Abschied (Grabrede II)
Ein sonniger Märztag. Ein schöner Tag. Nicht warm, aber verheißungsvoll den Frühling ankündigend. Ich fröstele dennoch. Und wie sollte mir nicht kalt sein, hier, auf dem Zentralfriedhof, wo ich in wenigen Minuten mit eigenen Worten meinem Vater das letzte Geleit geben werde?
Ich sehe auf die Trauernden und denke an meine Rede, die ich, in schwarzen Karton eingeschlagen, untern Arm geklemmt habe, und bin froh, Lydias Hand halten zu können.
Da sind die meisten aus unserer kleinen Verwandtschaft. Da ist eine mir unbekannte Frau, die mir später als Freundin meiner jüngeren Schwester Heike vorgestellt wird, eingeladen, um meiner Schwester Halt zu geben. Da sind ein paar Gartenfreunde meines Vaters, mir ebenfalls unbekannt. Da ist nicht Frau – wie heißt sie doch? - Vaters Freundin, die offenbar nicht Freundin genug war, ihm nun die letzte Ehre zu erweisen.
Aber da ist auch nicht Mutter.
Ich bin unsicher, ob meine sehr persönliche Traueransprache diesen Menschen gefallen wird, die teilweise nichts von all den Hintergründen wissen, und von denen ich wiederum nicht weiß, in welcher Beziehung sie zu meinem Vater standen. Aber vielleicht saßen sie ja an langen lauen Sommerabenden in ihren Gärten nicht nur beieinander, um Würstchen zu grillen, sondern auch, um sich die verkorkste Vergangenheit in ihren Familien, mit ihren Kindern, zu erzählen. Ich weiß es nicht.
Diese Unsicherheit führt dazu, dass ich die Fragen des Friedhofspersonals, bezüglich des Ablaufs, nur als Rauschen wahrnehme. Ich hoffe, dass Christine, meine ältere Schwester, alles im Griff hat. So wie ich immer hoffe, dass sie alles im Griff hat, was unsere familiären Angelegenheiten betrifft. Ich halte Lydias Hand fester.
Kurz bevor wir alle uns in Richtung Trauerhalle in Bewegung setzen, ich bin überrascht, wie viele es geworden sind, kommt Vaters letzte noch lebende Schwester, Käthe, dazu. Sie überreicht uns ein Kuvert und sagt ein paar liebe Worte. Ihr Erscheinen tut mir gut. Und ich weiß nicht, warum. Wir hatten nie Kontakt zu Vaters Familie. Mutter wollte es nicht.
Weil ich fremden Menschen in solchen Dingen grundsätzlich misstraue – oder besser: wenig zutraue, habe ich auch eine eigene Trauermusik mitgenommen, die jetzt eingespielt wird. Gabriel Fauré, ein Stück aus seinem Requiem, was sonst.
Dann muss ich aufstehen, gehe nach vorn, beginne unsicher, mit Herzklopfen:
„Unsere Leben sind voller Schatten.
Schatten, über die wir nicht springen können.
Es sind die langen Schatten der Vergangenheit, die uns immer wieder einholen.
Am 28. Februar des Jahres 2002 hat die große Dunkelheit meinen Vater im Alter von fünfundsiebzig Jahren endgültig eingeholt.
Ich, sein drittgeborener Sohn, habe mich, als die Frage auf uns Geschwister zu kam, spontan entschlossen, selbst die Abschiedsworte zu sprechen, weil ich glaubte, es unserem Vater schuldig zu sein.
Ich schaffte es nämlich nicht, mich von ihm zu verabschieden. Zu schnell kam das Ende, selbst für ihn überraschend.
Gut, dass meine Schwestern bei ihm sein konnten.
Unruhig sei er in seinen letzten Momenten gewesen, erfuhr ich später. Als habe er gehofft, bestimmte Menschen noch einmal zu sehen.
Ich hätte eilen, sofort starten müssen, als ich mittags angerufen wurde, Vater wäre ins Krankenhaus gekommen, und es stünde schlecht um ihn.
Doch ich ließ mir Zeit.
Soviel Zeit, wie ich meinte zu brauchen, um die richtigen Worte für unser Auseinandergehen zu finden.
Diese Worte waren für mich von großer Bedeutung.
Ich wollte Vater wissen lassen, dass ich ihm unsere alten Zwistigkeiten nicht mehr nachtrage, dass alte Verletzungen verheilt sind und mein jugendlicher Zorn auf ihn längst einem reiferen Verständnis für ihn gewichen ist.
Auch, dass ich seinen Mut bewundere, mit dem er in den letzten Jahren noch einmal sein Leben frei gestaltete.
Aber - Was waren das für Schatten zwischen ihm und mir, die dreißig Jahre lang wuchsen und dabei immer länger und dunkler wurden?
Ich war ein neugieriges und auch vorlautes Kind, das viel wissen wollte und gern altklug seine Meinung zum besten gab.
So verstand ich es nicht, weshalb mein Vater, der einen klugen und wissenden Eindruck auf mich machte, mich oft für meine kindlichen Fragen schalt, oder sie schlicht ignorierte. Was wusste ich denn, über welche Themen Erwachsene nicht so gern reden?
Eines Tages fragte ich ihn ob es stimme, dass „Mobilmachung“ sei. Da war ich noch so jung, dass ich nicht einmal ahnte, welche Bedeutung das Wort hat. Ich hatte etwas aufgeschnappt und wollte es einfach nur verstehen. Dafür bekam ich von ihm eine Ohrfeige.
In der Schule entwickelte ich mich zum Klassenkasper, zum Rebellen. Entsprechend oft wurden meine Eltern von Lehrern heranzitiert, denn meine Entwicklung zu einer vorbildlichen sozialistischen Persönlichkeit schien gefährdet.
Dass Vater sich dabei immer auf die Seite der Schule gestellt hat, ohne meine Sicht zu erfragen, hat mein Vertrauen zu ihm tief erschüttert. Wir sprachen schon damals kaum noch miteinander. Er verstand mich nicht, und ich konnte für ihn keine Achtung mehr aufbringen.
Das I-Tüpfelchen war meine Wehrdienstverweigerung im Jahre 1983, woraufhin er vom Polizeidienst suspendiert wurde.
Seine Vorgesetzten riefen ihn damals während meiner Musterung zu Rate. Er solle auf mich einwirken, schließlich seien wir doch eine sozialistische Familie, beide Elternteile in der SED!
Und so tat er alles, um mich in einem zweistündigen Gespräch unter vier Augen, aber im Beisein eines Stasimannes, der, uns seinen Rücken zuwendend, daneben saß, von meinem Weg abzubringen. Denn man hatte ihm unmittelbar zuvor ansonsten mit der „Entlassung in Unehren“ gedroht.
Er sah leider den einzigen Schuldigen an diesem Dilemma in mir, nicht in dem ungerechten und unrechtmäßigen System, dem ich mich entgegenstellte.
Wir schrieben letztendlich ein Papier, in dem wir uns voneinander lossagten. In diesem unsinnigen Text, einzig erdacht, um Vaters Haut zu retten, lösten wir unsere Familienbande. Er wollte nicht mehr mein Vater sein. Und ich stimmte zu.
Genützt hat ihm das Papier nichts. Aber den Graben zwischen uns hat es noch ein wenig mehr vertieft. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst bekam ich meine erste eigene Wohnung.
Damit, so glaubte ich, wäre das Problem gelöst.
Aber Sich-aus-dem-Weg-gehen löst eigentlich nichts.
Wir wechselten in den folgenden sechs Jahren, also bis zum Herbst 89, kein direktes Wort mehr miteinander. Mutter war Mittlerin der wenigen Botschaften, die wir füreinander hatten.
Nach der sogenannten Wende änderte sich unser Verhältnis äußerlich sehr.
Menschen wie ich waren plötzlich gesellschaftlich anerkannt, also konnte ich mich auch wieder öfter bei meinen Eltern sehen lassen. Nein, ich spürte sogar, dass auch Vater sich nun über meine Besuche freute. Er fragte nach meinen politischen Aktivitäten, er erkundigte sich nach meinen persönlichen Umständen, er war interessiert und oft voll herzlicher Freundlichkeit.
Und ich?
Ich traute dieser Wandlung nicht. Ich lächelte hölzern, gab kurze, höfliche Antworten und ließ mich allenfalls auf ein Romméspielchen oder eine Würfelrunde ein.
Ich wurde älter, und ab 1992 versuchte ich mich selbst in der Rolle als Familienvater. Einer, der alles besser machen wollte, aber auch bitter scheiterte.
Vater lud uns in jenen Jahren immer wieder ein, zu ihm in den Garten zu kommen, ihn in seiner Idylle zu besuchen und uns von seiner Ernte beschenken zu lassen.
Ich wurde nicht warm. Als seltene Pflichtbesuche möchte ich meine damalige Beziehung zu ihm beschreiben.
Diese Beziehung schien undurchdringlich von den langen Schatten der Vergangenheit verdunkelt.
Bis zum 24. Dezember vorigen Jahres.
Da erlebte ich ihn zum ersten mal bewusst als gezeichneten, alten, kranken Mann. Sein Gang ins Krankenhaus beunruhigte mich, die kurz danach bekannt gewordene Diagnose und die folgenden Operationen taten auch mir weh.
Aber bei meinem ersten Krankenhausbesuch geschah eine wirkliche Wandlung.
Er erzählte von sich und ich lauschte.
Er war stolz auf sich.
So krank, wie er war, war er dennoch voller Begeisterung. Er erzählte mir, dass er vor einigen Wochen mit dem Rauchen aufgehört habe. Und wie er es angestellt hat.
Und wie er mit dem Rauchen überhaupt erst angefangen hat, in der Jugend, wo fast alle irgendwann damit anfangen. Dass es bei der Armee natürlich ganz automatisch dazugehörte, und wie er sich nach dem Krieg mit seinem Bruder Richard aus Kippen selbst welche gedreht hat, und dass er es toll findet, dass ich nie damit angefangen habe, und wie dumm er doch war...
Meine Augen bohrten sich in ihn, ich hatte Angst, er könne aufhören zu erzählen. Aber ich konnte nur wenig entgegnen. Das war in dem Moment auch gar nicht nötig, aber es wäre der beste Moment für mich gewesen, endlich ganz unmissverständlich für ihn auf eine der Brücken zu treten, die er mir nun schon seit Jahren bewusst oder unbewusst gebaut hatte.
Er reichte mir bei jeder Begegnung zaghaft eine Hand zur Aussöhnung – aber ich wollte es nie wahrhaben. Ich ging jedes Mal wieder in meine Schatten gehüllt von ihm.
Und so habe ich die letzte Gelegenheit verpasst, ihm zu sagen, dass ich ihn trotz allem wieder liebgewonnen habe.
Nun ist er fort.
Vielleicht aber ist der Tod nicht Dunkelheit.
Vielleicht ist das Sterben endlich der Moment, in dem wir doch über unsere Schatten springen.
Wenn es so ist, liegt die Hoffnung nahe, dass unser Vater jetzt im Licht ist.
Ich wünsche es ihm.“
Die letzten Sätze kann ich kaum noch aussprechen, zwinge mich, sie halbwegs verständlich herauszubringen, bin froh, als meine Zeilen am Ende sind.
Alle haben still zugehört. Ob aufmerksam, wohlwollend, oder mit einer Abneigung gegen das Gehörte, oder gar gelangweilt, kann ich nicht wissen.
Später, nach dem zu Grabe tragen der Urne, kommen einige der Verwandten zu mir, sprechen mir ihren Dank aus, geben mir zu verstehen, dass ihnen die Worte nahegegangen sind. Das sind vor allem die Jüngeren. Die vielleicht selbst noch unbewältigte Beziehungspakete mit sich rumschleppen, ohne zu wissen, wie sie aufzulösen sind. Die Älteren, sozusagen die Elterngeneration, kondolieren zurückhaltend, die Form wahrend.
Ich weiß nun, dass ich das Richtige gesagt habe.
Dann haben wir es hinter uns. Wir Geschwister verabschieden uns von den anderen, fahren zu einem Restaurant am Stadtrand, um im kleinen Kreise unserer Familien ein gemeinsames Mahl zu uns zu nehmen.
Während wir auf das Essen warten, erwähne ich, dass ich traurig darüber sei, Vater in seinen letzten Wochen nicht fotografiert zu haben. Christine sagt: „Schau mal, was Tante Käthe uns gegeben hat!“
Ich öffne das Kuvert. Es ist ein Foto von ihm darin. Er sitzt auf dem Krankenhausbett, hat keine Haare mehr, die Folgen der Chemotherapie. Ein ungewöhnlicher Anblick, obwohl er immer schon sehr schütteres Haar hatte.
Dieser kahle Kopf gibt ihm in meinen Augen etwas Majestätisches, finde ich. Wieder überrollt mich eine Welle der Traurigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass Vater mir je so nah war.
Und nie war er so weit weg.