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Abschied
Es dämmerte schon, als ich am Park ankam. Er lag inmitten der großen grauen Betonklötze, die als Wohnungen für viele tausend Menschen dienten. Es war kühl für einen Augustabend. Ein sanfter Wind streichelte meinen nackten Oberarm, als ich den Schotterweg entlangging- immer auf das sanfte Rot der Abendsonne zu. Die Blätter der Bäume federten sanft auf und ab im warmen Sommerwind. Es war friedlich still- in der Ferne hörte ich, wie einige Menschen lachten und sich unterhielten.
Ich fühlte mich wohl.
Nach kurzer Zeit gelangte ich zu den Baumstämmen, die als Sitz- und Klettermöglichkeit einmal auf eine Wiese vor eine Gruppe höherer Bäume gelegt worden waren.
Dort wartete, wie jeden Abend, Jens auf mich.
Er war- wie immer- schon vor mir da gewesen und erwartete mich nun. Er hatte seine grauen Shorts an, die ihn mit seinem verwaschenen roten T-shirt auf dieser unglaublichen, von der Sommersonne fast gold gebräunten Haut einfach perfekt aussehen ließen.
Seine blonden Haare waren zurückgegeelt und er starrte auf das Gras um ihn herum- verträumt.
Seine Haltung ließ vollkommene Versunkenheit erkennen- versunken in sich selbst wartete er doch nur auf mich.
Ich zog meine Sandalen aus und spürte das warme Gras unter meinen Füßen. Ich lief zu ihm. „Jens.“
Er blickte zu mir hoch. Ich stand jetzt vor ihm, die Sandalen in der Hand. „Wie lange bist du schon hier?“, fragte ich.
„Schon länger- ich wollte hier über etwas nachdenken.“
„Was ist denn los?“, fragte ich verwundert. Jens schien nicht so fröhlich, wie er den ganzen Sommer doch gewesen war. Irgendetwas schien ihn traurig zu machen, dass spürte ich genau.
„Was ist denn, Jens?“
„Wir können uns nicht mehr sehen.“, sagte er leise.
Ich riss meine Augen weit auf, unfähig sofort darauf zu antworten. Er meinte es ernst. „Wieso sagst du so was?“, brachte ich erschrocken hervor. „Magst du mich nicht mehr? Haben deine Eltern es dir verboten? Wieso denn? Wir sind doch nichtmal zusammen. Wir sind doch nur Freunde! Wieso sollten sie es dir denn verbieten. Oder habe ich irgendetwas getan? Das kannst du doch nicht machen, ich brauche dich...“, meine Stimme war tränenerstickt, denn er schüttelte nur traurig den Kopf. Ich konnte nicht weiterreden, ließ mich hilflos auf das Gras fallen und schaute vom Boden nun zu ihm, der auf dem Baumstamm saß, auf.
Tränen liefen mir über die Wangen, ich wischte sie weg. Warum sagte er nichts?
„Es geht nicht anders, Jule. Du weißt doch, dass ich dich lieber habe, als alles andere. Aber ich muss weg, mein Vater hat einen neuen Arbeitsplatz. Und wir müssen alle mit. Es geht nicht anders...“, er schaute mir ernst in die Augen. „Wein nicht. Das ändert nichts. Vergiss mich einfach nicht. Wir können uns ja schreiben, aber wir wohnen bald über 800 Kilometer entfernt von hier. Und morgen ziehen wir schon um. Wir können uns nicht mehr sehen.“ Ich glaubte, den Boden unter mir zu verlieren. Ein schwarzes Loch tat sich auf und verschlang alles Schöne und Gute an diesem Abend. Die Welt war mein Feind. Sie nahm mir Jens weg.
„Nein.“, stieß ich hervor. Wieso jetzt? Warum erzählte er mir das erst jetzt? Morgen schon? Das war doch kein richtiger Abschied, oder? Den ganzen Sommer hatten wir miteinander verbracht, wir hatten gelacht, lange geredet, waren bis in die Nacht am See geblieben. Wenn es Freundschaft gab, dann bestand zwischen mir und Jens.
Er schien zu erraten, was ich dachte: „Ich wusste es auch nicht früher. Mein Vater hat die Zusage erst vorgestern bekommen. Und meine Eltern haben es mir erst heute erzählt. Jule, es tut mir leid.“ Wieso tat er mir dann so etwas an? Wie gemein, egoistisch und gemein! Und wer dachte an mich? „So eine verdammt Scheiße!“, tobte ich. Ich war aufgesprungen und riss nun wütend die Blätter von den Bäumen.
„Jule, lass...“, rief Jens, „Das ändert doch nichts.“
Und wenn schon, für mich änderte das nämlich eine ganze Menge. Ich war verdammt noch mal sauer- zurecht – und dafür sollte alles und jeder meinen Zorn zu spüren bekommen.
„Jens!“, schnarrte eine kalte Stimme einige Meter entfernt. Sein Vater.
„Jens, du kommst jetzt sofort mit nach Hause.“, fuhr er ohne das Gesicht auch nur ansatzweise zu verziehen, fort.
Jens erhob sich langsam von dem Baumstamm. Er fasste in seine Hosentasche und zog sein Amulett mit der Perle hervor, dass er den schon seit unserer ersten Begegnung immer getragen hatte.
„Behalt das!“, raunte er mir zu und drückte es mir in die Hand. Sein Gesicht war nur noch wenige Millimeter von meinem entfernt. Ich konnte seine Wärme spüren, wollte ihn umarmen. Auch er umschlang mich mit seinen sonnengebräunten, starken Armen. „Jens, du darfst nicht gehen.“
Er drückte mich noch fester. Nur wir beide, nach uns die Sintflut. Mir war alles egal, ich wollte nur bei ihm sein.
„Du kommst jetzt mit.“ Sein Vater war jetzt auch herangekommen und fasste ihn hart am Arm.
„Ich werde schreiben!“, rief mir Jens noch über die Schulter zu, denn sein Vater zerrte ihn hinter sich her in Richtung eines der großen Betonklötze. Dann waren die Beiden hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.
Ich stand wie erstarrt da, das Amulett fest in meiner Faust. Hatte ich geträumt?
Nein, hatte ich nicht- am nächsten Tag waren Jens und seine Familie bereits am Mittag abgereist. Als ich an ihre Wohnungstür klopfte, was ich noch nie vorher getan hatte, machte niemand auf. Und eine Nachbarin bestätigte schließlich meinen Verdacht- Jens war weg.
Bis zum Ende des Sommers kam kein Brief von Jens, und als ich versuchte, herauszufinden, wo er hingezogen war, konnte ich nur herausfinden, dass sich die Familie nach Tschetschenien hin abgemeldet hatte. In die Heimat.
Jens hatte gelogen, oder hatte er es selbst nicht besser gewusst?
Ich bekam nie einen Brief von Jens. Kein Lebenszeichen. Keine Bestätigung, dass er mich nicht vergessen hatte.
Zwanzig Jahre später war ich glücklich verheiratet, hatte mit meinem Mann zwei kleine Kinder und lebte mit ihnen in einem eigenen Haus.
Es war Januar, draußen schneite es auf die eh schon verschneiten Straßen. Ich saß im Wohnzimmer. Wir hatten schon zu Abend gegessen, die Kleinen waren im Bett und ich saß, an meinen Mann gekuschelt, auf dem Sofa vor dem Fernseher.
Die Nachrichten begannen. Erst Meldungen über Landtagswahlen, verschneite Autobahnen, Verkehrsunfälle... das Übliche eben.
Und ein Beitrag über eine Geiselnahme in Russland. In einer Bank hatten etwa ein Dutzend Geiselnehmer die Angestellten und Kunden gefangen gehalten. Am Nachmittag hatte dann eine Stürmung durch russische Sicherheitskräfte stattgefunden. Viele der Geiselnehmer waren tot. Nur zwei konnten lebend gefangen genommen werden, einige waren aber auch wohl entkommen.
Der Kameramann schwenkte jetzt von dem Reporter auf die Geiselnehmer, die eben in Handschellen abgeführt wurden. Ich erschrak: Das war doch nicht...
Doch- nach genauerem Hinschauen war ich mir absolut sicher: Es war Jens´ Bruder. Mit Jens, seinem Bruder und noch ein paar anderen Jugendlichen aus dem Viertel, hatte ich bis zu jenem denkwürdigen Tag im August meine ganze Freizeit verbracht. Ich erkannte den Bruder zweifelsfrei wieder.
Er war älter geworden. Hatte jetzt einen Bart, zerrissene Kleider an und war im Gesicht, an Händen und Füßen mit Dreck beschmiert, der teilweise schon verkrustet an der Haut klebte.
Der Beitrag war zu Ende. Es ging weiter mit dem Wetter. Ich war geschockt. Hatte ich da grade einen Geist gesehen? War das Einbildung gewesen?
Noch bevor ich mich wieder sammeln konnte, klingelte das Telefon. Mein Mann nahm ab und hielt mir dann mit einem fragenden Gesichtsausdruck den Hörer hin: „Da will dich ein Jens sprechen.“