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Abgeschlossen
Als der Wecker zum ersten Mal schellt, ringen Mond und Sonne noch um die Herrschaft am Himmel. Schlaftrunken ertasten Franks Finger den Knopf, der ihm eine fünfminütige Frist in der nebelschweren Welt des Halbschlafs einräumt, um nur einen Augenschlag später festzustellen, dass der ewige Wettstreit zwischen den Gestirnen erneut entschieden ist. Er zwingt sich, den Tag mit Handlung zu füllen, rollt sich zur Bettkante und stemmt sich gegen die bleierne Müdigkeit, die seinen Körper noch immer fest im Griff hält.
Gerade als er glaubt, die Bergetappe – Zähneputzen – seiner morgendlichen Tour de Frank unbeschadet überstanden zu haben, klingelt es erneut. Die Uhr des weißen, wasserdichten Badradios zeigt halb sieben; keine Stunde auf die er für gewöhnlich Verabredungen legt. Seine Frau Alice, die das Haus stets vor ihm verlässt, wird etwas vergessen haben und ist nun zu sehr in Eile, um mühsam den Schlüssel zu suchen, müsste sie dafür doch erst dem anarchischen Chaos in ihrer Handtasche Herr werden, denkt er und geht, nur mit einem Handtuch bekleidet und Zahnpastaresten unter den Mundwickeln, öffnen. Beim Durchqueren des Wohnzimmers hört er, wie doch ein Schlüssel an der metallischen Verkleidung des Türschlosses kratzt und klirrend zu Boden fällt.
Tatsächlich steht Alice im Türrahmen; doch anstatt an ihm vorbei ins Innere des gemeinsamen Heims zu hasten und ihm halb lächelnd, halb hektisch zuzurufen, was genau sie vergessen hat, steht sie nur da und weint. Im ersten Augenblick fürchtet Frank, den Töchtern müsse etwas zugestoßen sein, hatte er sie so aufgelöst bisher nur bei der Beerdigung ihres Vaters erlebt. Als seine Augen den fliederfarbenen Zettel in ihrer Hand streifen, wird eine Ahnung zur Gewissheit: Er hatte verloren!
Alices Auto war momentan in der Werkstatt, weswegen sie seinen Wagen genommen hatte, konnte er den Weg zur Arbeit doch auch mit dem Fahrrad zurücklegen. Er hatte den Zettel im Handschuhfach liegen lassen.
Alice versucht, etwas zu sagen, doch Tränen, Rotz und Spucke verschließen ihr die Atemwege, so dass lediglich ein Grunzlaut hervordringt. Er zieht sie in die Wohnung und schließt die Tür. Einige Sekunden vergehen, bis Alice den Fluss von Körpersekreten zurückdrängen kann und ihr Zeit für eine kurze, gestammelte Frage bleibt: „Ist das dein Ernst?“, und hält dabei das verräterische Stück Papier in die Höhe.
Frank wird übel. Die Schweißporen seiner Haut öffnen sich wie der Himmel seine Pforten und seine Fingerspitzen kribbeln, als wären sie eingeschlafen. Sein Herz setzt aus, um nur Augenblicke später schneller als Gewehrsalven zu schlagen. Endlich! Diesen Moment hatte er fast vierundvierzig Jahre herbeigesehnt: Mit der Ruhe eines buddhistischen Mönchs oder der eines Menschen, dessen Seele von einer unendlich schweren Last befreit worden ist, antwortet er „Ja“ und bricht mit der Lüge, die das Fundament seines Seins so lange Zeit zusammengehalten hatte. In Alices Ausdruck bahnen sich Tränen erneut ihren Weg. Franks feingliedrige Finger umschließen ihren Kopf und drücken ihn mitleidig an seine haarlose, noch unparfümierte Brust. Das traurige Nass ihrer Augen läuft seinen Bauch hinab, versiegt auf dem Weg abwärts oder versickert im Handtuch, das seine Scham bedeckt.
Wieder vergehen Minuten bis Franks Verstand sich dem außergewöhnlichen Moment entziehen kann und es schafft, die Kontrolleüber die Situation zurückzugewinnen.
„Wir müssen im Büro Bescheid sagen, dass wir krank sind. Und wir müssen die Zwillinge fragen, ob sie später zu uns kommen möchten. Was denkst du?“
Alice stößt ihn fort und ihre wehrlosen Fäuste fliegen in Richtung seines Kopfes.
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Franks Frau macht Kohlrouladen zum Abendessen – er mag keine Kohlrouladen; Alice weis das – und etwas, dass entfernt an indisches Gemüsecurry erinnert. Sabine, die ältere der beiden Mädchen lebt vegetarisch. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, denkt er, als sie – immer noch uniformiert – ins Esszimmer tritt. Die rotblonden, schulterlangen Haare umspielen eine annähernd symmetrische Gesichtsform – einzig ihre Nase mindert die venushafte Erscheinung. Sabine hatte seine Nase geerbt: Sie ist groß und stechend und die Spitze wird durch eine scharfe Rille in zwei Höcker geteilt, die nicht ebenmäßig abschließen.
Wieder meldet die Türklingel das Eintreffen eines Gastes an. Es ist Elke, die jüngere Zwillingstochter, der, obgleich erst Anfang zwanzig, bereits die liebenswerte Zerstreutheit eines alternden Professors anhaftet, dessen Erinnerungsvermögen durch Fachwissen und Banalitäten des Alltags überfordert ist.
Als die Familie um den runden, ebenholzfarbenen Esstisch Platz nimmt, wird Frank erstmals die ungeteilte Lächerlichkeit seines Vorhabens offenbar. Der Zauber des Augenblicks, den er verspürt hatte, als Alice ihn morgens mit der Unwiederbringlichkeit seiner Entmannung konfrontiert hatte, ist verschwunden, erinnert ihn der Anblick seiner Liebsten, doch an die eigene Unmündigkeit, der er sich vor so vielen Jahren unterworfen hatte. Ein Dreiklang aus Kummer, Gram und Demütigung steht Alice ins Gesicht geschrieben; die Mädchen bemerken es noch nicht.
Frank räuspert sich. Wo soll er anfangen? Und wie? Die Unaussprechlichkeit seines Anliegens löst die vorgeformten Sätze in zusammenhangslose Wörter auf, die sich wiederum in wirren Buchstaben verlieren. Wie widersprüchlich! Zeit seines Lebens hatte er so viele Wörter darauf vergeudet, anderen Menschen weiszumachen, jemand zu sein, der er nicht war, dass ihm nun die Wörter fehlen, um auszudrücken, wer er wirklich ist.
„Es wird viele Veränderungen geben“, stottert er und hält die blumenbemalte Teetasse so fest in den Händen, dass seine Knöchel die blutleere Farbe eines Toten annehmen. Die Zwillinge blicken die Eltern verständnislos an. Alice schluckt und wischt sich mit dem Ärmel durchs Gesicht.
„Ihr lasst euch scheiden“, entfährt es Sabine, die ein gutes Gespür für heraufziehende Gefahren besitzt.
„Nein. Zumindest nicht jetzt; allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich darauf noch Einfluss habe. Aber, macht euch darüber jetzt bitte keine Gedanken: Wir sind und bleiben eine Familie. Liebe und fehlende Verhütung hat uns zu selbiger werden lassen und Blutsbände bleiben bekanntlich ein Leben lang bestehen.“
„Was redest du? Liebst du Mama etwa nicht mehr?“, verhört Sabine ihren Vater in einem Ton, der Stahl hätte schneiden können.
„Sag’ das nicht!", versucht Frank sich zu verteidigen. „Ich liebe eure Mutter mehr als am Tag, da wir uns zum ersten Mal trafen. An meiner Liebe zu jedem von euch, habe ich nie auch nur eine Sekunde gezweifelt. Und ihr dürft das ebenfalls nicht!“
Die Spannung des Moments wird einzig von seiner Stille übertroffen. Elke, die zwar kleiner und unscheinbarer als ihre ältere Schwester ist, doch schon immer den Größeren Mut bewiesen hatte, flüstert ängstlich: „Bist du krank, Papa?“
„Das ist Ansichtssache, Liebes. Ich fühle mich nicht krank, wenigstens nicht körperlich. Es ist vielmehr meine Seele, die schmerzt. Und wenn der Verstand verzweifelt, krankt auch der Körper. Herz und Geist, sind siamesische Zwillinge, die sich ein überlebenswichtiges Organ teilen; sie bilden ein Gespann, dass nur gemeinsam gelingen kann. Ich trage dieses Gefühl nun schon sehr lange in jeder Faser meines Menschseins mit mir herum – es ist auch älter als ihr beide. Nur ist aus einem Gefühl – schrittgleich mit eurem Erwachsenwerden – eine innere Notwendigkeit geworden, deren Befriedigung keinen Aufschub mehr duldet. Zu lange schon gebe ich mich mit dem zweitbesten Dasein zufrieden.“
Entschuldigend fügt er hinzu: „Bitte verzeiht mir, wenn ich den Eindruck erwecke, ich liebte euch nicht. Weit gefehlt! Nie hätte mich die Konsequenz einer verspäteten Entscheidung glücklicher machen können. Einzig zum Zeitpunkt eurer Geburt fehlte mir die Reife, um die Kraft aufzubringen, die ich damals zur Abwehr der Angriffe benötigt hätte. Heute ist das etwas anderes; da begegnet man meinesgleichen an vielen Orten – auch tagsüber. Doch damals hätte man meinem Wunsch, eine andere zu sein, mit Stromstößen, Spritzen und staatlichen Sanktionen entsprochen, weswegen ich mich für die Erwartungen, die unsere Gesellschaft an einen Mann stellt, und gegen meine Bestimmung entschieden habe – obwohl ich wusste, das es lediglich einen Aufschub meines Verlangens bedeutete. Bitte glaubt mir, dass ich, wenn ich euch ansehe, meine jugendliche Feigheit nie bereut habe.“
Alice, die ihn während seiner Ausführungen keine Sekunde lang angesehen hatte, sondern einen weit entfernten Punkt in ihrem Schoß zu fixieren scheint, schießt hoch: Ihre feuchten Wangen reflektieren das Licht der Deckenstrahler, was ihrer verzweifelten Empörung eine Aura der Trauer verleiht. Frank spürt, dass er von seiner Ehefrau keinerlei Unterstützung erwarten kann.
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Sie hatten sich an der Universität kennen gelernt. Für Frank war Alice die erste Frau gewesen, der er sich ungehemmt hingegeben hatte – von zwei oder drei spätpubertären Erfahrungen abgesehen. Verblüffend viele Gemeinsamkeiten hatten alsbald zu gegenseitigen Gefühlen und unüberlegten Handlungen geführt, deren Ergebnis zwei gesunde und speckige Säuglinge waren. Ein einziges Mal hatte er sie damals zu überzeugen versucht, einen Abbruch wenigstens in Betacht zu ziehen, doch allein eine handfeste Reaktion hatte als Antwort ausgereicht – und so war auch dem alten Mann im Vatikan eine Rolle in Franks Leben zuteil geworden. Nachdem sich die anfängliche Angst und der erste existenzielle Schreck bei ihm gelegt hatten, begann er – schließlich konnte er sich der Verantwortung gegenüber seinem genetischen Erbe nicht entziehen – den Umständen durchaus etwas Gutes abzugewinnen, wurde ihm doch die Entscheidung über seine eigene Stellung in der Welt auf viele Jahre hinaus abgenommen. Beruflich wie privat hatte er es mit der Zeit immer besser verstanden, seine Neigung Geschäftsreisen und ausgewählten Momenten der Anonymität vorzuenthalten, wobei er strengstens darauf achtete, seinen Besitz nach der Rückkehr stets selbst auszupacken. Gelegentlich rief sein sonderbares Gebaren unangenehme Irritationen hervor, die er dann häufig zum Anlass nahm, eine nützliche Marotte zu entwickeln, denn eine gewisse Unberechenbarkeit war seinen Verschleierungsversuchen durchaus zuträglich.
Den ganzen Tag über wurden Alices Antworten durch solch monotone Einsilbigkeit bestimmt, wie man sie am ehesten von einem Eremiten erwartete. Fragen hatte sie ihm keine mehr gestellt, musste sie wohl erst die eigene Bedeutung seiner Verwandlung ergründen, so dass es keinerlei Sinn machte, ihr eine Reaktion abzufordern, wäre ihr Verhalten doch das eines verletzten, in die Enge getriebenen Tieres gewesen. Wer konnte es ihr verübeln?
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Nun steht sie vor ihnen, die zitternden Arme auf der Tischkante abgestützt, ganz leise keuchend und....nichts; statt ihrer Wut und Verzweiflung, Empörung und Hilflosigkeit Gehör durch Geschrei zu verschaffen, setzt sie sich wieder und sackt sichtbar im lederbezogenen Holzstuhl zusammen. Mit der unsichereren Anspannung eines Häftlings entkorkt sie die vor ihr stehende Flasche und öffnet ihr Herz dem Wein. Beim zweiten Glas holt sie den fliederfarbenen Flyer heraus, dessen Entdeckung den Beginn seines neuen Lebens auf den heutigen Tag festgelegt hatte und reicht ihn Elke. Doch bevor sie ihn greifen kann, sind Sabines Hände seiner bereits habhaft geworden; Elke lässt sie wie immer gewähren.
Ein kurzer Blick genügt, um die abgedruckten Informationen zu erfassen: Sabines Gesichtsfarbe erlischt und ihre Augen weiten sich. Ihr Gehirn scheint die Wörter zu kennen, allein es kann sie nicht mit Inhalt füllen.
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Sabine war nicht Polizistin geworden, weil sie viel Verständnis für Verbrecher und gescheiterte Existenzen, wie ihn aufbrachte, sondern weil ihr alles Abnorme zu wider war. Die Welt war für sie einfach und zweifarbig – Ausnahmen gab es keine. Es durfte auch keine geben. Freiräume in Gesetzestexten waren für sie störende Mängel des geschriebenen Rechts, verdeutlichten sie doch einmal mehr die Dreistigkeit der menschlichen Natur, die sich herausnahm, solche Lücken unverhohlen auszunutzen und sich so ein kleines Dasein zu schaffen. Schon in der Schule war sie als notorische Petze aufgefallen. Viele Freunde hatte ihr das zwar nicht eingebracht, doch seltsamerweise schien sie keinen gesteigerten Wert auf allzu viel Gesellschaft zulegen. Einige ausgewählte Bezugspersonen, die sich in ihren Augen bewährt hatten, genügten Sabine vollkommen. Doch nun schickte sie sich an, ihren Vater für etwas zu verstoßen, dass ihr so unbegreiflich fremd und zuwider war, wie die Teilnahme an einer unangemeldeten Demonstration.
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„Wie kannst du uns das antun?“ schreit sie mit der entrückten Maske eines Exorzisten und springt auf und ab, bis ihre Halsschlagader zu vibrieren beginnt.
„Haben wir deine Erwartungen nicht immer über Soll erfüllt? Du bist der widerlichste Egoist, der mir je unterkommen ist! Nein, du bist tausendmal schlimmer als jeder Egoist – die brauchen wenigstens andere Menschen, wenn auch nur, um ihren Eigennutz auf deren Kosten durchzusetzen. Du aber bist nichts weiter als ein asozialer Hedonist! Stellst deine Triebe und sexuelle Phantasien über alles, was dir ehemals etwas bedeutet hat und verrätst dabei die Menschen, die dich lieben. Wenn es wenigstens Träume wären, die du verfolgen würdest! Aber seinen Trieben nachzugeben wie ein wildes Tier ist wider dem göttlichen Gesetz. In anderen Ländern würde man Männer wie dich einsperren – oder schlimmeres. Und das zurecht! Nie wieder werde ich ein Wort mir dir wechseln.“
Die Gesichtszüge entgleiten ihr zusehends. Die Verwünschungen und Schmähungen gegen ihren Erzeuger scheinen nun auch unterschiedslos sie selbst zu treffen, wobei sich ihre professionelle Kontrolle und der geschulte Schutzpanzer auflösen und ein kaum hörbares Schluchzen ihr den Anschein eines verlorenen Kindes verleiht.
Elkes reagiert anders; ihr Körper wird von einem bald schon spastischen Schütteln erfasst und klappt zusammen wie ein Schweizer Messer. Frank springt auf, um ihr stützend unter die Arme zu greifen, doch gerade als er sie zu fassen bekommt, erbricht sie sich. Geistesgegenwärtig und entgegen aller Benimmregeln – sofern es sie für diese Art von Malheur überhaupt gibt – wendet sie ihren Kopf jedoch nicht ab, sondern gewährt dem Essen in ihrem überraschten Magen freies Geleit quer über den Tisch, so dass Stühle und Teppich von den halbverdauten Nahrungsresten verschont bleiben. Ungläubige Versteinerung ist die Ware des darauffolgenden Moments. Es dauert einige Sekunden bis Sabines Ekel die Fassung zurückerlangt und sie veranlasst, ein gellendes Geheul auszustoßen, dass jedem domestizierten Haushund zur Ehre gereicht hätte. In Lichtgeschwindigkeit schraubt sie sich von ihrem Stuhl empor und verlässt den Raum Richtung Küche. Elke tut es ihr gleich, nur schlägt sie den Weg ins Bad ein. Frank und seine Frau bleiben, jeder durch die eigene Ohnmacht gelähmt, allein am Tisch sitzen und hätten Kerzen gebrannt, wären sie in just jener Sekunde erloschen.
Frank lässt sich von der Überzeugung gefangen nehmen, dass sein Coming-out nicht schlechter hätte verlaufen können und es allem Anschein nach seine Schuld ist. Warum auch ist er so unendlich unvorsichtig gewesen und hat die Überreste eines Geheimnisses im Auto vergessen, dessen Enttarnung das Kartenhaus seines Lebens so ungemein gründlich und unwiederbringlich zum Einsturz bringen musste, dass man meinen kann, er hätte es nicht anders gewollt. Jahre der Verleumdung und Maskerade sind gänzlich umsonst gewesen, denn er hatte zugelassen, dass die Entscheidung über den Zeitpunkt seiner Offenbarung von jemand anders als ihm selbst, Frank, getroffen worden war und schlimmer noch: er hatte es versäumt, den verräterischen Wisch als Nichtigkeit abzutun, wäre es ihm doch ein leichtes gewesen, Alice mit seinem kauzigen Jähzorn dergestalt abzukanzeln, dass die bloße Erwähnung des Vorfalls ihr den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hätte und sie den entlarvenden Inhalt wohl oder übel hätte verdrängen müssen. Eisernes Misstrauen wären zwar nicht mehr zu ersticken gewesen und hätten gewiss auch die gemeinsamen Jahre überdauert, allein er weis um das Schicksal unguter Gefühlen in einer Ehe: schleichendes Siechtum ereilt sie und irgendwann verglimmen sie wie Sternschnuppen am Firmament bis zu guter Letzt uneingeschränkte Gleichgültigkeit ihren Platz einnimmt.
Auch ist Alice keine sehr starke Frau, die Unabhängigkeit besonders zu schätzen weiß und nie hätte sie die Säulen ihrer familiären Bindung auf eine abschlägige Gewissheit hin eingerissen. Wahrscheinlicher ist, dass sie Vergessen im Alkohol gesucht und wohl auch gefunden hätte wie sie es schon nach dem Tod des Vaters getan hatte. Frank hätte lediglich dafür sorgen müssen, sie auf der schwankenden Schnur der Sucht zu halten, wobei Vorhaltungen und Gewissensbisse ihr übriges getan hätten, so dass die Abhängigkeit von ihm mit jedem Tag gewachsen wäre. Warum nur hatte er mit „Ja“ geantwortet? Alles hätte so einfach sein können.
Plötzlich dringt ein Geräusch an Franks Ohr, dass er ebenso wenig erwartet hatte, wie den nahenden Untergang des Universums. Es ist ein hohes, sich sekündlich wiederholendes Wiehern, das dem Quietschen einer rostigen Gartenpforte nicht unähnlich ist und dessen Ursprung er zuerst nicht ausmachen kann. Er denkt an die Töchter in Bad und Küche, verwirft diesen Gedanken jedoch sofort, als seine Augen auf Alice treffen: den Kopf in den Nacken geworfen und die Pupillen weltfremd verdreht, bewegt sich ihr Kehlkopf rhythmisch zu den prustenden Lauten, die ihrem Mund zu entspringen scheinen. Sie lacht. Doch verströmt es keine tatsächliche Belustigung und wohltuende Wärme, wie sie Mütter beim albernden Geplapper ihrer Kinder verspüren, sondern es gleicht dem hysterischen Lachen einer Geisteskranken, deren Verstand sich der unleugbaren Wirklichkeit zu entziehen versucht. Frank ist ernsthaft um Alices Geisteszustand besorgt; er berührt ihren Arm mit der Zurückhaltung und Vorsicht eines Sprengmeisters, doch sie bemerkt es gar nicht: wie im Fieberwahn lässt sie den Kopf rotieren und man muss glauben, er könne jede Sekunde abfallen.
„Was ist los mit dir?“, fragt er sie so leise, als müsse er ein schlafendes Kind wecken. Eine Wand schallendes Gelächter ist die einzige Antwort. Sabine stürzt aus der Küche hinzu und versucht – auf einen richtigen ersten Eindruck hin – ihre Mutter tröstend zu beschwichtigen, doch finden auch ihre Worte kein Gehör.
Mit einem Glas Wasser in der Hand betritt auch Elke das Esszimmer. Ihr scheint es besser zu gehen – die grünliche Färbung ist einem gesunden Gesichtston gewichen und einzig eine leichte Rötung ihrer Lippen zeugt noch von der ungewöhnlichen Resonanz, mit der ihr Körper die Neuigkeit aufgenommen hatte. Doch missversteht sie die Situation und fragt mit der für sie typischen Neugierde, was denn plötzlich so lustig sei und ob sie etwas verpasst hätte.
Sie beugt sich über ihren Vater und stützt sich auf seine Schultern, wobei ihr entgeht, wie viel ihm diese unbewusste Geste der Vertrautheit und Zuneigung bedeutet. Schon will er ihre Hand greifen und sie streicheln, doch fürchtet er, sie könne sich seiner Nähe schlagartig bewusst werden und ihn mit der Zurückweisung ihrer Zwillingsschwester strafen. Also tut und sagt er nichts und lässt die Szene und seine eigene Rolle darin vorbei ziehen, bestrebt nicht Gefahr zu laufen, das zerbrechliche Gefüge durch ein falsches Wort vollends zum Zusammenbruch zu bringen.
In einem Anflug hoffnungsschwangerer Verzweiflung unternimmt Sabine einen weiteren Versuch, von ihrer Mutter Auskunft über ihr Lachen zu erhalten und tatsächlich scheint Alice zum ersten Mal an diesem Tag bereit zu sein, eine Antwort zu geben, die zweisilbige Unmutsäußerungen an Länge übertrifft. In ihrem funkelnden Blick glaubt er, einen kurzen Schimmer der Vernunft zu erkennen, doch ihre Stimme, straft seine Zuversicht lügen. Entwaffnend clownesk schmunzelt sie: „Sei nicht so verbittert, Sabine. Du musst mit den Augen und nicht mit dem Herzen sehen. Gefühle sind ein schlechter Ratgeber in Zeiten der Not. Deshalb sieh hin und nimm’ an was du siehst: dein Vater ist im Begriff, sich solcherlei Schwermut hinzugeben, wie sie viele Männer mittleren Alters ereilt, wenn sie sich auf dem Zenit ihres Schaffens der eigenen Bedeutungslosigkeit bewusst werden. Also, bitte nehmt euren Vater und seine Bedürfnisse ernst, so lächerlich sie euch auch erscheinen mögen, aber seine Orientierungslosigkeit scheint ihm ein echtes Anliegen zu sein. Doch was tun wir? Die eine erbricht sich, die andere begegnet ihrem eigenen Vater mit Wut und Verleugnung und ich benehme mich wie ein junges Mädchen, das zum ersten Mal den Stachel der Eifersucht im Herzen spürt. Wir sollten euren Vater gewähren lassen. Auch er wird schnell den Nachteilen seiner Entscheidung gewahr werden: Familie, Freunden, Bekannten, Kollegen, Nachbarn; allen muss er die Wahrheit über sich selbst zeigen und den Mut aufbringen, sich bei allen ein zweites Mal vorzustellen, wohl um den Zweifel an seiner Person wissend, der dadurch gestreut wird. Wenn er vorbeigeht, werden sie – sobald sie sich unbeobachtet fühlen – tuschelnd die Köpfe zusammenstecken, doch tritt er hinzu, platzt er in ein Gespräch, das keins zu sein scheint, lässt die verräterische Pause ihn aber spüren, dass er gerade eine Unterhaltung über sich selbst gestört hat. Die, die nicht müde werden, ihm zu versichern, wie sehr sie seinen Mut bewundern, sind die gleichen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Andersartigkeit herauskehren, um dann gebetsmühlenartig zu wiederholen, welchen Respekt ihnen sein Mut abringt. Sie schmücken sich mit seiner Bekanntschaft, doch neben ihm wohnen, wollen sie nicht; auch kennen sie ihn nicht, wenn seine Abwesenheit sie nicht zur Wahrheit zwingt. Alte Freunde werden sich abwenden – natürlich nicht sofort, begrüßen sie nach außen hin doch seine Entscheidung – und sich fragen, wie gering doch sein Vertrauen gewesen sein muss, das er es all die Jahre nicht gewagt hat, sich ihnen anzuvertrauen. Und wenn er merkt, wie groß das Ausmaß seines Verlustes wirklich ist, wird es bereits zu spät sein, denn er kann weder das Gedächtnis seiner Umgebung auslöschen noch kann er wieder in seine alte Rolle schlüpfen, so dass er irgendwann einsam und verlassen sterben wird und sich wünscht, doch mit der Lüge gelebt zu haben. Euer Vater scheint dem Glauben anzuhängen, nicht länger mit der angeblichen Selbstverleumdung leben zu können; warten wir ab, wie es sich mit der Wahrheit leben lässt. Deswegen lasst uns abwarten, wie er sich entscheidet, denn ich bin bereit, den Unfug dieses Tages gänzlich zu vergessen, sofern sich jeder der hier Anwesenden daran hält und nie wieder ein Wort über diese Angelegenheit verliert.“
Die Familie starrt Alice ungläubig an und Frank überlegt, ob er ihren Vorschlag unterstützen soll. Noch während er nachdenkt und das Für und Wider dieser absurden Idee abwiegt, platzt Sabine abermals der Kragen: „Wie kannst du so etwas auch nur denken, geschweige denn darüber lachen, Mama? Bist du nicht angewidert von der Abartigkeit, die hier zu Tage tritt? Niemals hätte ich das von unserem Vater, deinem Ehemann, erwartet! Er ist ein Schwein und als solches müssen wir ihn auch behandeln. Er verdient kein Mitleid oder gar Verständnis für seine Perversion. Ich glaube, er hat uns nie geliebt, sonst würde er uns so etwas nicht antun. Er hätte stillschweigend hinnehmen müssen, dass er nicht ist, was er sein will und besser seine Bürde angenommen, wie es sich gehört. Denn gegen sein Schicksal zu kämpfen, bedeutet gegen sich selbst zu verlieren; nie kann man einen Sieg erringen. Wäre er wirklich eine Frau, würde ihm diese Einsicht leichter fallen, hat uns doch die Dominanz der männlichen Natur deutlich duldsamer werden lassen. Wenn er es uns gleichtun möchte, muss er auch fühlen wie unsereins. Alles andere ist sinnentfremdend.“
Nichts anderes hatte Frank von seiner älteren Tochter erwartet; einzig Sabines Unversöhnlichkeit und die unbändige Härte in ihrer Stimme machen ihm Angst. An Alices absurdem Vorschlag, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, scheint sie keinerlei Gefallen zu finden – anders als er selbst, der derzeit durchaus bereit ist, diese Option zu ziehen. Frank weis, dass zumindest Sabine niemals auch nur eine Facette seiner Verwandlung akzeptieren würde; zu sehr widerspricht es ihrem gleichgeschalteten Weltbild und dem schlichten Naturell ihrer Person. Eher würde sie ihre Drohung wahrmachen und den Vater aus ihrem Leben verbannen, ihn verstoßen und verleugnen, ihn ausschließen und ächten – oder schlimmeres. Manchmal schießt Sabine übers Ziel hinaus. Dieses Verhalten hatte ihr zwar den Respekt ihrer mehrheitlich männlichen Kollegen eingebracht, allerdings auch die verstärkte Aufmerksamkeit seitens des Disziplinarausschusses.
„Also, ich finde das alles gar nicht so schlimm.“ Erst jetzt bemerkt Frank, dass Elke noch immer hinter ihm steht und ihre Hände die ganze Zeit über auf seinen Schultern geruht hatten. Vielleicht ist ihre vertraute Berührung am Ende doch nicht nur eine unbewusste Geste gewesen, hofft er und wendet ihr überrascht den Kopf zu.
„Ich gebe ja zu, dass es im ersten Moment schwierig zu verdauen ist, aber habt ihr uns nicht beigebracht, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind? Was ist denn alles Gerede von Freiheit und Toleranz wert, wenn wir nicht mal imstande sind, die Entscheidung eines geliebten Menschen zu respektieren und seine Veränderung hinzunehmen? Ihr beide habt uns immer die Freiheit zur Selbstverwirklichung eingeräumt, habt uns immer darin bestärkt, Träume zu verwirklichen und das Unmögliche zu wagen. Warum sollte ich jetzt meinem eigenen Vater selbiges versagen? Auch ich bin nicht glücklich über seine Entscheidung, das Geschlecht zu wechseln, doch wenn nur das ihn glücklich macht, bin ich bereit damit zu leben“ und an Sabine gewandt: „und zwar ohne Abstriche in seinem Ansehen. Ich bin nur froh, dass Sabine und ich bereits ausgezogen sind; stellt euch vor, wie es wäre, wenn sich morgens vier übergelaunte Frauen, um ein Bad streiten. Und überhaupt, was ändert sich schon groß? Wir verlieren doch nicht den Vater, sondern gewinnen Mutter und Freundin.“
„Drehst du jetzt auch durch?“ schreit Sabine und ihre Stimme überschlägt sich. In ihren Augen flackert rasender Zorn. „Ich habe eine Mutter und hatte einen Vater. Ich will weder eine neue Mutter dazu, noch den alten Vater zurück. Das ist doch krank.“, wütet sie und verlässt abermals den Raum.
Elke beugt sich zu ihrem Vater hinab und schenkt ihm einen Kuss aufs lichte Haupt. Frank schließt die Augen, schweift ab und lässt sich davontragen, so dass er nicht sieht, wie Sabine, ihr kaltes Arbeitswerkzeug in der Hand haltend, ins Esszimmer zurückkehrt. Mit der ruhigen Entschlossenheit, die der Beruf sie gelehrt hatte, baut sie sich vor ihm auf und spricht ihr eigenes Recht: drei Richter aus galvanisiertem Blei urteilen über ihn und seinen Wunsch als Frau zu leben, dringen in seinen Unterleib ein, und zerstören unwiederbringlich den Teil seines Körpers, der eigentlich von der Verwandlung hätte unberührt bleiben sollen.