, bei Gelegenheit, eine gesalzene Email zu schreiben, mit der dringenden Aufforderung, jenen Satz aus den Hochzeitszeremoniellen endgültig zu verbannen, fügte der nach dem fünften meist noch hinzu. Der Begriff „Lebensabschnittsgefährtin“ hatte sich nicht umsonst gegen die „Lebensgefährtin“ durchgesetzt.
„Man muss nur die Zeichen der Zeit erkennen und richtig deuten“, monologierte Jonathan allzu oft, da Clive sich zu diesem Zeitpunkt meist schon jenseits von Gut und Böse befand.
Die alten Erinnerungen begannen schon sich zu verflüchtigen. Er wusste auch schon wieder, zumindest teilweise, wer er eigentlich war. Sein Kopf schmerzte. Der kleine Stunt von eben hatte offenkundig Spuren hinterlassen. Behände griff er in die Brusttasche seines karierten Hemdes und zog seinen Geldbeutel hervor. Er trug ihn immer bei sich. Alte Macke.
Er klappte die Börse auf und eine kleine Packung Alka Seltzer kam zum Vorschein. Die Notration. Ein kleines Papierchen war zusätzlich noch aus seinem Geldbeutel gefallen. Er hatte es nicht bewusst wahrgenommen, war sich aber dennoch sicher, dass es passiert war. Er warf zwei Tabletten ein und kaute genüsslich darauf herum. Prüfenden Blickes betrachtete er den weißen Marmorboden. Er wusste nicht was da heruntergefallen war, er wusste nur, dass es heruntergefallen war. Instinktiv.
Neben dem Halogenstrahler entdeckte er es endlich. Ein stärkeres Papierchen, Fotopapier, etwas größer als ein gewöhnliches Passfoto. Bestimmten Schrittes trat er heran und hob es vorsichtig an, die Rückseite immer noch nach oben gerichtet. 11. Mai 1968, erkannte er, nur noch schwer, auf der Rückseite geschrieben. Langsam wendete er das Foto.
Wie ein Schlag auf den Brustkorb. Die Luft blieb ihm Weg, Jonathan sank in die Knie. Sie war es, sie lächelte ihn an. Ihm fiel wieder ein, wie schön sie gewesen war. Der kurze Schock wich schnell, die Luft kam zurück, er grübelte. Er hatte sie all die Jahre bei sich getragen, der Geldbeutel hatte auch schon gute 40 Jahre auf dem Buckel, in seiner linker Brusttasche, keinen Zentimeter weit entfernt von seinem Herz.
Es bedurfte keiner weiterer Zeichen. Keine weiteren Lügen mehr, schwor Jonathan.
Für jeden Mann, gibt es auf der Welt fünf Frauen, wenn überhaupt, die es Wert sind, sein Ego, seinen Stolz in die Tonne zu treten. Es passiert, dass sie dir, wie andere Frauen nun mal auch, dein kleines, verdammtes Herz brechen und du dir schwörst; nie wieder. Wenn sie dann doch erkennen, dass sie dich gegen ein arrogantes, oberflächliches und obendrein saudummes Arschloch eingetauscht haben, zurückgekrochen kommen dich mit tiefen magischen Augen ansehen, tränenunterlaufen; vergiss dein lächerliches Ego und werde einfach glücklich! Viele werden jetzt vielleicht sagen, fünf Frauen!?...dass sind aber ganz schön viele. Wenn ihr euch vor Augen haltet, dass es gut 3 Milliarden von ihnen gibt, erkennt ihr vielleicht, was für ein Glück derjenige hat, der auch nur eine von ihnen trifft. So hatte es Jonathan einmal geschrieben.
Für sie hätte er sein Ego geköpft, erhängt, gevierteilt, gerädert, verbrannt, gestreckt oder auch an den Pranger gestellt, wenn dass in irgendeiner Weise möglich war.
Seine Augen waren von salzigen Tränen unterlaufen. Endlich gestand er sich selbst ein, was er die ganzen Jahre versucht hatte zu vergessen.
Er hatte es nie gewagt ihr seine bedingungslose Liebe zu gestehen. Sie musste es gewusst haben, denn es war allzu offenkundig gewesen, nur jene Worte hatten nie Jonathans Mund verlassen. Er hatte ein um die andere günstige Gelegenheit verpasst, bis sich ihre Wege schließlich getrennt hatten und sie sich verabschiedeten, als Freunde. Er hatte ihr noch soviel sagen wollen, doch hatte nur irgendwelchen Unsinn von wegen, viel glück und bis bald, zusammengebracht. Der folgende Monate war die Hölle gewesen.
„ „Geh nicht!, oder „Ich liebe dich!“, das hättest du sagen sollen du feiger Bastard“, hatte es täglich stundenlang aus seinem Zimmer gedröhnt. Den Rest des Tages, hatte er auf seinem Bett gelegen, Kelloggs gegessen, Vom Winde verweht gesehen und war in Selbstmitleid ertrunken.
Der vollständigen Selbstzerstörung nahe, fand er schließlich einen Weg, sein Leben wieder in geordnete Verhältnisse zu rücken. Kein Psychiater, keine kostenintensive Therapie, nein, ein Bleistift und ein Collageblock. Er verfasste Geschichten, verarbeitete seinen Seelenschmerz darin. Es waren keine Geschichten über fiktive Charaktere, es war die Geschichte seines Lebens. Den Geschichten fügte er nur das Happyend an, das ihm immer verwehrt geblieben war.
„Sie war es, wegen ihr habe ich damals zu schreiben begonnen!“, sagte Jonathan plötzlich laut. Er hatte es eigentlich schon immer gewusst, nur ausgesprochen hatte er es nie. Jetzt war es raus.
Nachdem er damals, mit ca. 21 die ersten Erfolge gefeiert hatte, hatte er Maja getroffen. Die unausgesprochenen Gefühle für sie, die eine, schienen ihn nicht mehr zu belasten, die lasteten von da an auf seinen Geschichten, weshalb er sicher gewesen war, über sie hinweg zu sein.
„Er liebe jetzt Maja, sie sei die einzige für ihn“, hatte er sich damals immer wieder eingeredet. Er hatte sich etwas vorgemacht und Maja, die er wirklich sehr gern hatte, nur eben nie so lieben konnte wie die eine, angelogen.
Er redete sich ein er liebe sie, bis er es schließlich wirklich geglaubt hatte. Dass war 4 Jahre später, kurz vor ihrer Hochzeit. Da hatte er auch sie, die eine, zum letzten Mal getroffen. Er hatte in Frankfurt sein neues Buch vorgestellt, war schon wieder am Flughafen, unterwegs Richtung Heimat, Richtung Maja, als er sie plötzlich anrempelte.
„Ich hab all deine Bücher gelesen, du hast es wirklich geschafft“, sagte sie, irgendwann im Verlauf der Konversation.
„Wirklich!? Cool! Das erste war dir gewidmet!“, antwortete er mit zittriger Stimme. Das war der erste Schritt gewesen. Er hätte es schaffen können.
„Ich weiß“, flüsterte sie.
„Wo fliegst du hin?“, fragte er.
„Endlich nach Hause, zu meinem Verlobten“, stammelte sie. Von Vorfreude in der Stimme keine Spur.
„Schön, ich sehe heute Abend auch endlich meine Verlobte wieder“, sagte Jonathan, ebenso wenig überzeugend. Für ein paar Sekunden hatten sie still dagestanden. Jonathan überlegte ob er sie einfach packen sollte, mit ihr in ein Flugzeug nach Tansania steigen und endlich glücklich werden sollte. Sein schwermütiger Blick verriet ihn.
Sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir Leid, Jonathan“, ihre Stimme zitterte, dicke Tränen quollen aus ihren Augen hervor.
„Aber...“, versuchte er zu erwidern. Sie drückte ihm zwei Finger auf die Lippe. Stille. Sie küsste ihn und rannte davon, verschwand von neuem aus seinem Leben. Jonathan rannte ihr nicht nach. Die Vernunft hatte wieder die Oberhand übernommen. Er setzte sich ins Flugzeug und flog nach Hause.
Auf dieses Ereignis, war das letzte Buch gefolgt, dass Jonathan wirklich etwas bedeutet hatte. Da war er kurz davor zum ersten Mal Vater zu werden. Er wollte von da an nicht mehr über Gefühle für eine andere Frau schreiben. Er versuchte mehrmals einen endgültigen Schlussstrich unter jene Episode seines Lebens zu ziehen, um sich voll und ganz auf Maja und klein Jack konzentrieren zu können, doch als er abermals scheiterte beschloss er, sie tief in seinem Inneren einfach zu vergraben, sie so lange zu unterdrücken bis er sie eines Tages überhaupt nicht mehr spüren würde. Sein alter Freund Jack Daniels würde ihm dabei behilflich sein. Es klappte beinahe zu gut. Jene Gefühle waren einst die Schablonen für seine Romane gewesen. Mit ihnen verschwand nun auch das emotionale Fundament seiner Geschichten, kurz, es waren nichts weiter als leere Worthülsen mehr. Großartig neue Ideen blieben ebenso aus. Schrieb er früher zwei Romane in einem Jahr, schaffte er von da an in 2 Jahren mit viel Glück einen. Es war ihm vollkommen egal. Für ihn hatten sie jegliche Bedeutung verloren.
Maja waren diese Veränderungen nicht verborgen geblieben. Sie gerieten immer wieder in heftige Streitereien, Jonathan sei kalt geworden, er liebe sie nicht mehr, der Glanz in seinen Augen, wenn er sie ansehe, sei verschwunden er lebe nur noch für Alkohol und Ruhm.
Es stimmte so einfach nicht. Er mochte Maja sehr, in gewisser Hinsicht liebte er sie auch, nur eben nicht so wie er sie liebte, die, an deren Namen er sich mittlerweile nicht einmal mehr erinnern konnte. Zumindest versuchte er sich das selbst einzureden. Der Ruhm, eigentlich das vollkommen falsche Wort , denn kaum jemand, vielleicht der ein oder andere Buchkritiker, konnte dem Namen Jonathan Carpentier ein Gesicht zuordnen, war ihm mehr als verhasst. Er mied die Öffentlichkeit, fast ausnahmslos. Sein tägliches Glas Whiskey brauchte er um jene Erinnerungen, die tief in seiner Seele versteckt, nach außen drängten, zu besänftigen, zurückzuhalten.
Seine Kinder, Jack und Evelyn liebt er über alles. Das stand außer Frage. Er wäre für sie gestorben, hätte für sie getötet, wäre für sie selbst zur Hölle gefahren. Maja und er warteten auch, bis sie beide fanden ihre Kinder seien nun alt genug es zu verstehen, bis sie die Scheidung einreichten. Dass war vor genau 3 Jahren gewesen. Jonathan hatte Maja immer erzählt, sie sei seine Muse, seine Inspiration gewesen, die ihn solch herrliche Texte hatte schöpfen lassen. Er wollte ihr nicht noch einmal unnötig weh tun, dass hatte sie auch wirklich nicht verdient, meinte er damals. Kurze Zeit später kündigte er seinen Vertrag mit „West Canaan Books“ und hatte seitdem keine noch so winzige Zeile mehr geschrieben.
Maja und er gingen freundschaftlich auseinander, schon allein der Kinder wegen. Zweimal im Jahr kamen sie ihn alle besuchen, Jack, Evelyn, Maja und auch Dwight, Majas neuer Freund. Jonathan und Dwight verstanden sich von Haus aus prächtig. Zusammen mit Clive führte er Dwight in die hohe Kunst des Golfes ein, ihres Golfes versteht sich. Nancy sollte er auch bald kennen lernen. Spätestens wenn die nächste Houseparty anstehen sollte. Drei etwas in die Jahre gekommene Männer, saufend, kiffend, grölend inmitten einer Horde Kids, die mit etwas Glück und Ehrgeiz ihre Enkel hätten sein können. Man hatte sich mittlerweile daran gewöhnt.
Donnergrollen. Das Meer rumorte. Jonathan saß mit tränenüberströmten Augen auf seiner Couch, den Blick starr auf ihren Brief gerichtet, der immer noch, fast ungelesen, auf dem Boden lag. Er gab sich selbst so manchen Schimpfnamen. Nicht nur dass er die Liebe seines Lebens einfach hatte aus seinem Leben verschwinden lassen, zweimal, nein, er hatte auch noch eine andere, liebenswerte, nette Frau betrogen. Er hatte unzählige Tausend Menschen betrogen, die seine leeren Bücher gekauft hatten. Er fühlte sich elend, schuldig. Er war ein mieser kleiner Betrüger.
Er wusste, es gab nur eine einzige Möglichkeit alles, zumindest halbwegs, Wiedergutzumachen. Die Wahrheit. Alle sollten es wissen. Sie, die eine, sollte endlich Gewissheit bekommen, sie sollte endlich wissen, was er wirklich für sie empfand. Es ihr sagen – dazu war er nicht im Stande.
Nur, es allen zu erzählen würde knifflig werden. So lange würde er wahrscheinlich gar nicht mehr leben.
„Ich muss es noch ein letztes Mal tun“, sagte er, erhob sich und wischte die Tränen aus seinem Gesicht. Entschlossenen Schrittes ging er hinüber zu seinem Schreibtisch, öffnete sein Notebook und begann zu schreiben.
„Für sie, die eine“, schrieb er. „A Lot Like Love“, fuhr er fort. Plötzlich blickte er noch einmal auf. Sein suchender Blick fand endlich den Brief.
„Scheiß drauf, feiger Bastard!“, provozierte er sich selbst. Er klappte sein Notebook zu, hob den Brief auf und begann zu lesen. Er lächelte. Er faltete den Brief sauber wieder zusammen, ging zum Telefon und begann zu wählen