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Abendzug

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15.03.2006
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Abendzug

Es war 21:04 Uhr, als ein alter, gebeugt gehender Mann den zweiten Wagen der U-Bahn bestieg. Auf seinem Rücken trug er einen schon recht mitgenommenen, dunkelblauen Rucksack und seine von Falten überzogene, knochige Hand tastete sich von Haltestange zu Haltestange. Sein Gang machte ihn noch etwas kleiner und zerbrechlicher, als er ohnehin schon war und es schien, als würde das Gepäckstück ihn im nächsten Moment in den Boden drücken. Sein Gesicht wirkte müde und von den Jahren gezeichnet, die Mundwinkel waren leicht nach unten gebogen und in seinen Augen konnte man die Resignation vor der eigenen Vergänglichkeit erkennen.
Mühsam kämpfte er sich durch die Reihen des beinahe leeren Wagons. Im hinteren Teil erkannte er einige Jugendliche, die sich laut mit ihren Bierflaschen zuprosteten und das gesamte Abteil wie selbstverständlich für sich zu beanspruchen schienen. Für einen Moment krampfte sich sein Magen zusammen und er fürchtete, dass die Halbstarken ihn belästigen könnten. Man kannte ja die Berichte aus den Zeitungen. Etwas verärgert über seine Furcht rief er sich selbst zur Ordnung und erinnerte sich an seine eigene Jugendzeit. Einen Augenblick lang wunderte er sich darüber, dass er sich noch so gut daran erinnern konnte, obwohl dieser Lebensabschnitt Ewigkeiten zurück lag.
Seine alten, melancholisch wirkenden Augen erfassten die andere Person, die sich außer den Jugendlichen noch im Wagen befand. Reglos saß sie auf einem Sitz und blickte durchs Fenster in die Finsternis. Wie jeden Mittwochabend.
Der Mann beschleunigte seinen Schritt, als er hörte, wie sich die Türen schlossen, tastete sich schneller auf die der Frau gegenüberstehenden Sitze zu. Sein linkes Bein begann gegen den hastigen Gang zu rebellieren, berief sich auf sein Alter und das damit einhergehende Recht auf bedächtige, standesgemäße Geschwindigkeit. Für einen kurzen Moment erwartete er den Ruck der anfahrenden Bahn, die seine Beine überwältigen und ihn zu Boden werfen würde, doch noch eher er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, fassten seine Hände die letzte Haltestange.
„Guten Abend, darf ich mich hier hin… Marie?“
Aus ihren Gedanken gerissen blickte die grauhaarige Frau auf, während er sich – keine Sekunde zu spät – auf dem Sitz ihr gegenüber niederließ. Eine Sekunde lang starrte sie ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger über die Störung an, dann erhellte sich ihr Blick und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Egon! Meine Güte was machst du denn hier?“
Obwohl das Alter sie brüchig gemacht hatte, war ihre Stimme noch immer wohlklingend und früher hatte in ihr diese unterschwellige Erotik mitgeschwungen, die einen Mann unwillkürlich in ihren Bann zieht. Lächelnd blickte er sie an. Selbst die zahlreichen Falten, die inzwischen ihr Gesicht zierten, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, was für eine Schönheit sie gewesen war. Natürlich waren ihre Lippen nicht mehr so voll und geschwungen und auch der einst makellose, elfenbeinfarbene Hals hatte sich der alternden Haut ergeben müssen, doch ihre inzwischen ins Blaugrau übergegangenen Augen konnten noch immer mühelos mit den funkelnden Steinen mithalten, die sie um den Hals trug. Für einen Augenblick spürte er, wie die wohlige Wärme nie ganz vergessener Gefühle ihn durchströmte.
„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Wie geht es dir?“
Ihr Gesicht strahlte eine unbeschwerte Begeisterung, eine beinahe kindliche Leichtigkeit aus, die ihr Gegenüber umgehend einhüllte und in eine andere, eine schönere Realität entführte, als die Welt sie bieten konnte. Selbst die unbarmherzigen Spuren menschlichen Verfalls, denen ihre fleischliche Hülle nicht hatte entgehen können, hatten es nicht vermocht, ihre Ausstrahlung unter der Zeit der verflossenen Jahre zu begraben.
„Naja, man wird jeden Tag etwas älter, nicht wahr?“
Er lachte und versuchte, vor ihr zu verbergen, wie schwer sein Atem war und wie sehr der schnelle Gang durch den Wagon an seinen Kräften gezehrt hatte. Sie stimmte in sein Lachen mit ein und wenn sie es bemerkt hatte, war sie doch viel zu sehr Dame, um es zu zeigen.
„Und wie geht es dir? Was tust du überhaupt hier?“
„Oh, Mittwoch abends ist immer Bridge bei Elke. Du kennst doch Elke noch, oder?“
„Natürlich.“
Er lächelte und für einen Augenblick schien es, als wolle er noch etwas hinzufügen.
Sekundenlang herrschte Stille und keiner der beiden alten Menschen wusste so recht, wer die Initiative ergreifen sollte.
„Es ist schön, dich wieder zu sehen, Egon.“
Warm blickten ihre Augen ihn an und in ihrer Stimme lag ein Funken Wehmut. Er lächelte schwach, hielt dem Blick stand, der sich tief in sein Herz bohrte, sich zu den längst verlorenen Gefühlen hindurch arbeitete. Schweigend sah er sie aus seinen alten, müde wirkenden Augen an.
„Vielleicht sollten wir uns öfter wieder treffen, was meinst du?“
Obwohl sie versuchte, der Situation eine heitere Note zu geben, gelang es ihr nicht gänzlich, die Spannung zu zerstreuen, die plötzlich über der Begegnung lag.
„Wir könnten ja einmal zusammen in die Oper gehen. Nächste Woche startet ‚Otello’. Wäre das nicht schön? Nach all der Zeit.“
Unermüdlich strahlten ihre Augen Fröhlichkeit aus und ließen nicht den leisesten Zweifel daran bestehen, dass das Leben wunderbar und leicht war. In ihrer Welt, so schien es, gab es keinen Schmerz, keine Enttäuschungen, keine einzige Träne.
„Sicher, gerne, falls du die Zeit findest?“
Sie schlug die Augen nieder. Für einen Moment wirkte sie unsicher, ihre Hände spielten wie von selbst am Verschluss ihrer Handtasche. Er musterte sie. Ihr perfekt sitzendes Kleid unterstrich ihre aufrechte Haltung und wäre es ihm nicht bekannt gewesen, hätte er sich nicht zugetraut, ihr Alter zu schätzen. Sie hob ihren Kopf und in ihrem Blick spiegelte sich die naive Unschuld eines kleinen Mädchens, das gerne eine Dame sein wollte.
„Wohnst du noch immer in der Hessestraße?“
Er schüttelte den Kopf.
"Die Wohnung war mir einfach zu groß."
Ihr Blick drang in ihn ein. Sie spürte, dass es ihn schmerzte und ein Schimmer der Führsorge stahl sich in ihren Blick. Er wandte seinen Blick ab, riss sich los von der hypnotischen Wärme, die sie unablässig ausstrahlte und die er nicht ertragen konnte, nicht ertragen wollte. Ein Lächeln zwang sich auf sein Gesicht und er bückte sich mühsam nach seinem Rucksack, nestelte am Reißverschluss.
"Ich habe Tee dabei. Immer während dieser Jahreszeit. Hält die alten Knochen warm."
Ein keuchendes Lachen drang aus seiner Kehle. Ihre Augen ruhten unverändert auf ihm und er konnte ihre Verlegenheit spüren, ihr Mitleid, ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihm wehgetan hatte. Er wusste, dass sie ihm nicht hatte wehtun wollen. Nie.
"Bist du noch sehr böse auf mich?"
Ihre Stimme war kaum lauter als das Geräusch der U-Bahn und dennoch klar und verständlich. Und weich, so weich und zart wie Unschuld nur sein kann. Niemand hätte er ihr böse sein können. Auch er nicht. Er war ihr niemals böse gewesen.
"Aber nein … "
Eine Thermoskanne und zwei Plastikbecher in der Hand richtete er sich lächelnd wieder auf.
"Es hätte nicht funktioniert … das wissen wir beide."
"Sicher, Marie, ich weiß. Komm, trink ein wenig, es ist Hagebuttentee."
Es schien, als atmete sie erleichtert auf und die Unbeschwertheit kehrte in das Strahlen ihrer alten Augen zurück.
"Oh Egon, du weißt, wie man eine alte Dame glücklich macht. Du bist ein richtiger Schatz."
Sie hätte es nicht ertragen, wenn er ihr böse gewesen wäre.
Vorsichtig goss er zuerst ihr und dann sich selbst eine Tasse voll. Der Tee war noch warm, aber nicht mehr so heiß, dass man sich daran verbrüht hätte. Behutsam setzte sie den Plastikbecher an ihre Lippen und er beobachtete die Falten an ihrem Hals, die sich beim Schlucken bewegten. Seltsamerweise wirkten selbst diese unbestechlichen Zeugen des Verfalls nicht etwa abstoßend, gaben ihr lediglich etwas Menschliches, Interessantes.
Wohlig seufzend lehnte sie sich zurück und warf ihm ein dankbares Lächeln zu. Für einen Moment schloss sie die Augen und der Ausdruck auf ihrem Gesicht hätte zufriedener nicht sein können. Schweigend beobachtete er sie, wie sie die Augen wieder öffnete und ein wenig zurecht rückte.
"Weißt du, Egon, ich bin froh, dass wir dem Ganzen rechtzeitig ein Ende bereitet haben."
Ihr Blick starrte in die Ferne. Er hatte es nicht beendet.
"So können wir jetzt doch noch Freunde sein. Ich bin sicher, dass es so am Besten war. Es war letztlich die richtige Entscheidung."
Er hatte die Entscheidung akzeptieren müssen.
"Wahrscheinlich", sie lächelte ihn an, "hätten wir uns irgendwann nur noch in die Haare bekommen."
Er hätte es darauf ankommen lassen.
"Ich hab das gespürt, weißt du. Es war, als wenn wir uns immer weiter voneinander entfernten, deshalb musste ich gehen. Ich hätte so nicht leben können."
Er hatte damit leben müssen, dass sie plötzlich weg war. Seine Hände verknoteten sich unwillkürlich ineinander, als er sie direkt ansah.
"Das hast du mir letztes Mal auch erklärt, Marie."
Seine Stimme war kaum ein Flüstern. Verwirrt sah sie ihn an, so wie jemand, der gerade aus dem Schlaf geweckt wird. Irgendetwas passte nicht, passte nicht in ihre Welt, ihre Vorstellung von Leben.
Sekundenlang starrten sie sich an, dann verschwand sie hinter ihrer Mauer aus Unbeschwertheit. Wischte das, was er gesagt hatte beiseite, als ob es gar nicht existiert habe.
"Wie geht es denn deinem Bruder Georg? Hast du etwas von ihm gehört?"
"Ja."
Seine Reglosigkeit verwirrte sie, doch sie ließ sich nicht aus ihrer Bahn werfen.
"Und? Wie geht es ihm?"
"Er ist tot."
Ihr Lächeln erstarrte. Mit einem Mal war die Luft zum Schneiden dick geworden. Ihr Blick suchte in seinem Gesicht nach irgendetwas, doch sein altes Gesicht verharrte in undurchdringbarer Reglosigkeit.
"Das … das ist ja furchtbar!"
Ihr Entsetzen war nicht gespielt. Das war es nie.
"Wie …"
Ihr Mund versuchte vergeblich ihre Gedanken in Worte zu formen.
"Er ist friedlich auf dem Fahrersitz seines Wagens eingeschlafen, nachdem der CO2 Gehalt in der Luft durch die Abgase so hoch war, dass seine Lunge aufhörte zu arbeiten."
Seine Worte waren seltsam emotionslos, während sie nach Luft rang und versuchte, das gehörte zu verarbeiten.
"Aber … wann?"
"Vor drei Monaten."
Sie schluckte. Ihre Augen wurden glasig, als sich ein wenig Tränenflüssigkeit in ihnen sammelte.
Schweigend sah er sie an während ihr Blick ruhelos umherirrte, bis er beinahe flehend an ihm hängen blieb.
"Egon, ich … es tut mir so leid!"
Tiefe Trauer senkte sich über seinen Blick, während er langsam zu seiner noch vollen Teetasse griff.
"Bitte Egon, du musst mir glauben! Es hätte nicht funktioniert!"
Sie versuchte, seine Hand zu fassen, doch ihr Arm blieb kraftlos auf dem kleinen Ausklapptischchen liegen, auf dem ihre Tassen standen.
Ein warmes Lächeln legte sich über sein Gesicht.
"Ich weiß, Marie, ich weiß. Es ist nicht deine Schuld."
Sorgfältig setzte er den Verschluss auf die Thermoskanne.
"Ich … Egon … ich bin … so müde …"
Behutsam legte er seine Hand auf die ihre.
"Es ist alles in Ordnung, meine Liebste."
Gegen die überwältigende Müdigkeit ankämpfend blinzelte sie heftig, während sich Panik über ihren Blick legte. Sorgsam verstaute er die Thermoskanne in seinem Rucksack.
"Egon …"
Langsam erhob er sich und sah sie mit einem liebevollen, warmen Lächeln an.
"Leb wohl, Marie."

Es war 21:36 Uhr als ein alter, gebeugt gehender Mann den Bahnsteig betrat. Auf seinem Rücken trug er einen schon recht mitgenommenen, dunkelblauen Rucksack und auf seinem faltigen Gesicht zeichnete sich ein friedliches Lächeln ab.
Er drehte einmal kurz den Kopf in Richtung U-Bahn und es schien, als würde er jemanden suchen, dann ging er langsam Richtung Rolltreppe.
Gar nicht so übel der Tee, dachte er, während seine Hand nach dem Geländer tastete.

 

Hallo Pesse,

nur ganz kurz: Deine Geschichte ist, finde ich ganz gut geschrieben, aber am Ende bin ich mir nicht wirklich sicher was nun passiert ist: Hat der alte Mann sie vergiftet? Weil sie mit ihm Schluß gemacht hat, vor Jahren? Oder weil sie mit seinem Bruder Schluß gemacht hat? Habe ich das richtig verstanden?

Wenn ja, dann finde ich, dass die Motivation des alten Mannes nicht ausreichend beschrieben wird. Wieso macht er das? Wieso war sie auch mit seinem Bruder zusammen? Wieso bringt der sich um, wenn ihn eine Frau verlässt? Sind ja alles nichtgerade alltägliche Vorkommnisse.

Gruß
Ane

 

Hallo Ane

Danke erstmal für das Lob. Ich würde gerne noch ein wenig abwarten, ob es anderen Lesern genau so geht und ich tatsächlich zu wenig Indizien verstreut habe. Ist bei sowas immer eine Gratwanderung: Kaust du zuviel vor, denkt der Leser, du hälst ihn für doof, deutest du zuviel an, versteht er die Geschichte nicht :)

Ich hoffe, es kommen noch ein paar Kommentare, damit ich noch ein paar Anhaltspunkte habe, wo man evtl. nachbessern muss.

Gruß Pesse

 

Tja, es ist schon schwer das rechte Maß zu finden. Manche schreiben so sachlich, dass man mühe hat Atmosphäre in einer Geschichte zu finden. Du bist in der Lage schöne Bilder zu schaffen, meine aber, dass dies hier zu fett ist und auf Kosten des Plots geht.
Du beschreibst das Alter und die Gebrechlichkeit so ausführlich, dass man denkt: Ok. Ich weiß das langsam… komm jetzt mal mit Spannung!
Zunächst dachte ich, die jungen Leute würden was bringen aber die tauchten nicht wieder auf.
Tatsächlich war dann, bis das Gespräch auf den Bruder kam, Langeweile.
Sicher wird es schwer sein in diese Geschichte, die nicht uninteressant ist, Spannung reinzubringen. Ich könnte mir vorstellen, dass es vielleicht über die Dialoge geht, in dem langsam immer mehr gebrochene Herzen zur Sprache kommen.
Ich meine, es muss sich aufschaukeln, bis wir klar erkennen, wie die Frau war / ist.
Sie muß aber auch etwas rücksichtslos wirken.
Und vor allen Dingen muß es schneller gehen.
Versuch mal die Äußerlichkeiten nicht stur zu beschreiben, sondern in die Handlung einzubeziehen.
ZB: Die dünnen Hände waren grau und faltig.
Es machte ihm Mühe die Flasche zu öffnen. Seine faltigen Hände fassten den Verschluss so fest, dass die weißen Knöchel durch die graue Haut schimmerten.
Das klingt dann nicht wie ne Beschreibung, kürzt die Sache, und hält Spannung.

Viele Grüße
3

 

Hi Dreimeier

Danke für dein Feedback.
Ich muss gestehen, ich war mir nicht sicher, ob ich den Text nicht lieber in R/E posten soll, da er auf jeden Fall nicht den für Krimi typischen Spannungsbogen hat, sondern mehr von den beiden Charakteren lebt.
Ich werd mir die Dialog aber nochmal zur Brust nehmen und versuchen, ein wenig mehr Plot und bisschen weniger Außenrum rein zu nehmen. Danke auch für den Tipp wegen der anderen Art der Beschreibungen.

Ich scheine wohl doch zu wenig zu erklären - ist schwierig, wenn man de Leser nicht bevormunden will ;)

Ich sag Bescheid, wenn ich die Story überarbeitet habe.

Gruß Pesse

 

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