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Abschied

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27.05.2005
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Abschied

[edit: die ueberarbeitete Version der Geschichte findet sich hier]

Der Sprecher hatte schon begonnen, die Weiterfahrt des Morgenzugs für fünf Minuten später anzusetzen, als der Bus am Bahnhofstor noch Thomas, Martha und zwölf andere gnadenlos gehetzt und spät, heraus, hinein in diese Halle spuckte.

Weißt Du noch, welches Gleis?
Das erste, denke ich, aber besser, wir sehen noch mal nach, spricht sie.
Sekunde - die sagen es gerade durch: Abfahrt in fünf Minuten, Gleis eins.
Gut, dann haben wir noch etwas Zeit.
Schweigend wie schon im dichtgedrängten Bus zuvor geleitet Martha Thomas hin zum Gleis.

Thomas ist aufrecht. Seine Augen hüpfen von Gesichtern zu Dingen, tänzeln um die ersten Sonnenstrahlen und verirren sich mit ihnen in die Ferne, noch Abschied nehmend, schon aufbrechend, sehr gut gelaunt, von Sorgen frei.
Marthas Last trägt keine Tasche. Ihr Blick folgt seinem Schatten durch das letzte Licht der Leuchtstofflampen, versunken in Gedanken, in Worten, die noch sprechen müssen, ihr Notgepäck für triste Trennungsstunden.

Beider Schatten durchdringen einander, links von roter Sonne eingefasst am Rande der Geleise.

Thomas stellt die Tasche ab und wendet sich ihr zu.
Du wirst lange weg sein, sagt Martha.
Es sind doch nur vier Wochen, die gehn vorüber wie im Flug, sagt er, wobei schon spielerisch sein Blick bis hin zum Ende dieses Bahnsteigs läuft, zur Richtung, aus der der Zug bald kommen sollte. Doch Trübsal schweigt von dort zurück: Männer und zwei Frauen formen Traurigkeit am Totensarg. Sein Blick springt weiter in die Ferne, dem Zug entgegen, getrieben und gespornt, Gedanken an die Zukunft. Er wendet sich der Ankunft zu. Schultern schreiben T in diese Morgenkühle.

Martha senkt den Blick zu Boden, um näher dann neu aufzustehn:
Schreibst Du auch?
Sein Blick träumt schnell zu Ihr zurück.
Aber sicher doch, das habe ich noch jedes Mal getan, sagt er.

Sie weiß, dass eine Karte kommen wird, eine Karte voll mit Bildern, vorderseitig, wenig Worte nur dahinter, am ersten Tage abgeschickt, gewissenhaft, als Bote seines Trennungsschweigens das beide dann verstrickt, verknüpft, verwebt mit ihren Lebensfäden, die ganze Zeit, bis zum Moment an dem er wiederkommt.

Ich werde mir die Tage frei nehmen, wenn Du zurückkehrst, sagt sie.
Die Traurigkeit füllt ihr einen Becher Ahnung die Augen, Erinnerung an das Glück der ersten Jahre, als er nicht reisen musste - es fehlte nur an Geld.
Thomas Augen kneifen sich am Horizont den Punkt heraus, an dem der Kopf der Eisenschlange als Regenwurm bereits aus dem Boden hochgekrochen ist.
Schatz, das muss nicht sein - ich bleibe das nächste Mal länger zu Hause, sicher, sagt er beruhigend, obwohl er weiß, dass das nicht geht. Dunkle Melancholie mischt Grau aus rosa Morgenwolken, weil schattenhaft die Wärme der Erinnerung den kalten Glanz des Gelds zerschmilzt.

Ein Luftzug kühlt vorbei, spielt ihre Haare, als sie spricht: In zwei Wochen beginnt für unsere Kleine die Schule.
Durch ihr Gesicht schimmert Mutterstolz vom Lächeln ihrer Tochter in das Licht der Sonne, da sie nun vor ihm steht, doch Thomas studiert nur seine Spielzeugbahn am Horizont.
Ich weiß, aber das ist doch schon geregelt, sagt er, wobei sein Blick für den Moment bei seiner Frau verweilt.

Lisa würde sich aber sehr freuen, wenn Du ihr etwas schickst, sagt sie. Ich habe mich auch immer sehr gefreut, etwas von meinem Vater zu bekommen, damals als ich noch klein war.
Traurige Gedanken erwachen im Grab ihres Vaters, kriechen empor und suchen nach Liebe.

Ich habe schon daran gedacht, lügt Thomas, reflexhaft ohne Bindung, bei seinen Gedanken in der Ferne. Der nächste Moment schon weiß nicht mehr, was Martha eben wollte. Überrascht bemerkt er dann, dass ihre warmen Hände fest nach seinen Fingern greifen.
Kannst Du das machen, bitte, ihr zu liebe?

Ihre Hände greifen durch die Finger, graben grau nach diesen Bildern, die längst vergilbt nun farbig werden und ihr den Abend malen, an dem sie noch sehr klein gewesen, doch fast schon fünf, den einen Abend, an dem ihr Vater reiste, das letzte Mal verreiste, und sie mit Mutter hier am Bahnsteig stand, das allererste letzte Mal.

Aus den Stimmen, dem Gewirr, zerlösen sich die Worte, die Worte ihrer Mutter waren und fassen nach der Hand des Vaters: 'Pass auf Dich auf, Georg, ich liebe dich - '. Sie wusste nur, dass Papi fliegen musste, weit übers Meer bis hoch zum Himmel. Doch Mutter weinte nicht, nur Martha, weil Meer und Himmel sie erschreckten, so kalt und tief, so weit und fern.
Wann kommt Papi wieder, wollte sie nur wissen. In zwei Wochen, sagte die Mutter. Wie lange sind zwei Wochen, fragte sie. Eine Ewigkeit, sagte die Trauer.

Thomas sieht sie an, sieht in ihre Augen wie lange nicht, er sieht die Trauer tief darinnen, den Schmerz und ahnt, wie sehr sie ihn vermissen würde, dass Lisa nach ihm fragen würde, jeden Tag, an dem er nicht zu Hause ist. Der Druck der Hände bohrt die Fragen in ihn ein, das Quengeln kleiner Kindermünder, Kindersorgen, Kinderfragen, unschuldig oft am Tag gestellt. Er spürt die Last auf seine Seele drücken, er spürt die Bitte wesentlich und ernst, und weiß nicht mehr, was sie gesprochen, was sie zu ihm zuvor gesagt. Er fürchtet ihren Schmerz und spricht dann nur von seinen nächsten Wochen: Ja - ja, ich mach' das schon.

Leises Donnern seines Zuges mischt sich schon durch ihre Worte als sie sagt: Ist gut, sie vermisst Dich doch so sehr, und spricht dabei für sich, und weiß, es ist zu früh für Lisa, zu früh um fünf am Morgen, in dem Moment, in dem sie spürt, dass nur noch sie die Hände hält, seine kühlen Hände hält, die langsam ihr von selbst entgleiten.

Ihre Augen blinzeln vorbei an tiefer Morgensonne und beneiden noch den Schatten über Hals und Kinn, der mit ihm reist, sie küssen seinen Mund, auch seine Nase und die Augen, die erwartungsvoll an ihr vorbei die Ferne suchen, sie begrübeln noch die Stirn, in Fältchen quer durch seine Haare streichelnd, um zu den Augen heimzukehren. Wie sehr er meinem Vater gleicht, dem lieben Vater, der so alt wie Thomas war, so groß und kräftig, voller Leben.

Inmitten von Gedanken hört sie seinen Mund noch sagen, ich liebe Dich, ich lieb' Euch beide, den Mund, den sie noch küssen würde, den sie dann vermissen würde, vermissen nur die ganze Zeit.
Gib Lisa einen Kuss von mir, kommt es aus Nebeln, über denen eine Sonne sitzt, auf seiner Schulter, ein gelber Vogel mit einer Last so schwer wie Blei.
Seine Augen, sie sind ihr doch zugekehrt, als sie verspricht, ich liebe Dich.

Es ist der Luftzug, der sie sanft von hinten fasst, geschoben von dem Zug, der Luftzug, der sie leise an ihn drückt, in dem Moment, als er sich nach den Taschen bückt. Sie berühren sich noch sanft, noch einmal, sie blicken sich doch an, umarmend, und bleiben beide schon getrennt, da er die Taschen in den Händen hält.

Ich muss jetzt los, spricht er, die Schultern sind gedreht zur Tür, zum Einstieg, zur Gelegenheit des nächsten Wagens. Hastig bückt er sich zu ihr und küsst sie feucht auf ihren Mund, ohne Rückhalt, ohne Hände, die sie doch umfassen sollen.

Wie losgerissen steht sie da und und blickt ihm nach.

Thomas steigt dann in den Wagen und setzt sich hin, den Rücken schräg zu ihr gekehrt, wie Papa damals, denkt sie noch und sieht den Vater sich erheben, das Fenster öffnen, sieht, wie er die Hände ihrer Mutter nimmt, auch ihre Hände zärtlich streichelnd, und hört die Mutter dabei sagen: Pass auf Dich auf, Georg, pass auf Dich auf, ich liebe Dich so sehr, sie spürt den frischen Tränenzweig aus ihren Mutteraugen wachsen und rückwärts durch die Zeit auf ihres Vaters Händen blühen als Echo seiner Stimme aus dem Fenster, wo Thomas seine Zeitung liest, nichts ahnend seine Zeitung liest, im Zug, der eben losgefahren, weggefahren, weg von ihr, zu dem sie nur noch flüsternd spricht: Komm doch zurück, komm nur zurück, zurück zu mir - doch nur der Wind des Zugs spielt zärtlich noch mit ihren Haaren.

Martha muss nun heim zu Lisa, die noch schläft, der sie auch noch sagen muss, dass Thomas nicht gegangen ist, sie nie verlassen wird, und dass er wieder käme, bald schon wieder käme, zurück zu ihnen, immer.

 

Hallo Bernadette,

vielen Dank fuer Deinen Kommentar.

Nun zu den Details:

Ich wollte Esprit als synonym fuer Geist/Witz verwenden (wenn ich das darf). Daher ist vermutlich das schlafsuechtig mit einschlaefernd zu ersetzen. Ich werd' da nochmal drueber gruebeln und das abaendern, wenn ich weiss wie. Ratschlaege sind immer willkommen.

Das "somnambul" fiel mir einfach so ein. Ich glaube, ich habe das irgendwo bei Hesse aufgeschnappt. Fuer Lateiner sollte das Wort aber kein Problem darstellen :D
aehm, sollte es doch .. ? :sealed:

Zu viele Bilder. Hmmm. Was soll ich dazu sagen ...
Falsche Bilder - ok - aber zuviele?
Ich glaub' ich muss mir da einfach noch ein paar Wochen Abstand goennen, dann sagt mir mein eigener Gusto ob's zuviel war oder nicht. Als Autor ist das etwas schwer zu entscheiden, weil da ein bischen Vaterstolz noch mit dranhaeangt :D
Vielleicht kann mir ein weiterer Leser kurz helfen. Das waere super.

Das Bild mit den Sardinen?
Sagt man das nicht bei Euch: "wie Sardinen in der Dose" wenn man sich in einen ueberfuellten Bus quetscht. Sardinen werden gequetscht, wir quetschen uns "freiwillig" und manche Grossstadtmenschen kommen so zu ihren einzigen zwischenmenschlichen Kontakten, vermutlich :D

Kaffeesatz: Ich wollte das "kurzsichtige Kaffeesatzlesen" als bildhaftes Transskript von "oberflaechlich deuten" verwenden. Wenn man das nicht so versteht, dann muss ich das ausbessern. Eine weitere Meinung waere da super, weil mir die Stelle eigentlich gefaellt. Ich bin mir aber bewusst, dass sie missverstaendlich sein kann. Vielleicht finde ich da noch etwas besseres. Allerdings faellt grad nix besseres ein (ist ja auch schon halb eins in der Frueh')

Ach ja, der Transport ist ausgebessert.

Hinsichtlich der Interpretation der Geschichte bist Du sehr nahe an das gekommen, was ich aussagen wollte. Das freut mich, insbesondere, weil das zuvor nicht so klappte.

Vielen Dank noch einmal fuer Deine Hilfe.

Lieben Gruss,

sarpenta

P.S: Ich versuche jeder Geschichte einen eigenen Stil zu geben. Daher musst Du Dich nicht vor vielen Metaphern in anderen Geschichten fuerchten ;)
Die werden ganz anders klingen - und sicherlich auch weniger trist ausfallen.

 

hallo sarpenta,

es kommt wirklich selten vor, dass ich eine geschichte für so gut befinde, wie ich es in deiner urfassung getan habe. das scheint dich aber wenig beeindruckt zu haben (was es auch nicht muss), so dass du eine völlig neu überarbeitete version erstellt hast. ich verstehe nicht, wieso du das getan hast. denkst du wirklich, du kannst eine schon schöne geschichte noch schöner machen, indem du eine andere geschichte schreibst? die gefahr, dass du dich dabei in übertreibungen verirrst, ist da sehr wahrscheinlich und auch hier eingetroffen. metaphern hängen wie überreife trauben schwer bis zum boden. natürlich, der erzählstil war der träger für deine erste fassung, aber deine geschichte wird auf keinen fall besser, wenn du eine neue version schreibst, die du dann mit metaphern überlagerst.
sicherlich sollte man kritikermeinungen ernst nehmen. aber genauso solltest du kritiken kritisch gegenübertreten. auf keinen fall solltest du versuchen, jedem kritiker es recht zu machen und deshalb dauernd an der geschichte feilen. deine urversion war und ist sehr gut. in ihr hättest du nur noch einige erklärung/klärungen einbauen müssen. in deiner neuen version bleibt der leser immer noch fragend zurück. die probleme, die deine erste fassung hatte, hast du in der 2. fassung nicht gelöst. also wo soll der sinn in dieser version sein?
nicht dass wir uns missverstehen, die zweite version ist durchaus gelungen und lesenswert, aber m.e. steht diese nur im dunkelsten schatten der ersten version, die in sich wesentlich runder ist.
bei geschichten und kritikern ist es so, dass man ein leben lang an einer geschichte basteln könnte, wenn es nach den kritikern geht. es ist kug, wenn eine geschichte im grunde schon gelungen ist, nur das offensichtliche zu verbessern und dann, wenn keine offensichtliche probleme mehr da sind, zu sagen, dass die geschichte steht und abgeschlossen ist. solltest du dann noch energie und ideen haben, die du in eine zweite version stecken möchtest, dann schreibe eine neue geschichte. zum beispiel eine geschichte, in der der mann in den krieg ziehen muss. da ist eine menge potenzial drin für deine metaphern.

im einzelnen:

Somnambule

warum dieses fremdwort? es wäre schön, wenn die deutsche literatur ohne fremdwörter auskommen könnte, wenigstens dann, wenn es deutsche bezeichnungen dafür existieren. ausserdem wählst du mit fremdwörtern eine engere leserschaft. schlafwandeln?

Beider Schatten durchdringen einander, links von roter Sonne eingefasst am Rande der Geleise.

es ist meine persönliche meinung, das "Geleise" zu poetisch ist in einem text, der zwar mit metaphern glänzt, aber weitgehenst auf poetische wortkonstruktionen verzichtet.

Thomas setzt seine Taschen ab und wendet sich ihr zu.

mittlerweile ist das wort "Taschen" zu oft gefallen, so dass dem leser ein abwechslung gut tut. "Bündel", "Gepäck"

Pass auf Dich auf, Georg, ich liebe dich

"Dich" klein

Leises Donnern des Zuges mischt sich schon in ihre Worte als sie sagt

vor "als" besser ein komma

Ist gut, sie vermisst Dich doch so sehr.

"Dich" klein ausserhalb von briefen

ich liebe Dich, ich lieb' Euch beide,

"Dich" und "Euch" klein

Pass auf Dich auf, Georg, ich liebe Dich so sehr,

"Dich" klein

zu dem sie nur noch flüsternd spricht: Komm doch zurück, komm nur zurück, zurück zu mir.

Doch nur der Wind spielt zärtlich noch mit ihren Haaren.


3 mal "nur". das erste "nur" könnte ganz wegfallen. das 3. "nur" könnte ein "allein" sein

fazit:

ein gekonnter erzählstil, mit übertriebenen vielen wenn auch oft sehr schönen metaphern. aber diese zweite version kommt an die erste nicht heran.

bis dann

barde

 

Eigentlich haben bernadette und Barde schon ziemlich alles gesagt, was ich auch sagen würde, aber weil, du, sarpenta, Wert darauf legst, auch andere Stimmen zu hören, kann ich nur bestätigen, daß in deiner Geschichte zu viele Metaphern drin sind, vor allem der erste kursive Abschnitt ist überladen. Ich würde ihn komplett streichen, denn er tut so gut wie nichts zu der eigentlichen Geschichte beitragen, ich kann dir versichern, niemand würde ihn vermissen.

Überhaupt finde ich, daß die kursiven Einschübe des Kursiven nicht bedürfen, denn du wechselst ja die Erzählperspektive, dann ist es klar, wessen Gedanken und/oder Erinnerungen das sind. Im allgemeinen mag ich Perspektivwechsel nicht – sie zeugen für mich nur von der Unfähigkeit oder der Bequemlichkeit des Autors, für die Geschichte wichtige Dinge anders zu sagen. Natürlich gilt das nicht absolut, vor allem bei längeren Geschichten und Romanen nicht, aber bei so kurzen Geschichte müßte möglich sein, auf sie zu verzichten, allerdings müßte man sich vorher genau überlegen, in wesen Kopf man am besten schlüpft.

Die Geschichte voll aus dem Leben gegriffen, im realen Leben gibt es sie zu Tausenden, natürlich mit großen oder kleinen Variationen, will sagen, auch ein Angestellter, der morgens zur Arbeit fährt und abends nach Hause kommt, ohne daß er zwischendurch eine Minute an seine Frau und/oder seine Kinder gedacht hat, gleich deinem Prot mehr, als manchen von uns lieb sein kann. Aber so sind wir Männer, wir müssen uns draußen in der Wildnis auf die Beute konzentrieren, würden wir uns von anderen Dingen abhalten lassen, die Beute würde uns entwischen oder wir selbst würden zur Beute werden. :D

Ansonsten besticht deine Geschichte durch die Ehrlichkeit – die Dinge nehmen einfach ihren Lauf, da nützt auch das Wissen um den Zustand der Ehe nichts.

Dion

 

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