A walk in the park
Ein sanfter Wind kam auf und löste ein paar fast verblühte Kirschblüten von den Bäumen. Der Park war eine menschenleere Oase voller Ruhe; ein Fremder würde nicht glauben, dass nur wenige Kilometer weiter sowohl Menschen als auch Maschinen unaufhörlich arbeiteten, produzierten und verkauften.
Bittersweet saß auf der Parkbank und zog, tief in Gedanken versunken, an ihrer Zigarette.
Im aufgewärmten Gras lag, nur einen halben Meter von ihr entfernt, Mac und schlief. Seine langen spitzen Ohren hingen an der Seite seines Kopfes herab. Sein gepflegtes hellbraunes Fell glänzte rötlich in der Nachmittagssonne. Wie Feuer, dachte Bittersweet versonnen und blickte voller Liebe auf das schlafende Wesen.
Seufzend dämpfte sie ihre Zigarette aus, schlüpfte mit einem Fuß aus ihrem Stiletto und fuhr damit durch das saftig grüne Gras. Es war warm und trocken.
Sie mochte Gras, es erinnerte sie immer an die Zeit, die ein ganzes Menschenleben her zu sein schien und die in Wirklichkeit doch erst vor 4 Jahren gewesen war......
Zu dieser Zeit hatte die damals 15jährige Bittersweet noch im Haus ihrer Eltern gewohnt. Nur in deren Haus, denn ihre Eltern selbst waren weg. Vor zwei Jahren hatten der Luftfahrttechniker und die Astronomin sich dazu entschlossen, mit einem Forschungsteam zur Erde zurückzufliegen. Es war ihnen nicht leicht gefallen, denn sie liebten ihre Tochter.
Bittersweet dachte damals, dass die Menschen selbst nach gut 300 Jahren auf Phalidon wohl noch immer etwas in sich trugen, dass sie zu ihrem ursprünglichen Heimatplaneten hinzog, selbst wenn sie diesen noch nie gesehen hatten. Es musste wohl ein Instinkt sein.
Doch wenn man davon absah, dass sie ihre Eltern natürlich sehr vermisste, hatte Bittersweet nicht die geringsten Schwierigkeiten, sich selbst zu versorgen. Auf Phalidon war ein sich selbst versorgendes 15jähriges Mädchen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Menschen, die auf der Erde wohl noch als Kinder gegolten hätten, waren hier vollberechtigte Bürger, man machte keinen Unterschied zwischen ihnen und einer Person mittleren Alters. Dass man auf Phalidon Personen nicht nach ihrer biologischen, sondern nach ihrer geistigen Reife bewertete, war sicher eine der guten Seiten dieses Planeten.
Obwohl ihre Eltern ihr Geld für mehrere Jahre auf der Bank zurückgelegt hatten, arbeitete Bittersweet für eine längere Zeit auf der Farm ihrer Tante.
Dort gab es die einzigen von der Erde mitgebrachten und mühevoll auf dem neuen Planeten angesiedelten Tierarten. Es waren ausschließlich Nutztierarten wie Kühe, Schafe, Hennen und Forellen, genügsame Tiere, die für die Wirtschaft enorm wichtig waren.
Bei der Flucht von der Erde vor 300 Jahren hatten sich einige besonders kapriziöse „Auserwählte“ eingebildet, ihre Hauskatzen mitnehmen zu müssen, die jedoch nicht lange auf dem neuen Planeten überlebten. Manche starben bereits an den Strapazen der Reise.
Und so hatten sich die Bewohner im Laufe der Jahrhunderte die Tierliebe weitgehend abgewöhnt-es wurde zwar keines schlecht behandelt, denn dafür waren sie viel zu kostbar, doch sie waren nicht viel mehr als fleisch- und milchgebende Objekte für die Bevölkerung, lebenswichtig, aber nichts besonderes.
Ganz anders dachte Bittersweet darüber. Sie hatte nichts mehr genossen, als den ganzen Tag die Tiere zu füttern, sie zum Grasen auf die zur Farm gehörenden Grünflächen zu treiben und sie zu pflegen.
Manchmal, wenn sie es sich erlauben durfte, ein paar Minuten zu trödeln, strich sie liebevoll über den Kopf einer Kuh und sah ihr in die großen, sanften Augen. Die Tiere wurden sehr zutraulich und folgten ihrem Befehl.
Doch wie sehr hatte sie sich immer gewünscht, ein Tier zu haben, dass nicht nur dankbar für Futter und Streicheleinheiten war, sondern eine besondere Beziehung zu ihr und nur zu ihr hatte.
Für die Kuh war Bittersweet ein zwar freundlicher, jedoch austauschbarer Streicheleinheitenspender. Keine davon lief auf sie zu, wenn sie kam, und den Hennen und Forellen war es ohnehin egal, von wem ihnen das Futter zugeworfen wurde.
Bittersweet hatte selbstverständlich Phalidon nie verlassen und nur eine vage Vorstellung von dem, was man auf der Erde „Haustiere“ genannt hatte, doch der Wunsch nach einem besonderem Wesen hörte nie auf, in ihrem Kopf herumzuspuken.
Mit 15 hatte Bittersweet bereits aufgehört, auf der Farm zu arbeiten. Sie blieb zu Hause, malte viel und machte lange Spaziergänge, bis eines Tages eine Meldung um den ganzen Planeten ging:
Ein Spaziergänger aus einer Stadt namens Glargrove, etwa 15 km von Bittersweets Heimatstadt Wingloff entfernt, war in einer Höhle in den Glargrove Forests auf ein unbekanntes Lebewesen gestoßen. Es war weder eine Kuh noch eine Ziege, und auch keine Henne oder Forelle.
Es war ein völlig unbekanntes Lebewesen, dass der ahnungslose Spaziergänger zuerst für eine Pflanze gehalten hatte, bis es plötzlich davongerannt war.
Niemand wusste, ob er Mann nur die Medienaufmerksamkeit wollte oder ob die Geschichte tatsächlich stimmte. Immerhin waren die Glargrove Forests, so wie alle größeren Wälder, ein komplett unerforschtes, schwer zu erreichendes Gebiet. Die wenigen Menschen, die vor 300 Jahren mit Raumschiffen nach Phalidon gekommen waren-es waren etwa 150 000-bevorzugten es, Städte und Siedlungen auf wirtschaftlich ertragreichen Gebieten möglichst nah beinander zu bauen. Wenn sie schon ihren Heimatplaneten, auf dem die ökonomische Lage aufgrund von Atomunfällen und Umweltverschmutzung im Jahre 2190 fast unaushaltbar geworden war, verlassen mussten, so wollten sie wenigstens in ihrer neuen Heimat möglichst wenig weit entfernt voneinander sein. Da die Bevölkerungszahl von Phalidon innerhalb von 300 Jahren nur um etwa 7 000 Personen gestiegen war, blieben schwer erreichbare und wirtschaftlich nicht nutzbare Gebiete weiterhin unbewohnt. Nach einem Meilenstein wie der Besiedelung eines neuen Planten war die Eroberungslust der Menschen komplett erschöpft und alle Energie wurde darauf konzentriert, Phalidon bewohnbar zu machen.
Danach entwickelten sich Wirtschaft und Politik, die Bevölkerung war bemüht, ein möglichst normales Leben zu führen.
Doch der fragwürdige Vorfall mit dem unbekannten Lebewesen ließ Bittersweet keine Ruhe, und so verließ sie eine Woche später, angetan mit einem Rucksack voller Lebensmittel, ihr Elternhaus.
Sie steuerte auf direktem Weg Glargrove an. Die Stadt selbst hatte sie am selben Abend erreicht, doch der Aufstieg zu den Glargrove Forrests erwies sich als mühsam.
Bittersweet wunderte sich, dass außer ihr keine Menschen zu sehen waren. Sie hatte Kamerateams und Reporter erwartet, doch vermutlich hatte man den Mann, der eine laufende Pflanze gesehen haben wollte, einstimmig als verrückten Spinner abgetan.
Und wenn er das nun war? Für einen winzigen Moment kam Bittersweet sich albern vor, wie ein kleines Kind, dass die ganze Nacht wachblieb in der Hoffnung, die Zahnfee oder den Weihnachtsmann zu erspähen.
Doch ihre Neugier war unwiederruflich geweckt, deshalb gab es auch kein Zurück mehr für sie.
Der Aufstieg zu den Forrests dauerte fast zwei Tage und war sehr beschwerlich, denn Bittersweet war zwar schlank, doch wenig sportlich. Komplett erschöpft kam sie bei den Forrests an und hatte kaum noch Kraft, ihren Schlafsack auszurollen.
Mitten in der Nacht erwachte sie durch ein seltsames Kratzen. Erschreckt fuhr sie hoch und versuchte, sich zu orientieren. Plötzlich kam zu dem Kratzen ein hoher, winselnder Laut hinzu.
Bittersweet knipste ihre kleine Taschenlampe an und tastete sich vorwärts. Das Winseln schien direkt aus einem umgekippten Baumstamm zu kommen.
Bei näherem Hinsehen erkannte sie jedoch etwas Felliges. Da war etwas unter dem Baumstamm. Sie plazierte die Taschenlampe in der richtigen Position auf dem Boden und zog mit aller Kraft an dem Stamm.
Als sie erkannte, dass sie so nicht weiterkam, hielt sie inne und blickte um sich. Das wimmernde Etwas war wohl in einer kleinen Höhle unter dem Baumstamm gefangen.
Bittersweet fand einen Ast und begann, in der feuchten, weichen Erde zu graben. Schließlich warf sie den Ast zur Seite und grub entschlossen mit den Händen weiter.
Das pelzige Wesen hüpfte ihr entgegen. Seltsamerweise verspürte sie keine Angst, als sie es umklammerte und es zu ihrem Rastplatz zurücktrug. Im Licht der Taschenlampe betrachtete sie es genauer.
Es sah anders aus als alle Tiere, die sie jemals bei ihrer Tante gesehen hatte: Es hatte dichtes, braunes Fell, kugelrunde schwarze Augen, einen buschigen Schweif und sehr lange, dünne Ohren. Obwohl sie dieses Wesen nicht kannte, kam es ihr ausgesprochen ausgehungert vor.
Sie wusch es behelfsmäßig mit dem Wasser aus ihrer Thermoskanne und gab ihm etwas Fleisch.
Die Erzählungen des als verrückt abgestempelten Mannes stimmten also doch.
Bittersweet wickelte das Tier in einen Pullover. Wenn man sie damit in der Stadt sah, würde das einen Aufschrei verursachen, und so beschloss sie, beim ersten schwachen Licht des Tages aufzubrechen und nur kleine Feldwege zu nehmen.
Zuhause wusch sie das kleine Wesen, gab ihm zu fressen und richtete ihm in der Ecke ihres Schlafzimmers ein kleines Bettchen aus Decken und Polstern.
Seine hilflose Art und seine Anhänglichkeit ließen Bittersweet vermuten, dass es wohl noch sehr jung war. Vielleicht hatte es seine Mutter verloren und war tagelang in den Forrests herumgeirrt, bevor sie es schließlich unter einem Baumstamm eingesperrt gefunden hatte.
Sie beschloss, es Mac zu nennen.
Eine ganze Woche blieb sie, aus Unsicherheit darüber, wie die Stadtbewohner auf Mac reagieren würden, im Haus. Doch wie groß war ihre Überraschung, als sie zum Einkaufen in die Stadt ging und dort die Straßen von seltsamen Wesen bevölkert vorfand!
Von allen Seiten blickten Menschen teilweise neugierig und fasziniert, teilweise skeptisch und ängstlich, aus den Fenstern. Einige mutige hatten sich sogar auf die Straße getraut und versuchten nun, die eigenartigen Wesen mit Leckereien und Lockrufen anzulocken.
Voller Staunen hielt Bittersweet inne und sah sich um. Manche Kreaturen sahen aus wie der zuerst allgemein verhöhnte Wanderer sie beschrieben hatte. Sie waren grün, und manche von ihnen trugen etwas auf dem Rücken, das aussah wie Blätter. Bittersweet fragte sich, ob die Blätter wohl von Zeit zu Zeit ausfielen und die Wesen neue nachbildeten oder ob das, was wie Blätter aussah, bloß Haut war.
Dann gab es solche, die aussahen wie Mac, mit Fell und deutlich erkennbaren Ohren.
Die ganze Stadt war in heller Aufruhr. Woher mochten diese Wesen gekommen sein? Warum hatte man sie erst jetzt entdeckt? Hatte es in den unendlichen Glargrove Forests irgendeinen natürlichen Auslöser gegeben, der sie veranlasst hatte, sich den Menschen zu nähern?
Hilf dir selbst, hieß das Prinzip auf Phalidon. Hast du eine gute Idee, finde Menschen, die sich dafür begeistern, und wenn dabei was Brauchbares rauskommt, stell es öffentlich vor, dann wird es vielleicht sogar offiziell.
Das Alter spielte dabei wenig Rolle.
Und so kam es, dass sich bald eine sehr weitläufige Interessensgruppe bildete, die sich mit den ungewöhmlichen Tieren befasste. Jeder schien versessen darauf zu sein, über sie zu forschen und sie zu studieren.
Und so stieß auch Bittersweet wenige Monate später zu einem Forschungsclub, der es sich zum Ziel gemacht hatte, so viel wie möglich über die Kreaturen zu erfahren.
Zur Zeit von Bittersweets Eintritt bestand der Club bereits aus 5 Mitgliedern: Lucid, Razor, Lilac, Bonco und Spider.
Lucid war mit 19 Jahren die älteste, und die Anführerrolle war ihr wie auf den Leib geschneidert. Obwohl die neuen Wesen etwas Unbekanntes für sie waren, hatte es den Anschein, als würde sie sich schon seit Jahrzehnten damit beschäftigen.
Razor war 17 und sicher auf der gleichen Hierarchiestufe wie Lucid. Für sein Alter war er außerordentlich erwachsen und gelassen, und doch hatte er die nötigen Führungsqualitäten, mit denen er im Ernstfall die ganze Gruppe leiten konnte. Wie Bittersweet brachte er bereits eines der neuen Wesen mit. Swift war ein hübsches, gewandtes Tier, das auf zwei Beinen lief, kurze Ärmchen und eine komplett glatte, gelbe Haut hatte. Es überragte seinen Besitzer, obwohl dieser beiweitem nicht klein war, und mehr als einen Kopf. Fühlte es sich angegriffen, verteidigte es sich mit Stromstößen, die ein kleineres Tier oder einen schwächeren Menschen durchaus Schaden zufügen konnten. Razor hatte seinem Schützling einen schmalen Goldreifen um den langen Hals gelegt. Jeder konnte sehen, wie stolz er auf Swift war und wie sehr Swift seinem Besitzer vertraute.
Spider war 13 und wahnsinnig erpicht darauf, so viel wie möglich über die neuen Kreaturen in Erfahrung zu bringen. Auch er hatte bereits einen Begleiter gefunden, ein etwa kniehohes, insektoides Wesen mit 8 Beinen und kleinen Flügeln am Rücken, die jedoch zum Fliegen nicht geeignet waren. Spider war sehr intelligent und wissbegierig und wurde, obgleich er der Jüngste war, bald zu einem unersetzlichen Mitglied des Teams.
Lilac war ein ruhiges Mädchen in Bittersweets Alter. Sie war klein und zierlich und hatte einen schwarzen, bis zum Kinn reichenden Pagenkopf. Sie arbeitete effizient und hatte ein sanftes, wenn auch etwas schüchternes Wesen.
Bonco war 14 und hielt sich für den größten Frauenheld der Stadt, doch Lucid achtete ungnädig und resolut darauf, dass er in regelmäßigen Abständen eines besseren belehrt wurde.
Trotz seiner manchmal unerträglichen Angebereien war er in der Lage, sehr engagiert zu arbeiten. Sein Einsatz für die Forschung machte ihn zu einem beständigen Mitglied der Truppe.
Beständig deshalb, weil sich das Forschungsteam ständig erweiterte und wieder verringerte. Mitglieder kamen und gingen, mache blieben ein halbes Jahr, manche nicht einmal zwei Wochen.
Bittersweet und die anderen fünf bildeten den Kern der Gruppe.
Als erstes brauchten die angehenden Forscher einen fixen Platz für ihre Untersuchungen, und so kam es, dass die ganze Gruppe das geräumige, aber etwas verfallene Wochenendhaus von Razors Eltern in wochenlanger Arbeit renovierten. Swift half fleißig mit und trug seinem Besitzer sämtliche Utensilien nach. Bittersweet staunte nicht schlecht, als sie Swift zum ersten Mal mit dem Malerpinsel im Maul durch die Vorhalle laufen sah.
Nach fast einem Monat war das Haus poliert, neu heruntergeputzt und gestrichen, und erste, rudimentäre Forschungswerkzeuge waren gemeinsam finanziert worden.
Bald hatten sich kleine Forschungsgruppen gebildet. Lucid lenkte die anderen Mitglieder, so weit es nötig war, ließ ihnen aber weitgehend ihren Freiraum.
Um die Neuartigkeit der Umstände sowie auch ihre neu gegründete Forschungsgruppe hervorzuheben, legten alle Mitglieder für die Zeit, die sie im Forschungsteam arbeiteten, ihre richtigen Namen ab. Zwar verrieten sich die Mitglieder der Kerngruppe mit der Zeit ihre richtigen Vornamen, doch ihre Decknamen waren bald so eingefleischt, dass die Mitglieder nach einiger Zeit nachdenken mussten, wenn sie außerhalb der Forschungsstation nach ihrem richtigen Namen gefragt wurden.
Für Bittersweet war ihr Name Teil ihrer Identität-er drückte aus, wofür sie arbeitete und forschte, wofür sie sich einsetzte und wofür sie kämpfte. Selbst nach der großen Tragödie, die sich zwei Jahre später ereignen sollte, wollte sie nie wieder anders angesprochen werden.
Doe Forschungen gingen rasant vorwärts, und bald hatte sich die kleine Gruppe, die sich nun WSU nannte, zu einer der bedeutendsten Forschungsgruppen aufgeschwungen.
Trotz oder vielleicht gerade weil die Mitglieder so verschieden waren, verlief die Zusammenarbeit meist problemlos.
Spider werkelte oft Tag und Nacht im Labor herum und wurde nicht müde, sein seltsames Tier zu untersuchen und sowohl seine Gedächtnisleistung als auch seine körperlichen Fähigkeiten zu testen. Dabei ging er mit der Kreatur stets so respektvoll um wie mit einem Menschen.
Die anderen Mitglieder unternahmen sehr oft Forschungsfahren. Mit Lucids Steelclimber waren die Glargrove Forests in weniger als einem halben Tag erreicht.
Drei Monate nach ihrer Gründung hatte die WSU bereits 34 verschiedene Kreaturen registriert. Es war Zeit, der Spezies einen eigenen Namen zu geben. Bis jetzt hatte man sie einfach nur „die seltsamen Wesen“ genannt.
Doch kaum hatten sich die Mitglieder der WSU auf den Namen Phalidions geeinigt, da erfuhren sie auch schon, dass ihnen eine Forschungsgruppe aus dem Süden des Planeten mit dem Namen Molingards, nach dem als verrückt abgestempelten Entdecker Molingard benannt, zuvorgekommen war. Die Bezeichnung Molingards wurde offiziell. Doch die WSU war die erste Gruppe, die weiter ins Detail ging:
Knapp 4 Monate nach der Entdeckung der Molingards gelang es den Mitgliedern, eine erste vereinfachte Klassifizierung der Wesen zu veröffentlichen.
Da waren erstens die Amphibienartigen, die sich vorwiegend vegetarisch ernährten, eine glatte Haut besaßen und sich am liebsten im oder am Wasser aufhielten. Razors Gefährte Swift zählte zu dieser Gruppe.
Zweitens gab es die Insektenartigen, zu der Spiders namenloses Tier gehörte. Sie ernährten sich innerhalb ihrer Untergruppe und waren somit kannibalisch. Diese Tatsache erheiterte Razor aus irgendeinem Grund immer wieder aufs Neue.
Drittens gab es die Pflanzenartigen, die sich hauptsächlich von Wurzeln ernährten und nach neuestem Stand der Forschung Photosynthese betrieben. Manchmal gingen sie auch Symbiosen mit richtigen Pflanzen ein.
Und viertens gab es dann noch die felltragenden Molingards, die sich vorwiegend von Fleisch ernährten. Zu dieser Gruppe zählte Mac.
Eines jedoch hatten nach dem letzten Erkenntnisstand der WSU ale gemein: Sie waren Säuger. Bittersweet war es gelungen, ein paar Wesen im Garten des Forschungslabors anzusiedeln. Wie groß war die Freude gewesen, als zwei gleiche Molingards Nachwuchs bekamen, und noch dazu vier Stück auf einmal! Die lebhaften Kleinen hielten die ganze Forschungsstation auf Trab. Fernsehteams kamen, um zu filmen. Lucid und Razor achteten darauf, dass die Wesen nicht zu sehr gestört wurden und ließen Schaulustige nur wohldosiert und unter Aufsicht eines der Teammitglieder in die Station und den anliegenden Garten.
Am Abend wurden alle Gebäudeteile gesichert und abgesperrt, obwohl einige der Mitglieder ständig dort wohnten.
Denn die seltsamen Wesen hatten, wie sich bald herausstellte, nicht nur Freunde unter den Menschen.
Wie alles Neue verunsicherten die Molingards die Menschen. Schauergeschichten von Bestien und giftigen Exemplaren, die unbescholtene Spaziergänger anfielen, machten die Runde, wurden jedoch in der allgemeinen Forschungseuphorie weitgehend überhört.
Für Bittersweet und die anderen WSU-Mitglieder begann eine vollständig neue Zeit. Jahrelang hatten sie zumindest weitgehend alleine gelebt, doch nun war Teamwork angesagt. Immerhin galt es, die neu entdeckte Spezies so gut wie möglich zu erforschen.
Lilac und Bittersweet waren hauptsächlich für die Züchtung und die Aufzeichnungen zuständig. Trotzdem fuhren sie verhältnismäßig oft in die Glargrove Forests.
Als sie in einem kleinen Waldteich ein Wesen entdeckten, dass so gar nicht in eine der bis jetzt aufgestellten Kategorien passen wollte, geriet ihre „alle Molingards sind Säuger“-Theorie, wie bei jeder neu entdeckten Art-ins Wanken.
Die Kreatur war ein Prachtexemplar: Es hatte wunderschön bläulich glänzende Schuppen und insgesamt vier Flossen, wobei die Rückenflosse die beeindruckendste war-wie ein Schleier schien sie hinter dem Tier herzuschweben, während es bedacht und ruhig durchs Wasser schwamm.
Lilac war begeistert und fasziniert. Fast jeden Tag fuhr sie zu dem Teich und stellte genaue Untersuchungen an, worauf sie noch ein paar dieser seltsam schönen Molingards entdeckte.
Als sie nach einer gewissen Zeit von einem Tag auf den anderen mehrere Junge vorfand, konnte sie mit ziemlicher Sicherheit feststellen, dass es sich auch hierbei um Säuger handelte.
Forschungstruppen wie die WSU waren von einem Moment auf den anderen wahnsinnig gefragt. Jeder schien sich für die neu entdeckten Wesen zu begeistern, jeder wollte sie sehen, sie berühren und einfach alles über sie erfahren. Die WSU reiste, kaum ein halbes Jahr nach der sensationellen Entdeckung der Molingards, von Informationsabend zu Informationsabend.
Die Besucher waren begeistert von dem selbstsicheren Auftreten von Lucid und Razor, aber auch von der offensichtlichen Hingabe, mit der sich Bittersweet um ihre Schützlinge kümmerte.
Es sollte nicht die einzige bleiben, die Bittersweet während ihrer Zeit bei der WSU entwickeln würde.
Es war der Tag der Tättoowierung, als Torrent aus heiterem Himmel hereinschneite. Neben ihr trottete ein großes, sehr schönes goldbraunes Tier mit smaragdgrünen Augen und kräftigem Kiefer. Sie nannte es Twister.
Torrent kam von der anderen Seite des Planeten, sie hatte einen weiten Weg zurückgelegt und dabei viele Forschungsclubs besucht, doch laut ihrer eigenen Schilderung hatte es ihr bis jetzt in keinem davon wirklich zugesagt.
Bittersweet konnte es am Anfang noch nicht so genau begründen, doch eines stand für sie von Anfang an fest: Das um ein Jahr ältere Mädchen war ihr vom ersten Augenblick an unsympathisch.
Sie war fassungslos, als Lucid Torrent vorschlug, sich doch auch gleich tättoowieren zu lassen. Solche vorschnellen, unüberlegten Handlungen passten nicht zu ihr. Spider machte ein paar wohlüberlegte Einwände, doch Lucid war nicht umzustimmen.
Und auch Torrent sagte lächelnd mit einem Achselzucken zu, ohne auch nur eine Minute Bedenkzeit, so locker und unbekümmert, wie sie ihre Entscheidungen offensichtlich immer traf.
Bittersweet grollte ihr innerlich und wurde erst wieder von den Schmerzen der Tättoowierung von ihrem Missfallen abgelenkt.
Prüfend beobachtete sie das Zeichen auf ihrem rechten Oberarm. Es sah fast as wie ein Herz, nur runder und nicht geschlossen.
Mit nachsichtiger Gelassenheit sah sie bei Torrents Tättoowierung zu. Wieder eine, die nur für ein paar Wochen bleiben und dann wieder auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Solche Leute hatte es in der WSU bereits genug gegeben, doch bis jetzt wäre wohl niemand so voreilig gewesen, sich ein so eindeutiges und schwer zu beseitigendes Merkmal wie ein Erkennungstattoo machen zu lassen.
Ihr Pech, dachte Bittersweet. Sie soll nur sehen, was sie damit macht, wenn sie in einer Woche wieder verschwindet.
Doch sie sollte sich täuschen. Torrent wurde ein festes Mitglied der Gruppe.
Drei Monate nach Torrents Aufnahme zeigte sich zum ersten Mal, dass die Molingards nicht nur Freunde unter den Menschen hatten. Wie alles neue wurden sie von einem Teil der Bevölkerung mit Angst, Abneigung und Misstrauen angesehen. Was Bittersweet beunruhigte, war die Tatsache, dass dieser Teil der Bevölkerung immer größer zu werden schien. Vielleicht hatten sich seine Mitglieder aber auch erst jetzt, nach dem ersten leichten Abklingen der ersten Forschungseuphorie, an die Öffentlichkeit getraut.
Meistens wurden die relativ kindischen und unorganisierten Proteste gegen die Wesen von der Polizei ins Lächerliche gezogen.
„Die Fratzen sollten sich eine ordentliche Arbeit suchen“, schimpfte eine kleine, braunhaarige Frau mittleren Alters, die gerade dabei war, den Schriftzug „Sperrt die Viecher wieder zurück in ihren Wald“ von der Unterführung zu entfernen, als Bittersweet vom Einkaufen zurückkam.
Bittersweet war sich der Tatsache bewusst, dass bis jetzt noch nichts wirklich Erwähnenswertes von den Molingard-Hassern gekommen war.
Dennoch umklammerte sie Mac jedes Mal ein Stückchen fester, wenn sie an derartigen Aufschriften vorbeiging.
Sie war bereit, jedem, der ihrem Liebling etwas tun wollte, ohne Zögern die Augen auszukratzen.
Manchmal, wenn sie alleine wenig besuchte Plätze aufsuchen musste, nahm sie sich Hunter mit. Hunter war ein großes Molingard mit kräftigen Beinen und sehr, sehr scharfen Zähnen, und Bittersweet war offenbar diejenige, die es am liebsten mochte. Jedenfalls trottete er brav und geduldig neben ihr her und knurrte jeden, der ihr zu nahe kam, böse an. In seiner Gegenwart fühlte Bittersweet sich sicher.
Als die Aktionen gegen die Molingards Mitte September jedoch stärker wurden, entschloss sie sich, etwas zusätzliches für ihre Verteidigung zu tun.
„Sie nimmt ihre Arbeit überhaupt nicht ernst. Kein Wunder, dass sie es mit keinem Forschungsteam lange durchgehalten hat. Oder, kein Forschungsteam mit ihr. Wer weiß.“ Bittersweets Paya-Schwert schlug mit einem lauten Krach gegen das von Bonco.
Beide hatten sich dazu entschlossen, das Kellergeschoß des Hauses zu einem Trainingsraum umzuwandeln, um ihre Selbstverteidigung zu verbessern. Letzten Monat war es erstmals zu Attacken gegen allgemein bekannte Molingard-Züchter gekommen.Die Täter waren schnell gefasst, doch jeder in der WSU war sich der Tatsache bewusst, dass dies nur der Anfang war.
Bonco hatte einige Kenntnisse in Kampfkunst, die sein Vater ihm vermittelt hatte. Zu günstigem Preis hatten sich die WSU-Mitglieder ein paar Trainingsgeräte angeschafft. Das Paya-Schwert war ein gutes Mittel, um sowohl Schnelligkeit als auch Reaktionsvermögen zu trainieren. Richtig eingesetzt, konnte es zu einer tödlichen Waffe werden.
„Na ja, aber sie hält schon ganz schön lange durch, zumindest für ihre Verhältnisse.“ Bonco wehrte einen weiteren Schlag mit seinem Schwert ab. Bittersweet schnaubte unwillig.
„Du bist ganz schön unkonzentriert“, bemerkte Bonco. „So wirst du Torrent sicher nicht schlagen.“
Bittersweet hielt inne und starrte ihn an. „Wie kommst du darauf, dass ich sie herausfordern will?“, fragte sie verblüfft. Sicher, es war auf Phalidon üblich, sich gelegentlich zu sportlichen Wettkämpfen herauszufordern, auch innerhalb eines Forschungsteams. Als Freizeitbeschäftigung, wegen des Wettkampfes oder einfach nur, damit es für die anderen Leute etwas zum Schauen gab. Doch Bittersweet hatte bis jetzt noch nie über so etwas nachgedacht.
Als Bonco nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Und so gut, wie alle sagen, kann sie nicht sein. Sie trainiert zwar hin und wieder, aber genau so, wie sie alles andere macht, halbherzig und nachlässig.“
Genervt dachte sie an Torrent, die zwar ganz groß im Reden war, aber ständig vergaß, wissenschaftliche Aufgaben für das Team zu erledigen.
„Nun ja, besonders hübsch ist sie ja nicht. Schlank ja, das ist gut. Aber zu kurze Haare. Und zu groß für meinen Geschmack.“, kommentierte Bonco.
Bittersweet sah ihn resigniert seufzend an. Solche Bemerkungen waren ja wieder einmal typisch für ihn.
„Was für ein riesengroßes Pech, Weiberheld.“ Mit einem gezielten Schlag schlug sie ihm sein Schwert aus den Händen. Es verursachte kaum ein Geräusch auf dem gut isolierten Holzboden.
Bonco hob es auf und fuhr mit dem Finger über die Klinge. „Wie gesagt, nicht mein Typ, das Mädel. Aber zum Glück hat ja jeder seinen eigenen Geschmack.“
Bittersweet horchte auf. „Was meinst du?“, fragte sie stirnrunzelnd.
Bonco drehte sein Schwert herum, während er antwortete: „Na ja, Lucid versteht sich sehr gut mit ihr. Und Razor auch. Vor allem Razor. Normalerweise hat er es doch gar nicht gerne, wenn sich so ein Neuling in die Führungspostion drängt. Doch mittlerweile wird bereits die Mehrheit unserer Forschungsexkursionen von Torrent geplant.“
Er legte das Schwert zur Seite, schnappte sich eine Zigarette aus der Packung, die auf dem kleinen Holztischchen lag und zündete sie an. Er nahm einen tiefen Zug.
„Hey, Bittersweet, rauchst du eigentlich?“ Als er keine Antwort bekam, drehte er sich um, doch Bittersweet war bereits verschwunden. Bonco zuckte mit den Achseln und steckte die restlichen Zigaretten in seine Tasche.
Bittersweet grollte. Schweigend sortierte sie die neu angelegten Akten in die dafür bereitstehenden Kisten.
Lilac spürte die schlechte Stimmung ihrer Mitarbeiterin und ließ sie vorsorglich in Frieden. Eine Stunde später ging sie, um im Labor noch einige Experimente durchzuführen.
Bittersweet sortierte weiter Akten und ließ sie mit möglichst großem Knall in die Schachteln fallen. Auch bei den Türen galt an diesem Tag: Je lauter sie zufielen, desto besser.
Am späten Nachmittag ging die Tür zum Büroraum auf, und Torrent trat mit unbekümmertem Gesichtsausdruck und schlenkernden Armen ein. Bittersweet beschäftigte sich ostentativ mit ihrer Kaffeetasse.
„Hallo“, rief Torrent, ging durch den Raum und begann, in den Kästen herumzukramen. „Hey, hast du zufällig die mittelgroßen Fangnetze und die Thermometer gesehen?“
Bittersweet deutete wortlos auf den zweiten Kasten neben der Tür. „Ah, da sind sie ja!“, trällerte Torrent fröhlich.
Bittersweet fragte sich wutschäumend, warum Torrent bei jeder Kleinigkeit, die sie-selbst wenn nur mit Fremdhilfe-geschafft hatte, gleich so aufspielen musste. Wie konnte man überhaupt so dämlich sein und im Medikamentenschrank nach Fangnetzen suchen? Bittersweet starrte missmutig auf das Tattoo auf Torrents brauner Haut. Sie hatte es einfach nicht verdient.
„Wirklich toll, dass ich die noch gefunden habe!“ Torrent schüttelte ihr kurzes kastanienbraunes Haar.
„Sonst wäre es heute nichts mehr geworden mit unserem Molingard-Fischen.“
„Unserem?“ Bittersweet hatte nicht beabsichtigst, auch nur eine Silbe mit Torrent zu reden, doch diese Frage kam wie ein Reflex.
„Ja, Razor begleitet mich. Toll, was? Wir werden sicher einige interessante neue Arten finden. Könntest du Lucid bitte ausrichten, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit wohl nicht zurückkommen werden?“
Mit diesen Worten stürmte sie, ohne Bittersweets Antwort abzuwarten, aus dem Büro.
Einige Sekunden lang starrte Bittersweet abwechselnd aus dem Fenster und auf den vor ihr stehenden Tisch. Groll flammte in ihr auf wie Feuer an einem Streichholz, dass der Flamme zu nahe gekommen war.
Schließlich sprang sie von ihrem Stuhl auf und schleuderte ihre Kaffeetasse mit voller Wucht gegen die Wand.
Unsanft wurde Bonco aus seinen süßen Träumen geschreckt, als Bittersweet ihn packte, ihm wortlos das Paya-Schwert in die Hand drückte und ihn in Richtung Keller zerrte. Verschlafen murmelte er einige unverständliche Silben in seinen nicht vorhandenen Bart.
Im Keller angelangt, griff Bittersweet nach ihrem Schwert, dass an der Wand gelehnt hatte.
„Mann, Bittersweet, du bist unmenschlich“, maulte Bonco und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Jammer nicht und greif endlich an. Ich habe heute noch was anderes zu tun.“ Bittersweet zückte das Schwert.
Bonco war mit einem Schlag wach. „Du forderst sie also doch heraus!“ Seine Augen blitzten schelmisch. „Na, endlich geht’s hier mal wieder so richtig rund!“
Als Torrent an diesem Abend aus der Dusche stieg und in das Zimmer, dass sie zumindest zeitweise im WSU-Haus bewohnte, zurückging, fand sie auf dem Bett einen kurzen Stock vor, um den ein Stück Papier gewickelt war. „Dienstag Mittag 1 Uhr, Borburry Hills, Eingang Fallawe Wells“, war darauf zu lesen.
Aus der Form des Schriftstückes ging eindeutig hervor, dass es sich hierbei um eine traditionelle Herausforderung zu einem Kampf mit dem Paya- Schwert handelte.
Der Zettel war nicht unterschrieben. Torrent rümpfte zuerst unwillig die Nase, doch irgendwie reizte sie die anonyme Herausforderung. Nun gut. Sie schlüpfte unter die Bettdecke und knipste das Licht ab.
Sie würde dort sein.
Die Borburry Hills waren eine kleine Hügelgruppe in der Nähe der Glargrove Forests. Die flachen Hügel waren sehr grün und hatten viele ebene Terrassen. Es war ein klassischer Kampfplatz.
Normalerweise würden bei so einem Ereignis viele Zuschauer unter den Baumgrüppchen sitzen und ihren Favoriten anfeuern, doch heute war es komplett ruhig. So lange der Herausforderer den Kampf nicht öffentlich bekannt gab, blieb er eine Sache der beiden Kontrahenten.
Bittersweet lehnte an einem Felsen und zerschnitt die Luft mit ihrem Schwert. Dieser Sieg würde an sie gehen, und wenn sie danach im Krankenhaus landen würde.
Mac saß in sicherer Entfernung auf einem Stein und schaute aufmerksam in ihre Richtung.
Die letzte Woche hatte sie täglich mit Bonco trainiert und glaubte, ziemlich gut in Form zu sein.
Die anderen Mitglieder hatten zwar bemerkt, dass irgendetwas in der Luft lag, doch sie waren viel zu sehr mit der Abwehr der Molingard-Feinde, die in den Straßen protestierten und immer rabiater wurden, beschäftigt.
Auch Bittersweet würde sie tatkräftig unterstützen. Gleich nach ihrem Sieg.
Mit der Zeit wurde sie unruhig. Torrent wollte und wollte einfach nicht aufkreuzen.
Vielleicht arbeitete sie ja tatsächlich einmal und hatte den anderen dabei geholfen, die Aufständischen zu bekämpfen. Doch Bittersweet verwarf den Gedanken sofort wieder. Torrent und ernsthaft arbeiten? Nie im Leben. Bittersweet wollte gerade damit anfangen, ihre Rivalin zu verwünschen und zu verfluchen, Mac auf einma die Ohren spitzte und unruhig zu jaulen begann.
Dann schoss er davon. Bittersweet ließ ohne zu überlegen ihr Schwert fallen und folgte ihm. Mac hielt immer wieder inne, drehte sich nach ihr um und kläffte, wie um zu bestärken, dass dies kein Spaß war.
Angst umschnürte Bittersweets Herz, als sie auf den schmalen Straßen nach Wingloff hinabrannte.
Ihre Augen begannen zu tränen, doch in ihrer Panik merkte sie es nicht. Erst als sie auf dem kleinen Platz vor dem WSU-Gebäude ankam, sah sie, dass das Haus in Flammen stand.
Bittersweet stand vor dem brennenden Gebäude, unfähig, sich zu rühren. Massen von Aufständischen hatten sich auf dem Platz versammelt. Ihr Geschrei vereinigte sich zu einem unheimlichen Summen, dass man kaum noch als menschlich bezeichnen konnte.
Die Kontraste verschwammen vor Bittersweets Augen. Da griff ein Aufständiger nach Mac, der sich zu ihren Füßen zusammengekauert hatte.
Mit einem Mal konnte sie wieder klar sehen. Mit einem gewaltigen, unerbittlichem Schlag landete ihr Fuß auf dem Kopf des Rebellen. Dieser ließ von Mac ab und fiel wimmernd zu Boden.
„Bittersweet!“ Durch den Rauch sah sie Lucid auf sich zukommen. Ihre Arme waren aufgeschürft, und sie hatte mehrere blutende Wunden. Sie keuchte und hustete.
Plötzlich machte Bittersweet wie vom Donner gerührt einen Satz. „Lucid!“ Sie schüttelte das ältere Mädchen. „Die Molingards! Sie sind alle noch drin!“, rief sie hysterisch. Lucid starrte sie entgeistert an.
Mit einem Mal begannen die beiden Mädchen zu laufen. Sie rannten zur Hinterseite des Hauses, um die Aufständischen abzuschütteln.
Das Gatter war verschlossen. Die Einrichtung, die Lucid und Razor zum Schutz der Wesen aufgebaut hatten, würden zur tödlichen Falle werden, wenn man nicht bald etwas unternahm.
Lucid nestelte an ihrer Jackentasche und kramte zitternd den Schlüssel heraus, der ihr zweimal auf den Boden fiel, bevor sie es schaffte, das Gatter zu entriegeln.
Im inneren Gehege jammerten die eingesperrten Kreaturen verzweifelt. Diesmal hielt Lucid sich nicht mit konventionellen Methoden auf. Mit einem gezielten Tritt trat sie gegen das innere Tor, das leicht nachgab.
Bittersweet konnte später selbst nicht mehr beurteilen, ob sich Lucid in diesem von Panik erfülltem Augenblick der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst gewesen war. Fest stand, dass es die einzige Möglichkeit war, die Molingards zu retten.
Diese stoben in dem Moment, in dem Lucid das Tor eingetreten hatte, panisch in alle Richtungen davon. Die meisten von ihnen rannten direkt zu den Glargrove Forests, doch einige nahmen in ihrer Verwirrung den Weg über den Platz. Ein Gebrüll erhob sich unter den Aufständischen, als die ihnen verhassten Wesen ihren Weg kreuzten. Auf der anderen Seite des Hauses hörten Bittersweet und Lucid die Schreie der Tiere, die von den Waffen der Aufständischen tödlich getroffen worden waren. Sie dachte nicht mehr nach.
Sie packte Mac und rannte blindlings den Hügel hinauf, querfeldein durch Morris und die dahinterliegenden Ortschaften, immer weiter bergauf. Als sie stolperte und mehrere Momente auf dem offenen Feld liegenblieb, hörte sie aus der Ferne das Feuerwehrsignal.
Ächzend rappelte sie sich wieder auf und lief weiter. Es heißt, in Anbetracht des Todes würden Menschen weit über ihre Fähigkeiten hinausgehen können. So ging es auch Bittersweet. Sie war nie eine besonders gute Läuferin gewesen und hatte eigentlich schon keinen Atem mehr, und trotzdem lief sie immer weiter und weiter.
In ihrem Ohr klangen immer noch die klagenden Stimmen sterbender Molingards, vermischt mit dem Geschrei der Aufständischen.
Sie lief und wusste selbst nicht, wo sie hinwollte, bis sie direkt davor stand. Die alte Hütte war um sehr viel kleiner und verfallener, als sie es in Erinnerung hatte. Es war die Hütte, in der Bittersweets Großvater bis zu seinem Tod von vor 5 Jahren gelebt hatte. Danach war die Hütte, ursprünglich ein Wochenendhaus, sich selbst überlassen worden.
Hektisch warf Bittersweet sich gegen die Tür, die wider Erwarten keinen Widerstand gab. Sie stolperte in den dämmrigen Raum und warf mit aller Kraft, die sie mit ihrer freien Hand aufbringen konnte, die Tür zu.
Zitternd sank sie auf den Boden und vergrub ihren Kopf in Macs Fell.
Die Sonne war schon am Untergehen, als Bittersweet den Kopf wieder hochhob und um sich blickte. Sie fühlte sich, als hätte man ihr sämtliche Energie abgesaugt. Der kleine Mac lag reglos in ihren Armen.
Horror stieg in ihr auf und machte sie bewegungsunfähig, bis sie realisierte, dass Mac nicht tot, sondern nur in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen war.
Vorsichtig legte sie das Geschöpf auf eine alte Decke, die im hinteren Teil des Eingangszimmers lag.
Mühsam kam sie auf die Beine und sah sich im Zimmer um. Bilder stiegen in ihr hoch, doch sie schob sie mit aller Gewalt beiseite. Sie wusste, würde sie sich jetzt mit den Geschehnissen von heute Mittag beschäftigen, würde sie durchdrehen. Und so begann sie, die einzelnen Zimmer akribisch zu analysieren.
Dennoch konnte sie das Aufsteigen von Gefühlen nicht überwinden. Hier war sie immer gerne gewesen. Es war das Haus ihrer Kindheit, ein Ort voller Magie und Zauber.
Auch jetzt fühlte sie sich innerhalb der verwitterten Holzhütte sicher und geborgen. Hier würde ihr nichts auf der Welt etwas anhaben können.
Das kleine Vorzimmer war relativ dunkel und voller Staub. Trockene Blätter, die durch das kleine offenstehende Fenster hereingeweht worden waren, lagen am Boden verstreut. Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen.
Und dort war sie, die alte geblümte Couch, der quadratische Klapptisch und das hölzerne Regal mit den vielen Gläsern und Erinnerungsstücken. Offenbar war alles noch so, wie es ihr Großvater vor Jahren bei seinem Tod hinterlassen hatte.
Das war umso besser, denn es bedeutete, dass in all den Jahren niemand auf die Idee gekommen war, sich diese kleine abgelegene Hütte näher anzusehen.
Bittersweet packte sofort zu. Aus der Besenkammer holte sie einen Eimer und einen Lappen. Sie war todmüde und ihre Glieder taten ihr weh, doch sie würde nicht schlafengehen. Noch nicht.
Am Morgen ihres sehczehnten Geburtstags erwachte Bittersweet, eingewickelt in ein dünnes Leintuch, zusammengerollt im Bett ihres Großvaters. Mac hatte sich in ihrer Armbeuge zusammengerollt.
Bittersweets tizianrotes Haar war über das schlafende Wesen ausgebreitet und schien beinahe in dessen etwas dunkleres Fell überzugehen.
Sie blieb noch ein paar Minuten liegen, bevor sie sich mit einem Ruck erhob. Sie wusste, dass es auf Dauer nicht so weitergehen konnte.
Sie würde hier bleiben, so viel war sicher. Nach allem, was menschliche Wesen an diesem Tag vor drei Wochen unschuldigen Kreaturen angetan hatten, verspürte Bittersweet nicht mehr das geringste Bedürfnis, unter ihnen zu leben.
Dennoch würde sie zumindest manchmal in die Stadt hinuntergehen und Lebensmittel kaufen müssen. Bis jetzt hatten sie und Mac sich von eingelegten Konserven ernährt, die sie im Vorratskeller gefunden hatten.
Und sie musste noch einmal zum Haus ihrer Eltern zurück, um sich von dort Kleidung und den nicht unbeträchtlichen Rest der Ersparnisse von dort holen, wenn sie auf Dauer hier oben bleiben wollte.
Immmer vorausgesetzt, ihr Haus war noch nicht längst geplündert worden.
Schön langsam sickerten die Geschehnisse von jenem Dienstag in Bittersweets Bewusstsein, doch ganz fassen konnte sie es nicht. In ihr war nur Hass, reiner, purer Hass auf die Menschen, die in der Lage waren, so etwas zu tun.
Mühsam kämpfte sie sich eine Woche nach ihrer Flucht hinunter in die Stadt. Sie erwartete Getöse, Lärm und Menschen, die immer noch hinter den Molingards her waren, ohrenbetäubend laute Geräusche.
Doch was sie sah, als sie tatsächlich am Stadteingang Wingloffs ankam, war schlimmer als all das. Die Stadt schien komplett ausgestorben. In den wenigen nicht betonierten Straßen waren Fußspuren zu sehen, Fußspuren von verschreckten Molingards, die um ihr Leben rannten, Spuren ihrer Verfolger, Spuren ihrer Verteidiger.
Bittersweet überquerte den Marktplatz. In den Fenstern erkannte sie einige Menschen, die sofort die Fensterläden zumachten, als sie sie auf der Straße sahen, voller Angst, dass es noch einen Nachschlag auf das Ereignis der letzten Woche geben würde.
Bittersweet stand mitten auf dem menschenleeren Platz, als die Angst mit einer eiskalten Klaue um ihr Herz fasste. Schwer atmend hielt sie sich die Brust und sah um sich. Niemand war hinter ihr her. Doch sie wusste nicht einmal, ob es wirklich das war, was ihr Angst machte.
In ganz Wingloff herrschte absolute Ruhe. Grabesruhe.
Bittersweet bog von der Hauptstraße ab und ging den schmalen Pfad entlang, der zur WSU führte.
Es war glühend heiß in Wingloff. Paraculiae stand im Zenit und heizte um die Mittagszeit den Steinboden so weit auf, dass man darauf Eier hätte braten können. Normalerweise würden um diese Zeit alle Menschen nachhause gehen und sich in ihren klimatisierten Wohnungen verschanzen. Niemand wäre unter normalen Umständen zur Mittagszeit auf die Straße gegangen. Doch was war jetzt noch normal?
Mit klopfendem Herzen erreichte sie endlich das WSU-Gebäude. Dumpfe Taubheit überwältigte sie, als sie die verkohlten Mauerreste vor sich aufragen sah. Wie benommen taumelte sie auf die Ruine zu.
Doch plötzlich sah sie eine kleine hölzerne Tafel in einer ehemaligen Mauernische. Diese war vorher noch nicht dort gewesen. Plötzlich war Bittersweet wieder hellwach. Mit weit aufgerissenen Augen ging sie auf die Tafel zu.
Als sie jedoch näher kam, stieß sie einen lauten Schrei aus. An dem Holztäfelchen hing, mit einer dünnen Schnur befestigt, ein kleiner Goldreif. Unter der Tafel waren kleine Pallablumen gestreut. Ihre blausilbernen Köpfe schienen trauernd auf der Erde zu liegen.
Zitternd griff sie nach dem Goldreif und drehte ihn. Auf der Innenseite war das Zeichen der WSU eingeritzt.
Jetzt bestand also kein Zweifel mehr. Schluchzend kniete Bittersweet auf Swifts Grab.
Die nunmehr 19jährige Bittersweet saß immer noch auf der Parkbank und sah liebevoll auf das im Gras eingerollte Wesen.
Es war seltsam: Sie saß auf einer sonnigen Bank im Park und hing schrecklichen Erinnerungen nach, die der Großteil der Bevölkerung vergessen hatte, obwohl die Polizei die mutmaßlichen Aufrührer damals verhaftet hatte. Und obwohl sie bei diesen Erinnerungen immer das Gefühl hatte, diese Geschehnisse wären nicht ihr, sondern einer anderen Person widerfahren, blieb ein dumpfes Gefühl der Angst. Und gleichzeitig der überwältigende Wunsch, das kleine, zu ihren Füßen schlafende Geschöpf zu verteidigen und zu beschützen.
Just in diesem Moment wachte Mac auf und streckte sich. Ein überwältigendes Glücksgefühl überkam Bittersweet, als das kleine Wesen mit seinen schwarzen Augen vertrauensvoll zu ihr hochsah.
Sie holte einen Cracker aus ihrer Handtasche und gab ihn Mac, der langsam und bedächtig darauf herumknabberte, ihn jedoch wie immer nie ganz aufaß.
Er und Bittersweet hatten über zwei Jahre im Haus von Bittersweets Großeltern zugebracht. Die ersten Wochen waren Bittersweet so vorgekommen, als erlebe sie all dies im Delirium. Das Haus auf Vordermann bringen, alle Vorräte aus dem Haus in der Stadt hierher schaffen. Und bei all dem bloß nicht an das zurückdanken, was passiert war. Und doch kehrte alles wieder, wenn Bittersweet sich nach einem langen Tag endlich ins Bett fallen ließ. Oft sah sie Lucid, Lilac, Razor und die anderen in ihren Träumen, und immer senkte sich ein schwerer, blauer Schleier über diese, immer endete der Traum damit, dass sie alle weggingen. Und tatsächlich hatte Bittersweet nie wieder einen von ihnen gesehen.
Irgendwie hatte sie es trotz allem geschafft, das alles zu überstehen. Oft genug war sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs gewesen. Abgesehen von Mac völlig auf sich alleine gestellt in einer Waldhütte zu wohnen forderte ihre Tribute. Bittersweet fand im Vorratskeller ihres Großvaters dessen starke, selbstgedrehte Zigaretten. Oft war sie abends alleine auf der Veranda gesessen, hatte massenhaft geraucht und all denen, die Swift und seine Artgenossen umgebracht hatten, blutige Rache geschworen. Mit der Zeit schwang diese Rachsucht in Verzweiflung und schließlich in neuen Lebenswillen um.
Kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag war Bittersweet nach langem Überlegen mit Mac ins Stadthaus ihrer Eltern zurückgekehrt. Vielleicht noch ein, zwei Jahre, dann würden ihre Eltern zurückkommen. Und sie sollten keine Tochter vorfinden, die sich verzweifelt und verbittert vor der Welt zurückgezogen hatte.
Die Molingards waren an jenem schicksalhaften Dienstag geflüchtet und seither nicht wieder gekommen. Sie waren wieder in die Glargrove Forests zurückgekehrt, und Bittersweet und einige wenige andere Menschen waren die einzigen, die noch eines davon bei sich hatten. Die Wesen wurden lange versteckt gehalten, und bis heute kostete es Bittersweet einiges an Überwindung, Mac beim Spazierengehen auch nur wenige Sekunden aus den Augen zu lassen. Irgendetwas war geblieben, etwas, dass sie veranlasste, fünfmal zu kontrollieren, ob die Haustür auch wirklich abgeschlossen war, wenn sie Mac alleine daheim ließ.
Aber immerhin hatte sie eine gutbezahlte Stelle bei der Wingloff Press gefunden, für die sie Recherchen machte und Artikel verfasste.
Es war bereits sieben Uhr abends, und der Park war in rötliches Licht getaucht. Bittersweet schloss die Augen und atmete die angenehm warme Luft ein.
Ein paar Meter von ihr entfernt schichtete ein junges Mädchen in Arbeitskleidung gemähtes Gras auf einen Haufen. Und da war es plötzlich, dieser Geruch von gemähtem Gras, frisch und zugleich ein bisschen süß. UNd als er Bittersweet in die Nase stieg, war auf einmal alles wieder da: Das prachtvolle WSU-Gebäude, die im Garten spielenden Molingards, Razor, der zusammen mit Spider das gemähte Gras, nach dem es in den Sommermonaten im gesamten Garten roch, in eine Schubkarre hievte. Und da war dann noch der kleine, verträumte Wildfang mit den roten zerzausten Haaren, der am Fenster stand und die Szene, etwas in Tagträumen verloren, betrachtete.
Bittersweet lächelte, und als sie die Augen öffnete, meinte sie für einen Moment, auf der Bank vor dem WSU-Gebäude zu sitzen.
Schließlich stand sie auf und trat, gefolgt von Mac, ihren Heimweg an. Der Park leerte sich.
Ein kleines schwarzes Wesen hüpfte aus dem Gebüsch hinter Bittersweets Parkbank hervor und zerrte Macs übriggelassenen Cracker davon.