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Achtundzwanzig und zwei Sekunden

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13.12.2006
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Achtundzwanzig und zwei Sekunden

Wenn es regnet, sich tropfende Nässe vom Himmel stiehlt und man aus dem Fenster schaut kann man es wahrnehmen.
Auf keinen Fall darf man es erwarten und man darf nicht davon ausgehen, es sehen zu können oder es gar herbei beschwören. Am besten ist, nie davon gehört zu haben.
Dann kann es gelingen.
Man wird sich danach Fragen stellen. Es immer und immer wieder überprüfen. Sichergehen wollen. Womöglich wird man glauben, einem Trugschluss erlegen zu sein, es als Hirngespinst abtun oder denjenigen, der einem davon erzählt hat für verrückt erklären. Manch einer wird sich fragen, wie es so etwas geben kann und es kommt mitunter sogar vor, dass man nicht mehr vor die Tür gehen mag, wenn Regen fällt.
Aber im geheimen, wenn man gerade zufällig alleine zu Hause ist, wird man es trotzdem wieder tun.
Zählen. Die Tropfen zählen, die gegen die Scheibe prasseln.
Dabei muss man es eigentlich überhaupt nicht immer wieder tun, denn es reicht vollkommen aus, es ein einziges Mal getan zu haben.
Ob es nun ein feiner Regen ist, den man beobachtet oder gar ein starker Schauer spielt keine Rolle.
Und auch die Ecke, aus der der Wind bläst ist ein ebenso belangloser Faktor wie die Himmelsrichtung, in die das Fenster zeigt.
Ein schwacher Niederschlag mag es sein, ein von Graupel durchzogenes Unwetter oder ein wahrer Sturm,
es werden immer ganz genau Achtundzwanzig Tropfen sein, die alle 2 Sekunden gegen die Scheibe knallen. Achtundzwanzig Tropfen.
Hat man etwas anderes raus, dann war man zu langsam oder zu schnell. Oder man hat erwartet, Achtundzwanzig Tropfen zu zählen; dann funktioniert es nicht mehr.

Schaut man jedoch am Regen vorbei fällt einem ein kleines Dörfchen auf, in welchem sich ein wunderschönes Anwesen befindet.
Ornamentreiche Säulen aus Marmor tragen ein großes Vordach und wenn man unter ihm entlanggeht kommt man sich wie ein Kapitän vor, denn allerlei Gerät aus der Seefahrt schmückt die zwei kleinen Sitzbänke, die links und rechts der Haustüre stehen. Sextanten, Seile, einen Rettungsring und einen kleinen Anker kann man da entdecken und würde man neben dem kleinen Anker Platz nehmen und sich zurücklehnen könnte man auch die herrliche Seekarte bestaunen, die die Decke des Vordachs ziert.
Leider wird einem dieses Unterfangen nicht gelingen, denn das Anwesen wird streng bewacht. Immerzu stehen zwei Männer neben der Haustür und geben Acht, dass niemand hineingeht. Nur ausgewiesene Person dürfen in das Haus und können dann so lange sie wollen aus einem der Achtundzwanzig Fenster schauen, oder sich in eines der Achtundzwanzig Zimmer setzen, von denen einige angeblich weit unter der Erde gelegen sind. Im Dorf erzählt man sich, dass auf den Rasen des Anwesens noch nie ein Regen gefallen ist und die Achtundzwanzig Gärtner im Sommer den ganzen Tag Giessen.
Oftmals, wenn man an dem Anwesen vorbeispaziert, da es nahe eines schönen Wassers gelegen ist sieht man ein Auto vor ihm parken. Ein großer, schwarzer Transporter ist es und wenn man ganz viel Glück hat steigen gerade Menschen aus ihm aus.
Sie verlassen nie allein das Auto, nein, immer zu viert sind sie und wenn sie hinter die hohe Backsteinmauer verschwinden schweigen sie wie tote Vögel.
Jeden Tag hält ein solcher Wagen vor dem Anwesen.

Ab und an kommt es vor, dass sich die Leute beim Bürgermeister über die Backsteinmauer beschweren. Zu groß sei sie, zu gewaltig und alles in allem in schlechtem Zustand. Angst müsse man haben, wenn man an ihr vorbeigehe, dass man von einem herabfallenden Stein erschlagen wird. Aber der Bürgermeister des kleinen Dörfchens hat wahrhaft andere Sorgen. Ein drahtiger, eitler Kerl ist er, der sein Haar gern nach vorne kämmt und wenn ihn überhaupt etwas außer ihm selbst interessiert, dann betrifft es seine Sekretärin.
Ob er denn wisse, wem dieses schöne Anwesen gehöre und ob es unter Umständen zum Verkauf stehe wurde er vor ein paar Tagen gefragt, aber er konnte keine Antwort darauf geben. Niemand kann das.
Manche munkeln, es sei Staatseigentum, aber schon am nächsten Tag sind sie sich der absoluten Gewissheit, es müsse sich um das Hauptquartier einer Sekte handeln.
Sollte man aus Zufall gerade am Haus vorbeigehen, wenn mal wieder Vier Männer schweigend hinter der Mauer verschwinden ist das Tor für einen kurzen Moment geöffnet und man kann den Vorgarten sehen.
Dann, und nur dann sieht man den kleinen Anker, das Vordach und den Sextanten auf dem Sitzbänkchen. Leider sieht man dann auch die zwei Wächter, beziehungsweise sehen die zwei Wächter dich und alles was sie dir entgegenbringen sind böse Blicke, während sich das Tor wieder schließt.
„Morgen geh ich rein! Ich klingel ganz einfach, und wenn keiner aufmacht, dann steig ich eben über die Mauer!“, hat schon so mancher nach 10 Bier geprahlt, aber wirklich gewagt hat es noch niemand.
Als das Haus bezogen wurde kamen sie alle aus der kleinen Stadt angerannt und wollten sich vorstellen, aber sie wurden abgewiesen, weggeschickt.
Wie man sie nur so behandeln könne, fragten sie sich, und ob diesen Menschen nicht an einer funktionierenden Nachbarschaft gelegen sei. In der kleinen Dorfkneipe wurde Tagein Tagaus darüber geredet und Mutmaßungen gewannen die Oberhand.
Vor allem nach ein paar klaren Schnäpsen war das so.
Sim-Jong verstand sich nämlich darauf, einen starken, die Kehle verätzenden Reisschnaps hinten im Wald zusammenzubrauen, ein wahres Teufelszeug, das die Sinne trübt und den Verstand lähmt. Ja, und eines Tages, es muss wohl an einem durchzechten Sonntagmorgen gewesen sein, kam man zu dem Entschluss, endlich Klarheit erlangen zu wollen.
Zu Achtundzwanzigst versammelte man sich und belagerte die Straße vor dem Anwesen.
„Seht ihr denn nicht, dass diese Menschen einfach nur ihre Ruhe haben wollen?“, rief der Bürgermeister, als er den Menschenauflauf auseinanderjagte; natürlich zählte er sich zu diesen Menschen hinzu, denn in seinem Büro wartete schon wieder Arbeit auf ihn.
„Lasst sie doch endlich in Frieden, Leute.“
Morgens war es gewesen, in der Dämmerung, als frostiger Reif auf den Wiesen lag und irgendwo ein Hund bellte. An der Mauer hatten sie herumgefuhrwerkt, mit Sensen und Sicheln waren sie gekommen und lauten Rufen. Beinahe hätten sie es gewagt, das Anwesen zu stürmen.
Die zwei Wächter dankten es dem Bürgermeister, denn es war kalt an diesem Morgen, eisig kalt und ihre Glieder waren ungelenk vom ewigen Herumstehen. Eine Schachtel mit 2 großen Pralinen bekam er einen Tag drauf zugestellt und ein kleiner Zettel lag ihr bei auf der in schnörkeliger Schrift „Die Achtundzwanzig danken“ stand. Er aß sie mit Genuss und trat seiner Sekretärin auch ein Stück davon ab.

Das alles ist schon ne ganze Weile her. Jetzt ist grad Sommer, aber der verdammte Hund bellt trotzdem noch jeden Morgen. Ein beachtliches Viech muss es sein, denn sein Bellen ist tief und heiser und schreckt die Vögel in den Sümpfen auf. Man verlagerte kurzerhand seinen Unmut, eine Begleiterscheinung von Sim-Jongs Teufelsgebräu, auf ihn und jagt ihn seitdem. Ob ihm denn nichts an einer funktionierenden Nachbarschaft gelegen sei, tönten sie in der kleinen Dorfkneipe eines Nachts und zogen mit Gewehren in den Sommerregen.
Einen biss das Vieh in den Hals und ein anderer schoss ihm auch noch ins Bein, da er den Hund verfehlte.
Zu Doktor Decker hatten sie ihn geschleppt, schwer blutend und fast bewusstlos, aber Doktor Decker war ein Dilettant. Ein Stümper vor dem Herrn. Eigentlich war er gar kein richtiger Arzt und seine Mittelchen und Kräutertinkturen vermochten die klaffende Wunde nicht zu heilen.
Mit Marvins Tod verschwand auch das Interesse für das schöne Anwesen.
Man lässt es nun ganz einfach das schöne Anwesen mit der hohen Backsteinmauer sein und geht anderen Dingen nach. Schließlich will man die Leute ja nicht glauben lassen, sie seien der Mittelpunkt der Welt. Andere Dinge sucht man sich, die einen beschäftigen, und wenn es Lächerlichkeiten sind. Regentropfen zählen zum Beispiel.

 

Hallo Henry Sullivan!

Deine Geschichte habe ich als Parabel, die in sich stimmig ist, gerne gelesen.

Ein Naturelement, Wasser, ist Symbol für das, was viele Menschen insgeheim ersehnen, aber sich selbst verbieten: Abenteuer, und zwar in deiner Geschichte zur See. In dem unzugänglichen Anwesen beschäftigt sich man offensichtlich mit Seefahrt. Abenteuer faszinieren und ängstigen zugleich, weil sie gefährlich sind. Der geheimnisvolle Wagen, der Menschen zu dem Anwesen bringt, ist schwarz - die Farbe des Unheimlichen, des Todes. Und wenn der Blick hineinfällt, so auf Instrumente, die das Gefährliche der Seefahrt vermindern sollen: Ein Rettungsring, ein Anker, der verhindert, dass das Schiff als Spielball der Strömungen und Stürme umhergetrieben wird, ein Sextant, also ein Navigationsinstrument, mit dessen Hilfe man den richtigen Kurs berechnet, um nicht verschlagen zu werden.
Die Dorfbewohner haben Angst vor Abenteuern in der großen weiten Welt, deshalb lassen sie sich bereits von der Mauer abschrecken: sie befürchten, sie könne sie mit einem herunterfallenden Stein erschlagen - Spießerphobien. Auch der Mensch, aus dessen Perspektive erzählt wird, ist solch ein ängstlicher Typ: ein Stubenhocker, der sich dem Element Wasser nicht aussetzt, sondern drinnen im Warmen sitzt und die Tropfen an der Fensterscheibe zählt in dem Glauben, das Naturelement sei messbar, zählbar und berechenbar: immer 28 Tropfen in 2 Sekunden.

Grüße gerthans

 

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