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Abschied
Blasen auf der Seele. Ein zerrissenes Tuch über der Stuhllehne. Kaffeeduft und abgestandener Zigarettenqualm. Niemand öffnet hier ein Fenster. Viel Staub auf den Büchern. Ein leerer Vogelkäfig auf dem Wohnzimmerschrank. Fettflecke auf dem Bildschirm des Fernsehers. Merkwürdig, daß die Zimmerpflanzen noch nicht vertrocknet sind. Merkwürdig, daß hier alles noch so aussieht, als ob nichts geschehen wäre. Oder ist es nur merkwürdig, daß ich es merkwürdig finde? Ist es wieder nur so, daß ich der einzige bin, der etwas merkwürdig findet? Ist es denn etwa nicht merkwürdig, wenn plötzlich jemand, der eben noch anwesend war, nun in einer Holzkiste liegt, die mit einem eigenartigen Ritual in eine Grube versenkt werden wird und die dann mit der aufgehäuften Erde wieder zugeschüttet wird? Ich finde es schon merkwürdig, daß ich ganz deutlich die Stimme höre, die mich aus dem Nebenzimmer ruft. Ich gehe hin und natürlich ist dort niemand. Ich lache über mich und fange an zu weinen.
Am Fenster stehe ich, berühre die Gardinen, sie riechen nach kaltem Zigarettenrauch. Auf die eingesessene Couch setze ich mich, ziehe die fleckige Tischdecke gerade, da liegt ja noch das angebrochene Päckchen Papiertaschentücher auf dem Tisch, der Aschenbecher, die Urne zu Lebzeiten. Vorhin, beim Briefkastenleeren, als ich den neuen Modekatalog in Händen hielt, dachte ich noch, da wird sie sich aber freuen und erschrak über diesen Gedanken. Im Schlafzimmer starrt mich das leere Bett an, die Schlafdecke halb zurückgeschlagen, auf dem Nachtschränkchen die Flasche Wasser, das leere Glas, Papiertaschentücher, ein Fieberthermometer, die angebrochene Packung Tabletten. Ich ziehe die Gardine zurück und fordere das Tageslicht auf, in diese Öde einzudringen und die traurigen Geister zu vertreiben. Aber bald merke ich, die Öde ist ja in mir und welches Licht kann da eindringen?
Ich gehe in der Wohnung herum wie in einem lange vorher geträumten Traum. Nachher stehe ich auf dem Balkon und atme frische klare Luft. Der Gartenstuhl lehnt zusammengeklappt an der Seitenwand, an jener Wand, an der ich einst den großen Topf mit der mühsam aufgezogenen Hängegeranie angebracht hatte, damals, an einem Sommersonntag mit Kassler und Sauerkohl und hinterher die Rote Grütze mit Vanillesauce. Nie wieder! Und merkwürdig, wie sie dennoch anwesend zu sein scheint. Irgendwann stehe ich vor ihrem Kleiderschrank und schrecke davor zurück die Sachen zu berühren. Ich krame in den Schubkästen herum, Ordnung war nie ihre Stärke, wie konnte sie meine werden. Ich entdecke Utensilien, die ich ihr mitgebracht hatte, von meinen weiten, fernen Reisen, von Orten, von denen sie nur aus dem Fernsehen oder dem Kreuzworträtsel gehört hatte. Diese Reise wird sie zu dem von Menschen entferntesten Ort überhaupt führen, von dort aber wird sie mir keine Nachricht senden können, von dort gibt es keine Ansichtskarten, keine Souvenirs. Ich durchschreite die Wohnung, ich weiß nicht wie oft, alles ist mir so nah und fern zugleich. Ich sehne mich nach ihr, nach ihren Geschichten, nach all dem unsinnigen Klatsch und Tratsch über Nachbarn und lästigen Familienangehörigen. So viel ich mich auch sehne, sie wird ja nicht mehr zu mir sprechen.
Ich bleibe in der Wohnung bis es dunkel geworden ist, ich schalte das Licht nicht ein, ich sehe aus dem Fenster wie die Lichter in den anderen Wohnungen aufleuchten. Bevor ich gehe flüstere ich ihren Namen, als ob ich einen Schlafenden nicht wecken will. Es gibt viele Arten, Abschied zu nehmen. Der Kopf nimmt Abschied, das Herz aber…ah