Aaron's Fahrt
Aaron's Fahrt
Pflanzen, vereinzelte Menschen, durchwachsen mit Asphalt und gespickt mit kleinen, wohnhaften Häuserblocks, der Wechsel von reiner Natur und von Menschen geschaffener Gebäude, wucherndes Wachstum im Kontrast mit Struktur und Integrität... Aaron sah die Welt vor dem Fenster der Bahn vorbeirasen, sein Blick blieb für einen Moment an jedem interessanten Detail hängen um sich daraufhin zu verlieren und auf den nächsten sehenswerten Fixpunkt zu warten. Glücklicherweise gab es viele davon. Genug, meistens. Zuviel, manchmal, Die Welt war schön, interessant, faszinierend und packend. Und manchmal zuviel von alldem.
Aber nicht heute. Aaron atmete für einen Moment durch, entspannte die Augen und widmete sich erneut der Aussicht. Noch 2 Haltestellen, dann würde seine Bahn in Dortmund eintreffen und ihn von der angenehmen Beobachterposition in der Stille der Bahn in einen kochenden Hexenkessel aus Stimmen und Menschen, Dingen, Farben und Formen werfen. Er wusste das. Und obwohl er es schon zahllose Male erlebt hatte und sich Mühe gab es als normal zu empfinden, waren ihm Hauptbahnhöfe jeder Art zuwider.
Ein leises Knacksen über ihm ließ Aaron aus seinen Gedanken schrecken. Es war das Geräusch eines Tonbandes das zuerst eingeschaltet worden war, gefolgt von einem deutlich wahrnehmbaren Luftzug, den die Sprecherin tat um im nächsten Augenblick ihre wichtige Ankündigung durch das gesamte Abteil erschallen zu lassen.
„Nicht meine Haltestelle. Die danach.“, dachte Aaron. Er rieb die Hände aneinander, bemerkte dass sie sich verschwitzt anfühlten und trennte sie wieder voneinander. Wenn er seine Handflächen auf die Knie legte konnte er sich genau so gut festhalten und niemand würde es bemerken.
Vor dem Fenster veränderte sich die Landschaft, wurde von einer bewachsenen Wildnis mit Stippen menschlicher Zivilisation zu einem wahren Dschungel aus Dingen, Menschen, Gebäuden, Plakaten und Werbeanzeigen, bunter Kleidung und noch bunteren Autos. Dieser Wandel hatte immer etwas faszinierendes, er konnte spüren wie die Welt um ihn lebendiger, städtischer, leider auch hektischer und belangloser wurde. Seine Haltestelle war gleich erreicht. Sie lag in der Mitte des Chaos, wie ein Herrscher über seinen hin- und herflitzenden Untertanen thronte.
Amüsiert betrachtete Aaron die wenigen Menschen die mit ihm im Abteil saßen, versuchte abzuschätzen ob sie gleich aufstehen und aussteigen würden oder ob sie noch ein paar Haltestellen vor sich hatten. Einige sahen sich nervös um, so als wollten sie mit einem Blick um sich die Durchsage als wahr bestätigen und sich selbst beweisen, dass sie auch tatsächlich schon da waren. Andere klammerten ihre Rucksäcke und Tragetaschen an sich oder steckten Bücher weg, um auch rechtzeitig aufstehen und die Bahn verlassen zu können sobald sie hielt.
Die Fahrt verlangsamte sich als der Bahnsteig näher kam, und einige Passagiere versammelten sich bereits an den Türen, scheinbar um möglichst schnell ins Freie zu gelangen. Sie hatten bestimmt alle mehr oder weniger dringende Termine, Verabredungen oder auch nur Vorhaben und die Bahn hielt sie durch die Tatsache dass sie sich einfach weigerte bereits eingetroffen zu sein davon ab, diesen nachzugehen.
Was Aaron an Haltestellen am meisten missfiel war die Tatsache dass es sich nicht mehr lohnte nach draussen zu sehen. Anders als mitten in der Fahrt warteten nun neugierige Blicke am Bahnsteig darauf, den seinen zu erwidern, dann womöglich einzusteigen und ihn für die verbleibende Fahrt wie einen Fremdkörper anzustarren.
Also senkte er den Blick, starrte auf das Sitzpolster der gegenüberliegenden Bank und folgte der gelben Naht die sich unregelmäßig über das orangene Sitzpolster zog. Am Fenster war das Polster tiefer eingedrückt, das billige Kunstleder der Sitze mehr zerbrochen als das daneben. Vermutlich waren Fensterplätze beliebter.
Der Ruck mit dem die Bahn bremste ließ zuerst den Wagen erzittern, dann ihn selbst.Vor dem Fenster standen nun zahllose Menschen die auch alle zum Hauptbahnhof wollten und sich dafür auch in die Bahn drängen würden, wenn sie die Türen öffnete. Ein junger Mann mit leuchtend rotem Pullover und ähnlich leuchtender, blauer Jeans drückte von innen die Tür auf und ließ den Strom aus Menschen herein während er selbst ohne zurückzublicken den Bahnsteig entlang schlenderte.
Zusammen mit den Menschen stieg auch die Lautstärke ein. Vier Schulkindet die es sich auf dem Vierersitz auf der andren Seite bequem gemacht hatten, diskutierten lautstark darüber, welche Pokémon Edition die bessere sei und warfen sich gegenseitig Fakten und Daten an den Kopf, um ihre Auffassung zu beweisen. So sehr Aaron laut durcheinander redende Menschen verabscheute, er konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Als er klein war, hatten er ähnliche Gespräche mit seinen Freunden geführt und er konnte die Spannung die sich aus einer solchen Diskussion ergab durchaus nachvollziehen.
Direkt an der Tür stand ein hochgewachsener Jugendlicher der sich offenbar Mühe hab möglichst missmutig um sich zu blicken. Unter seinem kahlrasierten Kopf und dem schlanken Hals prangte auf einem weissen Pullover der schwarze Schriftzug „Lonsdale“ und liess damit mehr über den Träger der Kleidung vermuten als die meisten Menschen sich in dem Moment zugestehen würden. Aaron suchte die Schuhe des Anderen und war nicht weiter erstaunt darüber dass er weisse Schnürsenkel trug. Die Schuhe selbst, Sneakers in den Farben rot und schwarz, wirkten unpassend aber durch die Farbgebung war es sehr wahrscheinlich dass sie doch bewusst dazu gewählt worden waren.
Weiter hinten unterhielt sich eine alte Frau mit Kopftuch mit einer jüngeren Frau mit Kopftuch. Die alte trug ein seltsam anmutendes pink-farbenes Tuch mit gelblichen Stippen, was sie eher aussehen ließ als trüge sie eine Tischdecke auf dem Kopf. Die jüngere war offenbar modebewusster, hatte die Farbe ihres Tuches passend zu ihrer grünen Kleidung gewählt. Aaron verstand nicht wovon die beiden reden, vermutete aber aufgrund der hektischen Sprechweise und Mimik und Gestik dass sie in einen Streit oder eine hitzige Diskussion vertieft waren.
Aaron suchte sich einen neuen Fixpunkt und fand ihn in Form des Mülleimers unterhalb des Fensters. Zwischen dem grauen, kühlen Metall ragte ein Zipfel gelb hervor. Jemand hatte seinen Müll offenbar eingeworfen ohne sicherzustellen dass er auch ganz drin war. Aaron dachte für einen Moment drüber nach ob er den Behälter öffnen und den Inhalt besser anordnen sollte, verwarf den Gedanken aber dann wieder. Man würde ihn nicht verstehen und er wollte nicht seltsam angeschaut werden.
Die Ankündigung seiner Haltestelle ließ Aaron sich vom Problem des Mülleimers losreißen. Es wäre am einfachsten, sich jetzt sofort an die Tür zu stellen, nach draußen zu sehen und auf den Halt zu warten. Aber dann würde hinter seinem Rücken vieles passieren, das er nicht sehen konnte. Vielleicht interessantes, vielleicht auch dummes. Vielleicht würde man ihn abschätzig betrachten für seine eigentlich normale aber doch dezent andere Art zu Laufen. Vielleicht könnte man ihm seine Gedanken und seine Unsicherheit ansehen. Vielleicht würde sich jemand neben ihn stellen, ohne böse Absicht und einfach nur weil es auch seine Halstestelle war. Aber doch präsent. Zu Gedanken einladend.
Aaron zwang sich das Denken einzustellen, schlug mit beiden Handflächen auf das Sitzpolster neben sich und nutzte den Schwung der Bewegung um die Knie durchzustrecken. Er stand ohne dass er seine Knie angestrengt hätte, und obwohl die Bewegung sich außerordentlich effektiv und effizient anfühlte, hatte er das Gefühl dass sie seltsam war. Um nicht weiter darüber nachzudenken lief er mit wenigen Schritten bis zur Tür, stellte sich direkt davor und zwang seine Aufmerksamkeit auf die Landschaft hinter der Glasscheibe, zwischen den eisernen Türen.
Mit einem leicht wehmütigen Ziehen irgendwo zwischen Kopf und Herz stellte Aaron fest dass die Ruhe nun vorbei war. Die Bahn verlangsamte sich bereits, die Strecke veränderte sich von „Gleis das durch die Landschaft verlegt wurde“ zu Hauptbahnhof und zusammen mit einer allgemein anschwellenden Unruhe versammelten sich nach und nach andere Mitfahrende hinter Aaron. Es war auch ihre Haltestelle denn es war die letzte. Allein sie zu hören war für Aaron bereits anstrengend aber er war froh, sie nicht sehen zu müssen, sich mit den Gedanken nach draussen richten zu können. Mit einem vertrauten Ruck hielt die Bahn an und die Menschen um ihn erfasste eine Dynamik die das Gefühl vermittelte, dass sie lang genug gewartet hatten und nun nach draussen drängen wollten.
Aaron drückte den Schalter, atmete noch einmal tief durch und trat durch die sich öffnenden Türen, hinaus in die Menschenmenge. Jetzt bloss nicht vergessen wofür du hier bist, Aaron. Er nickte unmerklich und ging los.
Die Stadt schlug wie eine große Welle über ihm zusammen.