Absolution
„Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt“, so beginnt es eigentlich immer. Seit achtundzwanzig Jahren schon nahm er tagein und tagaus die Beichte seiner Schäfchen ab. Pater Thomas sollte eigentlich nichts mehr erschüttern, er hörte sich die schmutzigen Liebeleien der halben Gemeinde an, die Tablettenabhängigkeit der Bürgermeisterin und den millionenschweren Versicherungsbetrug des reichsten Mannes der Stadt, des tugendhaften Mr. Elliots. Manchmal wunderte es ihn geradezu, das sich noch nicht der wahre Mörder Kennedys bei ihm in den Beichtstuhl setzte.
“Erzähl von deinen Sünden, mein Sohn“. Der Pater formulierte es in jahrelanger Routine gutmütig, voller Verständnis. Durch das verschnörkelte Gittermuster, das die Kammern und ihn von dem Sünder trennte, sah er den schemenhaften Umriss des reuevollen Mannes, der seine Stimme zu ihm hob: „Ich bekenne vor dir, Herr im Himmel, all meine Sünden. Und ich habe gesündigt, oh ja, gesündigt und gebrochen mit den Geboten, die du uns in deiner Güte brachtest. Einst trat ich ein in deine Hallen um Erlösung zu finden in einem Leben der Enthaltsamkeit, dir allein zu dienen und zu huldigen. Und es war gut so. Für einige Zeit. Bis man mir riet, hinauszugehen und mich den armen Seelen dort draußen anzunehmen, sie zu leiten und zu lehren deine frohe Botschaft. Meine erste Sünde war mein törichter Hochmut, ich könne den Menschen dort draußen den Frieden bringen.“
Für einen Moment stockte Pater Thomas der Atem. War es möglich, ein ehemaliger Priester? Hier an seinem Beichtstuhl? Seit langer, langer Zeit horchte er aufmerksam einer Beichte.
“Anfangs schien es so, als ob ich einige Seelen erreichen könnte. Doch, dein Haus war nie voll, während ich aus der heiligen Schrift las. Stattdessen herrschte allzu oft gähnende Leere in den Bänken und die Stille drohte mich zu erdrücken. In den Blicken der Menschen konnte ich keine Ehrfurcht und keine Liebe lesen für dich und deine Botschaft. Sie verstanden sie nicht. Nur, konnten sie es nicht oder wollten sie es nicht? Schon wieder sündige ich, oh Allmächtiger, indem ich dem Zweifel erliege. Vergib mir, dabei ist mein Bekenntnis noch nicht einmal beendet.
Es begann, als Sie in meine Gemeinde kam. Sie war noch fast ein Kind im Zuge einer alten Witwe, die meine Messe regelmäßig besuchte und eines Nachts im strömenden Regen an meine Schwelle trat. Schwach und kränklich erschien mir dereinst das Mädchen und allein um Ihretwillen ließ ich sie bei mir unterkommen. In tiefster Nacht gestand mir die alten Frau, das sie in tiefster Sorge um das Mädchen war. Nahezu besinnungslos lag sie auf ihrem Bette, ihre Hände und Füße in blutgetränkte Mullbinden gehüllt. Erst meinte ich, sie empfinge das Stigmata, doch dies war ein trügerischer Schluss. Sie zog sich diese Wunden zu, als der Teufel in sie fuhr und mit ihr Unzucht triebt, so meinte die alte Frau. Oh Herr, ich schauderte dereinst, doch das Unheil berührte mich nicht, stattdessen betörte mich ihre Schönheit. Mein Herz erlag ihrem seligen Lächeln, das doch nur dir allein gehören sollte. Mein Fleisch, es war so schwach, so unwürdig in deinem Namen zu dienen. Ich versprach der alten Frau, mich um sie zu sorgen und mich ihrem Leid anzunehmen. Auch sie war schwach und verblendet, denn sie glaubte mir. Es benötigte einige Tage, ehe der nächste Exorzist zu uns kommen konnte, so gelang es mir des öfteren an ihrem Bette auszuharren, ihren fiebrigen Träumen zu lauschen, mit ihr in klaren Momenten zu unserem Herrn zu beten und ihre hässlichen Wunden zu versorgen. Ihre Haut, oh Herr, ich sehe sie noch heute genau vor mir, glänzend vor Blut und Schweiß. Mehr als einmal war ich versucht, meine Lippen auf die Wunden zu pressen, diese blutigen Münder die zu mir sangen und sprachen.
Schande über mich, oh Herr!! Denn eine Nacht, bevor der Exorzismus stattfinden sollte, erlag ich der Versuchung dieses Weibes. Sie zog mich zu sich, mit schier unmenschlicher Kraft und ich ließ mich bei ihr nieder. Ihr Schweiß mischte sich mit meinem Schweiß, ihr Blut mischte sich mit meinem Blut. Es kam einer Offenbarung gleich. Und als ich erschöpft in den feuchten Laken lag und sie auf mir saß, noch immer ihren teuflischen Tanz aufführend, da offenbarte sich mir der Dämon der in ihr steckte. Oh ja, er steckte in ihr, schon immer. Mir war, als würden Engel meine müden Hände führen, als ich sie um ihren Hals schloss und zudrückte. Es war alles andere als leicht, sie wehrte sich wie eine Besessene, was sie ja auch war. Ich drückte sie in die Laken und schnürte ihr mit aller Kraft, die du mir gabst, die Luft ab. Sie sah so friedlich aus, als das Leben aus ihrem Körper glitt. Ich konnte es spüren, Vater, ich könnte es spüren. Nur ihre Seele, die wollte ich nicht gehen lassen. Sie sollte mich für immer begleiten, ja, das flüsterten mir die göttliche Gegenwart zu. Ich nahm das Messer ihres letzten Abendmahls und begann ihr die Haut abzuziehen, ein Streifen nach dem anderen. In einem Koffer schichtete ich die blutige Haut aufeinander, meine einzige Habe die ich außer ein wenig Geld mit mir nahm. Im Morgengrauen ließ ich meine Gemeinde hinter mir und schlug mich in die Wälder. Man suchte mich tagelang, doch fanden sie mich nicht. Ich harrte in einem alten Hochstand aus und ließ dort die Haut trocknen. Meine Sinne waren wie taub, ich aß und trank nichts, mehrere Tage. Mir fehlte irgendwann gar der Atem, um zu beten. Ich fühlte mich so leer und so verlassen, so kalt und so ausgelaugt, so schmutzig und so hilflos. Doch erneut führte mich eine unsichtbare Hand, sie ließ mich aus der trocknen Haut des schändlichen Weibes etwas knüpfen. Im Morgengrauen erkannte ich erst, was es war. Eine Geißel, ja, eine Geißel hielt ich in meinen Händen, aus der Haut des besessenen Mädchens. So schön, so geschmeidig. Sie roch so gut. Und als ich sie aus Ehrfurcht küsste, spürte ich die Seele, die noch immer darin gefangen war. Ein wahres Wunder, so erschien es mir. Die Geißel flüsterte mir Dinge zu, unheimliche, unglaubliche Dinge. Sie hieß mich, mich selbst für meine Sünden zu geißeln und auszuziehen, all jene zu geißeln die wider der Schöpfung waren, all schändliche Sünder die dem Zorn Gottes bisher entgehen konnten. Dies sollte meine Buße sein, für all meine Sünden. Von jetzt bis in alle Zeit.“
„Maria Mutter Gottes ...“, flüsterte Pater Thomas atemlos. Jegliches Blut war aus seinem Gesicht gewichen, er fröstelte. Nicht fähig, sich zu rühren. Er wollte wegrennen, die Polizei verständigen oder sonst jemanden. Doch die Furcht presste ihn in seinen Stuhl. Durch das Gitter sah er sich einem Sünder gegenüber, wie er noch keinem zuvor begegnet war. Konnte man so jemanden überhaupt noch als Menschen bezeichnen? Ihm kamen die Bilder über den St. Matthew – Mord in den Sinn, der nicht einmal einen Monat durch die Nachrichten geisterte. Nur machte ihm dies nicht so viel Angst wie der lodernde Blick des Mannes, der sich durch die Schatten des Beichtstuhls brannte. Ein irrwitziger Hoffnungsschimmer flammte in ihm auf, er könne ihm seine Sünden nehmen und ihm Vergebung schenken. Mit bebender Stimme begann er: „Wenn deine Beichte damit beendet ist, dann bete mit mir: Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Amen.“
Der Sünder sprach es Zeile um Zeile, Wort für Wort mit ihm. In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Dankbarkeit und Ehrfurcht mit. Mit neuem Mut fuhr Pater Thomas nun fort, in Gedanken um sein eigenes Leben betend: „Gott sei dir gnädig und stärke deinen Glauben! Du sollst gewiss sein, dass die Vergebung, die ich dir zuspreche, Gottes Vergebung ist. In der Vollmacht, die der Herr seiner Kirche gegeben hat, spreche ich dich los: Dir sind deine Sünden vergeben. Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
„Danke, oh Herr“, klang es schon fast gerührt aus dem Munde des Sünders.
Pater Thomas schloss mit dem Segen: “Es segne und behüte dich der allmächtige und barmherzige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gehe hin im Frieden.“ Er hoffte inständig, das der Mann dem nachkäme. Die Minuten dehnten sich ins unermessliche und das Herz des Paters schlug ihm schon beinahe schmerzhaft gegen die Brust, schneller und schneller. Dann hörte er ein Rascheln, als der Fremde durch den Vorhang glitt und den Beichtstuhl hinter sich ließ. Er hörte die Schritte des Geläuterten durch die Kirche hallen, sie entfernten sich schnell. Pater Thomas traute sich erst eine halbe Stunde nachdem das Kirchentor zuschlug aus dem Beichtstuhl heraus. Sich an seinem goldenen Kreuz festhaltend eilte er zum Tor um nach draußen zu gelangen, so schnell es nur ging zu seinem Wagen und nach Hause. Nur nach Hause. Er schämte sich dafür, doch er fühlte sich in Gottes Haus auf einmal nicht mehr sicher.
Draußen pfiff ein eisiger Wind vom Meere her, der an den Ästen der alten Weide herumriss. Es war noch nicht wirklich spät und doch schloss er das Tor hinter sich zu. Seinen Mantel ließ er in der Kirche liegen, trotz der Kälte. Eilig lief er unter dem überdachten Torbogen nach draußen, seine Schuhsohle näherte sich schon der ersten Stufe der Kirchentreppe. Er sollte sie nie mehr erreichen.
Ein Geräusch, das an das Schnalzen einer Zunge erinnerte, nur hundertmal lauter, gellte durch die Luft. Etwas raues, ledernes schlang sich um die Kehle des Pfarrers. Die Stränge schienen sich wie von selbst um seinen Hals zu ziehen, einem Knebel gleich legte sich einer um seinen Mund und ein anderer quer über seine Brust. Enger und enger schnürte sich das Leder, quetschte die Luft aus seinen Lungen und schnitt durch den Stoff, schabte an der alten Haut. Der Schmerz fraß sich durch sein Fleisch, seinen Verstand, hinab in seine Seele. Dem Pfarrer offenbarte sich der Irrsinn eines Schreckens, der mit einem Male wirklich geworden war. Sein geschundener Körper schlug gegen die Säulen des Torbogens, als man ihn nach oben zog.
Gut fünf Meter über dem Boden baumelte Pater Thomas, hilflos und im Begriff, jeden Moment zu ersticken. Die ledernen Stränge zwangen ihn auf einmal, nach oben zu sehen und etwas in ihm sträubte sich für den Bruchteil einer Sekunde dagegen. Er fürchtete, was er sehen würde. Und er sah dort oben den Fremden, wie er auf dem Torbogen kniete und ihn an einer ledernen Geißel mit einer einzigen Hand hielt. Die ledernen Stränge, die dem Griff dieses archaischen Folterwerkzeugs entsprangen, hielten ihn wie eine Marionette in der Luft. Pater Thomas blickte in ein ausgemergeltes, bärtiges Gesicht. Die braunen Haare hingen ihm ellenlang und ungekämmt ins Gesicht, das mit unzähligen Narben durchzogen war.
Mit einem Lächeln auf den aufgesprungenen Lippen richtete der Fremde das Wort an ihn: „Pater Thomas, ich stehe in eurer Schuld dafür das ihr mir die Beichte abnahmt. Es lastete schwer auf meinen Schultern, doch nun fühle ich mich frei, so frei wie schon lange nicht mehr. Dennoch, ich habe eine heilige Mission, dort draußen gedeiht noch immer die Sünde und die verlorenen Seelen der Menschen schreien nach Erlösung. Ich werde ihnen entgegenkommen, oh ja, das werde ich. So wie ich ihnen entgegenkommen werde. Wissen sie, was mir meine geliebte Geißel mir erzählte? Sie erzählte mir von ihren kleinen Spielchen mit den Messdienern und den Chorknaben. In der leeren Kammer, in ihrer Kirche. Ich kann sie sogar durch die Felsen dieses Gotteshauses hören, Pater Thomas. Der Boden trank ihre Tränen, die Wände lauschten ihren Schreien. Es waren so viele. So viele. Ja, das Fleisch ist schwach. Möge ihre Seele im Fegefeuer ihre Erlösung finden.“ Langsam zog er ihn höher, ein Liedchen summend. Erneut wurde sich Pater Thomas des Feuers in seinem Blick gewahr. Es war der Wahn.
Im Morgengrauen scharte sich die Gemeinde auf dem Kirchenhof, geeint in ihrem Schrecken blickten sie fassungslos auf das Kirchturmkreuz. Der Regen schlug erbarmungslos auf den nackten Körper des Pfarrers ein, spülte seine Wunden aus. Es dauerte fast drei Stunden, bis man seinen mit Stacheldraht an das Kreuz gefesselten Körper losbekam. Die Polizei fand in seinem Haus eine gediegene Sammlung an Photographien und 8mm – Filmen pornographischen Materials. Man konnte beinahe alle Kinder in der Gemeinde ausmachen. Die Leute meinten, sie hätten nichts bemerkt, er sei so ruhig und freundlich gewesen. So friedlich.
Wenn seine Geißel plötzlich tötet, so spottet er über die Verzweiflung der Unschuldigen.
Er hat die Erde unter gottlose Hände gegeben, und das Antlitz ihrer Richter verhüllt er. Wenn nicht er, wer anders sollte es tun?
Hiob 9,23 – 24