Was ist neu

Abgeschaltet

Mitglied
Beitritt
03.05.2003
Beiträge
16

Abgeschaltet

Sie saß da auf dem Rondell inmitten all der anderen Menschen. Mit ihrer ausgewaschene Jeans, dem überlangen Pullover und der abgewetzten Jacke unterschied sie sich deutlich von den anderen Passanten, die wohlgekleidet eine nur kurze Shoppingpause auf dem Rondell machten. Sie saß da und las in einem Buch, neben ihr ein gewebter Rucksack. Ihre langen etwas struppig wirkenden Haare verdeckten ihr Gesicht soweit, als sollte niemand einen Blick in ihre Seele erhaschen können.


Während ich auf den leeren Platz neben ihr zuging, beobachtete ich sie. Sie schien gar nicht zu lesen, mehr in Gedanken zu sein. Sie sah zu mir hoch. Unmut war in ihren Augen zu erkennen. Unmut darüber, dass jemand ihr zu nahe kam.


Unter ihrem linken Auge zeichnete sich eine halbmondförmige Narbe ab. Diese Narbe - ich konnte mich genau erinnern, ich hatte sie schon einmal gesehen. Es war schon lange her, etwa fünfzehn Jahre ungefähr. An einem See im Stadtpark. Ein paar Kinder fütterten die Enten. Ein kleines etwa fünfjähriges Mädchen stand abseits. Stumm beobachtete es die Enten. Sie hatte etwas merkwürdig Starres an sich. Die Narbe unter ihrem Auge war damals noch frisch. Sie stand da und ihre Augen schienen die Enten zu beobachten, aber ihr Gedanken schienen in einer anderen Welt zu sein. In ihren Händen hielt sie ein Stück altes Brot, was man ihr wohl gegeben hatte, um die Enten zu füttern, aber sie stand nur da - regungslos. Wie abgeschaltet. Und die halbmondförmige Narbe mit ihrem noch frischem Rot schien dieses Bild in mein Gedächtnis mit einer seltsamen Nachhaltigkeit einzubrennen.


Jetzt aber war diese Narbe nur noch durch eine leichte Veränderung der Haut zu erkennen. Ihre Augen blickten mich abweisend an. Ich setzte mich neben sie und blickte einfach entspannt geradeaus, als wäre sie mir völlig egal. Schließlich sah ich zu ihr rüber auf das Buch, was sie aufgeschlagen in ihren Händen hielt und fragte in einem nebensächlich freundschaftlichem Ton:"Was lieste denn da...?" Ich schien den richtigen Ton getroffen zu haben, denn nach einer weiteren kurzen Musterung meiner Person drehte sie den Buchdeckel zu mir und antwortete:"Fromm: Haben oder Sein." In ihrer Stimme war etwas abwartendes mißtrauisches. "Fromm ist gut" entgegnete ich ihr. Ich schien das Richtige gesagt zu haben . Nicht zu viel und nicht zu wenig. Ihre mißtrauische Haltung entspannte sich ein wenig. Sie klappte das Buch zu, hielt aber den Zeigefinger als Lesezeichen in dem Buch und ließ sich einfach von der Mittagsonne wärmen. Wir saßen so noch eine ganze Weile zusammen nebeneinander auf dem Rondell, dann stand ich auf, sah sie nocheinmal kurz an und verabschiedete mich mit einem "Ciao!".


Von nun ab verbrachte ich jede Mittagspause auf dem Rondell und jeden Mittag traf ich sie dort, setzte mich zu ihr und manchmal wechselten wir ein paar Worte, manchmal war es auch nur ein "Hi" und ein "Ciao".
Einmal brachte ich Kekse mit. Einfache Kekse aus Mürbeteig in großen runden Ringen. Ich bot ihr einen an und nach einem kurzen Zögern nahm sie sich einen. Ich beobachtete sie. Sie kaute lange auf einen Bissen herum. Fast als hätte sie Angst ihn hinunterzuschlucken.
Ich ließ die Kekse zwischen uns liegen, aber sie nahm keinen zweiten. Und mir wurde klar, daß sie auch den ersten nur um meiner Freundschaft willen genommen hatte. Ich sah sie sonst nie essen.


An einem Tag zeigte sie mir einen Stein, den sie gefunden hatte. Es war ein grüner Malachit und mittendurch war ein Loch gebohrt. "Das ist ein schöner Stein.", sagte ich, "Ein Malachit. Du kannst ihn auch mit einem Lederband um den Hals tragen". "Nein, " sagte sie, "man hat ihn mitten durchs Herz gebohrt. Das war nicht gut."
Mir gingen ihre Worte noch am Nachmittag während der Arbeit durch den Kopf. Manchen Menschen sagte man einen Stein anstatt eines Herzens nach - sie sagte einem Stein ein Herz zu...


Es war eine der ersten Herbsttage. Ein warmer Altweibersommer, aber eben schon merklich in den Herbst hinein. Und mir fiel auf, daß ich fast den ganzen Sommer lang jeden Mittag mit ihr verbracht hatte. Oftmals hatten wir nur gemeinsam auf dem Rondell gesessen und außer dem "Hi" und "Ciao" keine weiteren Worte gewechselt. Viel wußte ich nicht über sie. Ich wußte, daß sie gerne liest und Federn und Steine sammelte. Aber wo und wie sie zB wohnt, wußte ich nicht. Manchmal fragte ich mich schon, ob sie denn überhaupt irgendwo wohnt.
Ich lief auf das Rondell zu und suchte sie dort. Aber diesmal saß sie nicht da. Ich war enttäuscht. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich mich jedesmal auf sie freute, wenn ich zum Rondell ging.
Ich sah rüber zur anderen Straßenseite und sah sie dort. Ich hätte ihr gern zugewunken, aber abgesehen davon, daß sie soetwas wohl wieder 'total blöde' gefunden hätte, schien sie auch wieder so in Gedanken, so abwesend zu sein, daß sie mich gar nicht bemerkt hätte. Sie sah zum Rondell rüber und wollte die Straße überqueren. Aber in ihrer Gedankenverlorenheit übersah sie den Lieferwagen, der noch einmal Gas gegeben hatte, um die Ampel noch zu passieren.
Ein vorbeifahrender LKW nahm mir die Sicht zur anderen Straßenseite, aber ich hörte den fast gleichzeitig dumpfen Aufprall und das Quitschen der Reifen - und in mir schien eine ganze Welt wie Glas zu zerspringen...


Zu Hause legte ich ihren Rucksack und eine ihrer Federn, die sie wohl in ihrer Hand gehalten hatte, auf den Küchentisch.
Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte, ich hatte einfach nur das Gefühl, diese Dinge mitnehmen zu müssen, um sie vor der üblichen Maschinerie des geregelten Ablaufs und der Gleichgültigkeit zu retten. Und es gab auch niemanden, der mir dabei Einhalt gebot.


Irgendwann am nächsten Tag packte ich den Rucksack und die Feder ein und fuhr 824 km zu einer Brücke, wo ich vorher noch nie gewesen war. Von dieser Brücke ging es 143 m in die Tiefe.
Ich holte die Feder aus meiner Tasche und hielt sie in der Hand. Ich hatte sie zu Hause unter Wasser gereinigt, den Dreck der Autos und Schuhe abgewaschen und die einzelnen Federn glattgestrichen.
Ich erinnerte mich daran, wie sie einmal sagte, sie würde gerne von der Brücke springen. Einmal fliegen.....
Die Feder lag auf meiner Hand und bewegte sich zaghaft in dem kleinen Lüftchen. Ein warmer Windstoß ließ sie schließlich auffliegen und durch die Luft gleiten. Unaufhaltsam dem Boden entgegen, von kleinen Auftrieben hin und wieder nach oben wirbelnd.
Alleine, ohne in einer lebender Gemeinschaft, war sie nicht fähig zu fliegen.


Fast schwerelos glitt sie dahin - wie eine Feder im Wind.....

 

Hallo Shemena,

mir blieb das Mädchen auf dem Rondell ehrlich gesagt zu farblos. Als sie stirbt, zerbricht im Erzähler eine Welt. Du hast mir aber vorher nicht vermittelt, was an ihr so besonderes ist, was die zwei verband, so dass ich diese Reaktion verstanden hätte - mal unabhängig davon, dass es schrecklich ist, auch den Tod einer Unbekannten mit ansehen zu müssen. Auch der Tod des Mädchens war für mich keine Auflösung der Geschichte. Hatte sie tatsächlich kein Zuhause? Was war mit ihr geschehen? Darauf habe ich leider keine Antworten.

Kleinigkeiten:

Oftmals hatten wir nur gemeinsam auf dem Rondell gesessen und außer dem "Hi" und "Ciao" keine weiteren Worte gewechselt.
Das hast du bereits einige Zeilen vorher gesagt, ist also überflüssig.
Aber wo und wie sie zB wohnt, wußte ich nicht.
Ich würde Abkürzungen in Geschichten immer ausschreiben.
ich hörte den fast gleichzeitig dumpfen Aufprall und das Quitschen der Reifen
Quietschen
"Das ist ein schöner Stein.", sagte ich,
Zu Beginn der wörtlichen REde gehören die Anführungszeichen nach unten, der Punkt ist außerdem zu viel.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Hallo Shemena,

"ganz hübsch" ist sicherlich beleidigend, aber das war es, was ich bei diese Geschichte empfand.
Es geht um eine platonische Beziehung, um ein bisschen Wehmut über den Verlust und über die Erfüllung eines Wunsches im Loslassen. Wäre schön, wenn das zwischen Menschen häufiger möglich wäre, hat auch eine gewisse romantische Lyrik im Stress der Alltagswelt, aber mehr denn auch nicht. Einen gesellschaftspolitischen Bezug kann ich nicht erkennen. Da würde ich eher zu Romantik/Erotik raten.

etwa fünfzehn Jahre ungefähr.
etwa oder ungefähr, eines von beiden ist überflüssig
aber ihr Gedanken schienen in einer anderen Welt zu sein
ihre
Schließlich sah ich zu ihr rüber auf das Buch, was sie aufgeschlagen in ihren Händen hielt
dieses umgangssprachliche "was" verwendest du sehr häufig. Schöner ist da immer der Artikel, in diesem Falle "das"
In ihrer Stimme war etwas abwartendes mißtrauisches.
Abwartendes, Misstrauisches (Du verwendest beides als Nomen)
Einfache Kekse aus Mürbeteig in großen runden Ringen.
die sind meistens eher aus Sandteig, als aus Mürbeteig.
man hat ihn mitten durchs Herz gebohrt.
ihm, nämlich dem Stein (Dativ)
Es war eine der ersten Herbsttage.
einer
Ein vorbeifahrender LKW nahm mir die Sicht zur anderen Straßenseite, aber ich hörte den fast gleichzeitig dumpfen Aufprall und das Quitschen der Reifen
Das Quietschen der Reifen konnte er hören, den dumpfen Aufprall wegen des Fahrgeräuschs des anderen LKW nicht.
zu einer Brücke, wo ich vorher noch nie gewesen war.
auch das "Wo" ist umgangssprachlich und überdies falsch. "an der ich noch nie ..."
Einmal fliegen.....
fliegen ... (Leerzeichen und nur drei Punkte)
wie eine Feder im Wind.....
dito

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Juschi,

ich hatte eigentlich bewußt einen Erzählstil gewählt, der die ganze Geschichte vom Tempo etwas gedämpft hält und auch nicht so leicht und farbenfroh zu lesen ist. Auch Namen hab ich bewußt nicht vergeben und viele Fragen bleiben auch offen. Die Geschichte ist ein bißchen so, wie der Charakter des Mädchens.
Zumindest war es meine Absicht, den Leser so auf die etwas ungewöhnliche Art des Mädchens einzustimmen... :hmm:

Juschi schrieb:
mir blieb das Mädchen auf dem Rondell ehrlich gesagt zu farblos. Als sie stirbt, zerbricht im Erzähler eine Welt. Du hast mir aber vorher nicht vermittelt, was an ihr so besonderes ist, was die zwei verband, so dass ich diese Reaktion verstanden hätte - mal unabhängig davon, dass es schrecklich ist, auch den Tod einer Unbekannten mit ansehen zu müssen.

Das Besondere an dem Mädchen ist im Grunde genommen gar nichts. Sie ist scheu, mißtrauisch, zurückgezogen und erzählt nicht viel über sich. Aber gerade deswegen ist schon das kleinste Wort, daß sie mit dem Erzähler wechselt, etwas Besonderes.
Was die beiden verbindet ist somit eine schleichende Vertrautheit.
Ich hatte es mit
Shemena schrieb:
Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich mich jedesmal auf sie freute, wenn ich zum Rondell ging.
ausdrücken wollen. Vielleicht sollte ich noch einen zusätzlichen Satz entsprechend einfügen.

Juschi schrieb:
Auch der Tod des Mädchens war für mich keine Auflösung der Geschichte. Hatte sie tatsächlich kein Zuhause? Was war mit ihr geschehen? Darauf habe ich leider keine Antworten.

Auch der Erzähler bekommt darauf keine Antworten. Seine einzige Informationsquelle ist nunmal das Mädchen selbst und das erzählt eben nicht gerne etwas über sich.
Die Geschichte läßt viele Fragen offen, gibt aber auch viele Antworten genau dadurch, daß diese Fragen nicht beantwortet werden.
Hmm, zumindest dachte ich das... :hmm:

Juschi schrieb:
Kleinigkeiten:
.
.
.
Ich würde Abkürzungen in Geschichten immer ausschreiben.
Quietschen
Zu Beginn der wörtlichen REde gehören die Anführungszeichen nach unten, der Punkt ist außerdem zu viel.

Hmm, welche Abkürzungen denn? Ich hab jetzt gar keine gefunden. Überlese ich sie ständig...?

Quietschen: Ist richtig! :) Hatte ich echt nicht gewußt... :cool:

Auch mit den Anführungszeichen ist das richtig, nur einige Programme machen mir die Anführungszeichen einfach oben anstatt unten. Ich weiß manchmal nicht, wie ich das steuern kann...

Thx und lieben Gruß
Sheena

 

Hallo Sim,

nein, "ganz hübsch" ist nicht unbedingt beleidigend. Dier Geschichte ist eigentlich so geschrieben, wie Du sie erfasst hast.

Die Rubrik 'Gesellschaft' mag vielleicht nicht gut gewählt sein, nur ich pendelte zwischen 'Alltag' und 'Gesellschaft' und entschied mich dann für letzteres, weil Alltag für mich noch weniger passte.
Auf die Idee, daß ich etwas für 'Romantik/Erotik' schreiben würde, wär ich nie gekommen... :D Ein Bereich, der mir absolut überhaupt nicht liegt und vielleicht deshalb mag ich diese Geschichte auch jetzt noch nicht dort einordnen.

Die Korrekturen bezüglich Rechtschreibung, Grammatik und Ausdruck werde ich noch nachholen.

Thx und einen lieben Gruß
Sheena

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom