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Abschied eines Clowns
Stille.
Michael starrte auf seine Knie, die gefalteten Hände auf seinem Schoß, er knetete sie sanft mit den Fingern. Er bemühte sich, die Augenlider offen zu halten. Sie waren schwer, sehr schwer. Wurden immer schwerer. Dann das erlösende “Amen” in seinem Rücken. Sein einziger Sitznachbar in der ersten Reihe reckte sich. Michael schaute zu ihm rüber. Der imposante Bauch irritierte ihn erneut. Wann war Martin so fett geworden? Sie sahen sich nicht oft, vielleicht alle zwei bis drei Jahre. Das letzte Mal war allerdings lange her. Seit Mutters Tod vor vier Jahren hatte er mit ihm lediglich ein paar Mal telefoniert.
“Ich bitte nun die beiden Söhne Martin und Michael vorzutreten.”
Sein Bruder erhob sich und ging festen Schrittes auf den Pfarrer zu. Michael stand ebenfalls auf. Er spürte die bohrenden Blicke in seinem Rücken, blieb mit schlaff an den Seiten hängenden Armen und gesenktem Kopf vor dem Stuhl stehen.
“Kommen Sie auch vor, Herr Tanner”, sagte der junge Pfarrer. Er ging einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm milde lächelnd eine Kerze entgegen. Michael ergriff sie mit schweißnasser Hand. Er bemühte sich nicht zu zittern, als der Pfarrer die Kerze mit einem Stabfeuerzeug entzündete.
Langsam ging Michael dem Sarg entgegen. Er war froh, dass der Deckel geschlossen war. Das hagere, aschfahle Gesicht mit der spitzen Nase und den schlaffen Tränensäcken wollte er nicht noch einmal sehen. Das war nicht sein Vater. Es war nur sein Schatten. Die Hülle, die übrigblieb, wenn der Schmerz gewonnen hatte. Wenn die Lebensfreude versiegte. Wenn der Wille gebrochen war.
Michael stellte die Kerze vor den Sarg neben die seines Bruders, drehte sich um. Der breite Rücken von Martin verdeckte einen Teil des Raumes, doch er wusste, die Reihen waren voll besetzt. Alle Reihen, bis auf die erste.
Ihr Heuchler.
“Im Namen der Angehörigen möchte ich mich für die rege Anteilnahme bedanken”, hörte er jetzt die sonore Stimme seines Bruders durch den Raum hallen. “Mein Vater hat Euch geliebt. Euch, seine Gemeinde. So wie er Gott liebte.” Die nachfolgende rhetorische Pause ließ in Michael den alten Neid auf seinen älteren Bruder aufflammen. Martin war schon immer ein guter Redner. Selbstsicher wie Vater, sich seiner Wirkung gänzlich bewusst. Nie wortverlegen, nie zweifelnd.
“Er hat nicht nur sein ganzes Leben in Braunfelde verbracht, er hat für Braunfelde gelebt. Er liebte die Kirche, er liebte die Stadt. Er war für Euch da, in guten wie in schlechten Zeiten.”
Wieder diese Pause. Doch jetzt war es Wut, die in Michael aufstieg. In guten Zeiten? Wann waren die Zeiten zuletzt gut gewesen? Und was haben Sie seinem Vater als Dank zurückgegeben? Liebe war es nicht. Vor allem dann nicht, als er sie am dringendsten brauchte.
Die Mutter im Morgenmantel, das Haar zerzaust, die Füße nackt. Ihr Blick so leer wie der Inhalt der Worte, die sie vor sich hinmurmelte. Ein Teller fiel auf den Boden. Sie merkte es nicht, als sie über die Scherben lief.
Die Leute lachen, Michael.
Dieser eine Satz seines Vaters hatte Michael mehr getroffen als der Anblick der Mutter. Die Leute lachen. Michael hatte seinen Vater noch nie weinen sehen.
Ein schrilles Quietschen riss ihn aus den Gedanken. Er sah, wie sein Bruder die Hand vom Standmikrofon nahm und einen Schritt zurückging. Die Rückkopplung erstarb sofort.
“Und darum sollten wir nicht trauern, denn er hat seinen Frieden gefunden. Lasst uns stattdessen frohlocken und beten. Wir danken Dir, oh Herr, dass Du ihn zu Dir genommen hast.” Nach diesen Worten drehte sich sein korpulenter Bruder um und blickte ihn auffordernd an. Michael wusste, was jetzt von ihm erwartet wurde. Sie hatten es vorher kurz durchgesprochen. Nur ein paar wenige Sätze sollten auf Martins Rede folgen, mehr nicht. Ein kurzer Dank, ein aufmunterndes Schlusswort vielleicht.
Langsam ging er auf seinen Bruder zu, der zur Seite wich, um ihm das Mikrophon zu überlassen.
Die Gesichter, die Michael anblickten, waren fremd. Fremder noch, als sie aufgrund der langen Zeit sein sollten. Er hatte einige von ihnen erkannt, als er mit dem Pfarrer die Reihen durchschritt. Es waren sogar ein paar Klassenkameraden gekommen. Nicht viele. Hans war da. Und Thomas. Die meisten aber waren Freunde von Martin und Gemeindemitglieder. Viele Alte, die seinen Vater noch als Gemeindevorstand kannten.
Michaels zittrige Hand ergriff den Mikrofonständer, die trockenen Lippen näherten sich langsam der Schallmembran. “Es ist ein alter Mann gestorben”, flüsterte er, senkte den Blick.
Dann schaute er auf, die Stimme kräftig. “Ein Mann des Glaubens.” Er schluckte. Sein Griff um den Ständer lockerte sich kurz, wurde wieder fest.
“Und ein Mann der Ideale.”
Michael schaut in die Runde, zwang sich den Blick nicht abzuwenden. Da saßen sie. Taten, als hörten sie ihm zu.
“Mein Vater war jemand, der sein Leben für andere gab.”
Michael spürte das Hämmern seines Pulsschlags in den Schläfen. Die Knie zitterten, der Rücken nass. Er atmete tief ein und aus.
“Es ist ein Narr gestorben”, sagte er und ließ den Mikrofonständer los.
“Ihr dürft jetzt lachen.”