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Abschied
Ich war wie gelähmt. Vermochte es nicht, mich auch nur ansatzweise zu bewegen. Dabei gab es keinen Grund mehr, wie verwurzelt sitzen zu bleiben. Trotzdem hatte ich noch Angst und saß im alten Sessel.
Es war kein richtiges Sitzen, eher eine Mischung aus sitzen und liegen. Es war nicht besonders bequem, aber so bin ich in den Sessel gestürzt, und seitdem habe ich mich nicht mehr bewegt. Keinen Zentimeter. Regungslos. Jeder Teil meines trostlosen Körpers. Wenn mich jemand so gesehen hätte, hätte er gedacht, ich wäre tot.
Aber tot war ich nicht. Nein. Denn wenn ich tot gewesen wäre, hätte ich nicht diese Schmerzen gespürt. Sie waren nicht so stark, dass ich zum Arzt müsste oder irgendwelche Medikamente bräuchte. Nein. Aber sie waren stark genug, um zu wissen, dass ich nicht tot war. Ich wusste sofort, diese Schmerzen werden sich in mein Gedächtnis einbrennen.
Aber irgendwann musste ich aufstehen. Außerdem war er auch schon seit über einer halben Stunde weg. Glaubte ich, man hat kein Zeitgefühl, wenn man nur mit seinen Gedanken beschäftigt ist.
Zuerst ging ich ins Bad, um mich im Spiegel zu betrachten. Die Silhouette seiner Handfläche konnte man in meinem Gesicht deutlich erkennen. Fast meine gesamte linke Gesichtshälfte war rot.
Ich legte meine Hand auf den Abdruck seiner. Mein Gesicht war warm, sogar heiß. Und taub war es auch.
Dieses Gefühl kannte ich nicht. Es war fast wie beim Zahnarzt. Wenn man dieses Gefühl nach dem Zahnarztbesuch hat, weiß man, dass einem geholfen wurde. Aber mir wurde nicht geholfen. Vielleicht fühlte es sich deshalb auch anders an.
Was sollte ich jetzt tun? Es gab zwei Möglichkeiten, das war mir klar. Bleiben oder Gehen? Flüchten oder der Gefahr stellen? Schwarz oder Weiß?
Es war schließlich das erste Mal, dass er mich geschlagen hat.
Aber wer einmal zuschlägt, der schlägt auch ein zweites, drittes und tausendstes Mal zu. Das war mir klar. Und wer weiß, ob er eines Tages auch Elwin schlagen wird. Oder Elwin könnte denken, es wäre in Ordnung, Schwächere zu schlagen.
Wahrscheinlich hatte er einen harten Tag bei der Arbeit. Aber die hatte er früher auch schon, und trotzdem ist er nie so ausgerastet wie heute.
Das Beste wäre, wenn ich erst einmal hier ausziehe, mit Elwin. Natürlich mit Elwin. Aber wohin? Tina würde uns sofort bei sich unterbringen. Keine Frage. Auf sie kann ich mich immer verlassen. Aber zu ihr wird Felix sofort fahren. Er weiß, dass ich immer zu ihr gehe, wenn es mir schlecht geht.
Aber wie soll ich unser Leben finanzieren? Mit meiner abgebrochenen Lehre stellt mich niemand ein. Und welcher Mann füttert schon eine Frau mit Kind durch, so wie Felix es gemacht hat? Aber es wäre immer noch besser, in Armut zu leben, als in Gewalt. Vor allem für Elwin.
Ich könnte auch zurück zu den Eltern. Mit 22 wohnen viele noch bei ihren Eltern. Mein altes Zimmer ist auch noch so wie früher. Voll mit Popbandpostern und rosa tapeziert. Aber damit würde ich sie nur bestätigen, dass er nicht der Richtige für mich ist. Wie sie es von Anfang an gesagt haben.
Ich ging zu Elwins Bettchen und nahm ihn auf den Arm. Er schlief weiter. Ruhig und friedlich schlummerte er. Mein kleiner Engel. Mein Fels in der Brandung. Ein Wunder, dass so ein kleines Geschöpf mir so viel Kraft geben kann.
Wir könnten auch nach Nürnberg, zu Ingo. Er hat früher immer auf mich aufgepasst und mich beschützt. Aber seit seiner Hochzeit im Mai habe ich nicht mehr mit ihm telefoniert. Ich bin wohl keine sehr gute Schwester.
Selbst wenn ich bei Ingo unterkommen könnte, Felix hat bestimmt die Tür abgeschlossen, damit ich ihn nicht verlasse.
Mit Elwin im Arm ging ich langsam zur Tür. Bei jedem Schritt änderte ich meine Meinung, ob es besser wäre, wenn die Tür offen oder verschlossen sei.
Ich holte tief Luft, meine Hand näherte sich wie in Zeitlupe dem silberfarbenen Türgriff. Behutsam drückte ich das kalte Stück Metall hinunter. Es schien, als wäre es viel schwerer als sonst, die Türklinge zu betätigen. Gespannt wartete ich auf das Geräusch, das entsteht, wenn sich der Verschluss der Tür öffnet. Langsam zog ich die schwere Tür auf und blickte ins helle Treppenhaus. Zögerlich machte ich einige Schritte vorwärts. Es war ruhig. Absolute Ruhe. Nichts, einfache Leere.
Sollte ich wirklich gehen? Ihm wird es bestimmt Leid tun. Es wäre bestimmt besser, wenn ich noch mal mit ihm über alles rede.
Dann schloss ich die Haustür und brachte Elwin zurück in sein Bettchen.