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Abendbild
Es ist ein Abendbild. Ich habe nicht gewusst, dass es so etwas gibt, aber es ist, wie es ist: Das Bild verändert sich abends. Tagsüber, da sieht es so aus oder so, da sieht es einfach irgendwie aus, da ist es Farbe auf Leinwand, da sind es Kohlestriche, aber abends verändert es sich, es wird mehr, es wird tiefer und höher, es wird dunkler, es wird Landschaft, es wird Erde, Himmel, Stein.
Mein Vater brachte einen Kaktus mit in die Ehe, einen Kaktus mit vielen langen Stacheln, grün und fleischig, längliche Stämmchen, kleine Auswüchse an den Seiten. Man könnte meinen, es gäbe Besseres, dass man mit in eine Ehe bringen kann, als ausgerechnet einen Kaktus, der, rein symbolisch gesehen, zumindest in unserer Kultur, nicht den glücklichsten Wert hat, auch wenn so ein Kaktus natürlich für lange Lebensdauer steht und zähen Überlebenswillen. Der Kaktus war auch nicht das Einzige, was mein Vater mit in die Ehe brachte, eher war er das genaue Gegenteil, sozusagen der Gegenpol auf einer Prioritätenskala, wenn man "Das Einzige" als den Punkt der höchsten Priorität besetzt. Der Kaktus war irgendwie auch dabei, bei all den Dingen, die er als Junggeselle in 30 Jahren angesammelt hatte und dann mit in die Ehe brachte, zumal die Notwendigkeit des sonst obligatorischen Ausmistens wegfiel, da er von einer Wohnung in ein Haus zog. Dinge, die sonst aus Platzgründen den Weg ins neue Heim nicht gefunden hätten, huschten heimlich mit in die Kisten, hingen wie Kletten an der Bequemlichkeit.
Der Kaktus war zu diesem Zeitpunkt schon etwa acht Jahre alt und hatte bis dahin nichts anderes getan, als ein grüner Kaktus mit langen Stacheln zu sein. Mein Vater hatte ihn, wie er mir später erzählte, auf dem Rummel gewonnen, an einem dieser Stände, die Blumenlose, nicht Blumen lose, verkauften, was immer eine gute Gelegenheit war, einem Mädchen günstig eine schöne Blume zu ergattern. Es war 1967, erzählte er, man konnte die Mädchen damit beeindrucken, ihnen Plastikblumen zu schießen, Lebkuchenherzen zu kaufen oder eben Topfpflanzen zu losen, die diese dann jeweils stolz für den Rest des Abends über den Festplatz trugen. Mein Vater hatte verschiedene Töpfe bei verschiedenen Mädchen stehen, manche noch grün, manche nicht, das wusste er damals nicht so genau. Die Pflanze dieses Abends trug mein Vater im Arm, nicht stolz, sondern verschämt, nachdem er sich vom Blumenmann ein paar Seiten Zeitungspapier hatte geben lassen, um sie gut einzuwickeln. Sein Mädchen knabberte am Lebkuchenherz. Der Kaktus war die erste Pflanze vom Blumenlosmann, über deren Zustand mein Vater in den nächsten Jahren genau Bescheid wissen sollte, denn er stand immer auf seiner Fensterbank.
Wenn das Licht von der Seite auf das Bild fällt, scheinen sich Gänge zu öffnen, scheinen sich Falten aufzuwerfen und tiefe Schnitte einzukerben. Feiner Kohlenstaub schwebt leise vor der Oberfläche, aufgeschreckt durch die Bewegungen, die das Licht auf der Leinwand trommelt, sachte, ganz sachte, dann stärker, stärker, bis die Leinwand vibriert und kleine Farbstückchen abplatzen, die Gänge nach innen fallen und die Falten Wirbel legen, die Fläche nicht länger flach ist, Schatten auf dem Boden, ein Schemen hinter der Ecke.
Ich stehe in der weißen Landschaft, lautlos rieselt Schnee auf die grauen und schwarzen Brocken und Blöcke, die in der Ebene liegen, gleich Ruinen von Ruinen, vor langer Zeit einmal Häuser und Städte, Stätte der Menschen, jetzt tot. Brocken, manche faustgroß, manche groß wie Kälber, wie Mammuts, liegen verstreut, lassen nichts mehr erahnen von ihrer ehemaligen höheren Form. Ein schwerer Geruch nach Kohle macht das Atmen schwer, die Luft schmeckt kalt und rußig, es ist kein Laut zu hören in dieser Welt ohne Horizont, die sich in weißen Schleiern rund um mich verliert. Als ich mich in Bewegung setze, machen meine Schuhe im frischen Schnee keine Geräusche, vielleicht bin ich taub? Ich muss husten wegen der Kohlenluft, es klingt wie Pistolenschüsse, wie Donnerhall in der absoluten Stille, ich bin nicht taub.
Ich fragte ihn, warum er den Kaktus nicht weggeworfen hätte, wenn der doch praktisch eine Niete war, worauf mein Vater antwortete, er wüsste es nicht, vielleicht hätte er es immer wieder vergessen, er hätte es oft vorgehabt, aber dann nicht mehr daran gedacht. Am Anfang war der Kaktus ganz klein, kaum handbreit, aber in den Jahren wuchs er heran, langsam, aber ausdauernd, ganz nach Kakteenart, wurde er so groß wie eine Handlänge, dann wie zwei, bis er zu dem Zeitpunkt, als mein Vater ihn mit in die Ehe brachte, schließlich etwa Unterarmlänge erreicht hatte. Das war alles, was er getan hatte in acht Jahren, von Handbreite auf Unterarmlänge wachsen. Und dann wuchs er nicht mehr. Dafür wuchsen ihm Ableger an den Armen, die, wenn man sie nicht rechtzeitig abdrehte, von selbst abfielen und von der Fensterbank auf den Boden rollten. Nachdem der Fuß meines Bruders einmal schmerzhafte Bekanntschaft mit solch einem davon gerollten Ableger gemacht hatte, verlor der Kaktus seinen privilegierten Platz am Wohnzimmerfenster und wanderte erst einmal, es war Sommer, nach draußen auf die Veranda, bis sich ein besserer Platz für ihn finden würde. Bis zum Herbst hatte sich noch keiner gefunden und auch beim ersten Schnee stand der Kaktus auf demselben Platz links neben der Veranda, an der Hauswand, auf dem Lichtschachtgitter. Meine Mutter sagte später, sie habe ihn hereinholen wollen, aber es dann einfach vergessen, obwohl ich ihr nicht glaubte, denn sie hasste „das Ding“, wie sie den Kaktus immer nannte, sie hasste ihn im gleichen Maße wie er meinem Vater gleichgültig war, sie hasste ihn für seine Existenz, die darin bestand, in acht Jahren 30 cm zu wachsen, und ansonsten einfach dazusein, mit der ihm eigenen unaufdringlichen Penetranz, sie hasste ihn für seine neue Bestimmung, unablässig Ableger zu produzieren und sein Wesen damit weiter zu verbreiten, seine grüne stachelige Hässlichkeit zu vervielfältigen, sie hasste ihn dafür, dass mein Vater immer wieder vergessen hatte, ihn wegzuwerfen. Vielleicht hatte sie ihn draußen vergessen, vielleicht hatte sie aber auch die Hoffnung, dass der Winter das Vergessene der vergangenen Jahre endlich erledigen würde.
Der Block ist schwarz, kalt, er fühlt sich an wie schwarzes Eis, so kalt ist er, aber rau, bröckelig, wenn ich mit der Hand über seine schräge Oberfläche fahre, rieseln kleine Stücke auf den Boden in den Schnee. Meine Handfläche ist schwarz, schmierig. Ich wische sie an der Hose ab, aber sie bleibt schwarz. Ich gehe weiter, mit jedem Schritt wirbeln Schneeflocken um meine Schuhe, der Boden darunter ist schwarz, ich schaue hinter mich und sehe schwarze Fußspuren, die von mir wegführen. Ich komme zu einem Brocken, groß wie ein Elefant, zerfurcht, treppig, winklig, und fange an zu klettern. Meine Hände und Hose sind sofort schwarz, rußig, nass vom Schnee, ich rutsche zweimal fast aus, schließlich stehe ich oben und schaue, schaue in die weite Landschaft und sehe alles, sehe nichts, sehe, was ich fürchtete zu sehen, schwarz und weiß, ohne Ende, ohne Anfang.
Der Winter vergaß den Kaktus, so wie zuvor mein Vater ihn vergessen hatte, so wie meine Mutter vorgab, ihn vergessen zu haben. Als im Frühling der Schnee schmolz und es wieder wärmer wurde, stand der Kaktus an seinem Platz neben der Veranda und war so grün wie immer. Meine Mutter ließ ihn zur Strafe das gesamte Jahr dort stehen, goss ihn nie und wartete auch den nächsten Winter ab. Als der Kaktus, nun an die elf Jahre alt, auch nach diesem Winter nichts von seinem Grün verloren hatte und im Gegenteil im Frühling als einer der ersten mit dem Austreiben von Ablegern begann, musste meine Mutter ihm scheinbar doch ein gewisses Maß an Respekt zollen, denn sie holte ihn wieder ins Haus, zwar an ein Fenster im Erdgeschoss, Nordseite, aber immerhin gestand sie ihm wieder Raum im Innern zu, statt ihn für seine fast arrogant zur Schau gestellte scheinbare Unsterblichkeit endgültig zu entsorgen. Ab jetzt blickte der Kaktus in unseren Vorgarten, was qualitativ nicht an die alte Aussicht aus dem Wohnzimmerfenster im ersten Stock heranreichte, aber er schien zufrieden, jedenfalls tat er genau das, was er zuvor getan hatte, er ließ sich Ableger wachsen und sie herunterpurzeln. Meine Mutter gestand ihm nun auch einen Schluck Wasser in der Woche zu und, was mich damals sehr wunderte, sie pflanzte die Ableger ein, statt sie wie früher wegzuschmeißen. Es sei doch schade drum, sagte sie, so ein Ableger sei doch eine wertvolle Sache.
Ich weiß nicht, wie weit ich gegangen bin, wie lange, es ist immer gleich hell, es gibt keine Sonne, es ist alles milchig, alles dunstig, die Spuren führen weg von mir, die schwarzen Spuren im Schnee, in der Lunge brennt die Luft, der Ruß, mein Atem rasselt und pfeift, die einzigen Geräusche. Jeder Schritt, weiß ich, bringt mich weiter weg von meinem Ausgangspunkt, doch der Ausgangspunkt war kein Anfang, kein Eingang, er war mittendrin, so wie hier, egal wo, egal wie lange, ich bin immer hier. Schwarzer Fels, Ruinen von Ruinen, bedeckt, getränkt mit der Asche des verbrannten Lebens, selbst verbrannt, durch Feuerstürme gejagt, Asche zu Asche. Weißer Schnee, der versucht, das Schwarz zu verdecken, gnädig das Auge und die Seele schonen will, Abkühlung nach dem Feuer, macht es noch schlimmer, die schwarzen Brocken lassen sich nicht verdecken, schütteln grimmig die Flocken ab, treten umso stärker und größer hervor auf der weißen Fläche. Ich stehe, keuche, schwanke, setze mich in den Schnee, hier ist die Luft besser, lässt sich leichter atmen, mein Atem rasselt nur noch leicht, ich lausche, höre, ich höre, ich kann hören.
Sie verschenkte die Ableger an Freunde und Bekannte, denn, wie man weiß, so ein Kaktus ist ein treuer Begleiter über Jahre, auch sehr pflegeleicht. Der alte Kaktus stand auf seinem Fensterbrett im Erdgeschoss und war, er war einfach, nicht mehr, nicht weniger. Er fiel einmal, es war 1981, drei Jahre, nachdem er sich seinen Platz im Haus durch seine Beharrlichkeit im Überleben zurückerkämpft hatte, und 14 Jahre nach dem Kauf des Blumenloses, zu Boden, als mein Bruder das Fenster öffnete, um eine Couch hindurchzuwuchten, was zur Folge hatte, dass der Kaktus von diesem Zeitpunkt an Schieflage bekam und sich am Fensterrahmen anlehnen musste, aber er reproduzierte sich weiterhin ohne Anzeichen von Altersschwäche. Er wurde einmal die Woche gegossen, manchmal auch nicht, machte Ableger, war ein schiefer grüner Kaktus, der vor allem eines tat, in Vergessenheit geraten, so leicht, wie nur die Dinge, die täglich vor unseren Augen sind, in Vergessenheit geraten können.
Weit weg rollt die Brandung, ich kann sie hören, das Meer. Ich springe auf und renne, renne in die Richtung, aus der das Rauschen kommt, weit entfernt, aber so nah, ich springe über einen flachen Brocken, renne um einen anderen herum, bremse, rutsche aus, drehe mich um mich selbst, falle schreiend und rudernd in den Schnee. Eine Armlänge entfernt endet der Boden, dahinter ist weißes Nichts, die Kante zieht sich nach rechts und links endlos. Auf ihrer ganzen Länge bröckelt sie ab, rollt sich krachend und tosend in den Abgrund, ich robbe an den Rand, will hinunterschauen, da stöhnt es hinter mir auf. An den Felsen gelehnt sitzt dort ein Mann, den Mund schmerzvoll verzerrt, wie zum Schrei aufgerissen, aber es kommt nur das Stöhnen heraus, vor sich auf den ausgestreckten Beinen hält er ein silbernes Tablett, er hält es mit beiden Händen, darauf liegen seine Augen, seine leeren Augenhöhlen starren mich an, ich starre zurück. „Willst du es sehen?“ schreit er über das Tosen hinweg. „Ich habe es gesehen! Willst du es sehen?“ Er streckt mir das Tablett entgegen. „Willst du es sehen? Ich habe es gesehen!“ Er lässt das Tablett fallen, die Augen rollen davon, er hat ein Messer in der Hand, er brüllt „Willst du es sagen? Ich habe es gesagt!“ Er greift mit der Linken in seinen Mund, zieht die Zunge heraus, schneidet sie mit der Rechten ab, hält sie mir hin, rotes Blut tropft in den weißen Schnee, er brüllt wie ein Stier, Blut spritzt aus seinem Mund, er schleudert die Zunge in meine Richtung, schreit in meinem Kopf „Ich habe es gefühlt! Willst du es fühlen?“, sticht sich in die linke Brust, ruckt und schneidet, wühlt, reißt sein Herz heraus, es ist trocken, erfroren, streckt es mir entgegen, brüllt unablässig in meinem Kopf „Willst du es fühlen? Ich habe es gefühlt!“, windet sich, wirft sich vor und zurück, fällt vornüber und liegt still.
Meine Mutter rief laut, das könne es doch gar nicht geben, das müsse man sich anschauen, sie glaube, sie spinne. Sie stand in der Tür zum Zimmer mit dem Fenster, an dessen Rahmen sich der Kaktus lehnte, hielt die Gießkanne aus Zink in der Hand, aus der leicht das Wasser auf den Teppich tropfte, und rief unablässig, das könne doch nicht wahr sein, jetzt schaue sich einer dieses Ding an. Es war ein Abend im August 1990, 23 Jahre nach dem Blumenlosmann, nach zwei Sommern und zwei Wintern auf der Veranda, nach dem Sturz vom Fensterbrett, der ihm das Rückgrat brach, nach Jahren in schiefer Vergessenheit, als der Kaktus eine rote Blüte trug, die im schrägen Licht der Sonne wie ein Rubin leuchtete. Noch nie hatte ich etwas derart Schönes gesehen, und wir alle, mein Vater, mein Bruder, ich und besonders meine Mutter, standen sprachlos und lösten uns erst aus unserer Erstarrung, als die Sonnenstrahlen versiegten und der Rubin erlosch. Meine Mutter drehte sich zu mir um und obwohl sie schnell blinzelte, sah ich es in ihren Augenwinkeln glitzern. Mein Vater ging wortlos zur Fensterbank, nahm den Topf vorsichtig hoch, meine Mutter sprang ihm zur Seite und stütze den Kaktus mit ihrer Gießkanne und gemeinsam trugen sie ihn, langsam wie einen alten Menschen, einer Prozession nicht unähnlich, durch die Tür, die Treppe hinauf und bis zu seinem alten Platz im Wohnzimmerfenster.
Die Stille ist wieder absolut, das Tosen ist verstummt, ich drehe mich um und sehe keinen Abgrund mehr, nur Weite, Ebene, weiß und schwarz, schwarze Spuren, die zu mir führen. Ich drehe mich um, der Mann ist weg, unberührter Schnee, der lautlos fällt, weiß und schwarz.
Der Kaktus, der nun "Unser Kaktus" war, man stelle sich das vor, erzählte meine Mutter ihren Freundinnen in den folgenden Tagen oft, da stehe er jahrelang einfach nur rum und sei nur grün und dann blühe Unser Kaktus plötzlich, könne man sich das vorstellen, dabei sei er zwei Winter draußen gewesen, der Kaktus blühte genau acht Tage, dann begann die Blüte zu welken, das Rot wurde immer brauner, bis sie schließlich fast schwarz aussah, bevor sie abfiel. Es kam keine weitere. Der Kaktus wurde über Nacht braun und alles Gießen und Düngen brachte nichts, so langsam er in den Jahren zuvor gewachsen war, so schnell starb er nun, aber mit dem gleichen stoischen, von äußeren Einflüssen unabhängigen Eigensinn, und elf Tage nach dem Aufblühen war der Kaktus tot.
Tagsüber, da sieht es so aus oder so, da sieht es einfach irgendwie aus.