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Achtung Aufnahme!
Annelieses Herz klopfte heftig. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich ...“
Mia zog sie resolut weiter. „Willst du nun versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen oder nicht?“
„Doch, schon, aber ...“
„Cora wird dir gefallen“, fiel ihr Mia ins Wort.
Sie klingelten und keuchten fünf Treppen hinauf. Cora erwartete sie in der Wohnungstür. „Willkommen, ihr Lieben“, rief sie und breitete die Arme aus.
Mia war dermaßen außer Puste, dass sie ihr nur stumm um den Hals fallen konnte. Cora musterte Anneliese über Mias Schulter hinweg. Dann reichte sie ihr schwungvoll die Hand. Goldene Armreife klapperten an ihrem Handgelenk. „Ich grüße dich“, sagte sie und sah ihr tief in die Augen. „Du hast also deinen lieben Mann verloren – Eduard hieß er, nicht wahr?“
„Ja.“
„Vor zwei Wochen, Herzinfarkt“, fügte Cora hinzu.
Sie nickte.
„Du hast ihn tot im Badezimmer gefunden.“
„Es war schrecklich“, flüsterte Anneliese.
„Und nun fühlst du dich einsam. Aber vielleicht gelingt es uns ja, Kontakt zu ihm aufzunehmen.“
Sie ging voran in ein kleines Wohnzimmer, das nur von flackerndem Kerzenlicht erhellt war. Ein schmächtiger Mann erhob sich und blickte ihnen entgegen.
„Das ist Detlev“, stellte Cora vor. „Er ist schon seit Jahren dabei. Seit seine Mutter verstarb. Nicht wahr, Detlev?“
„Stimmt.“ Der Mann sank zurück in seinen Sessel.
Mit einer einladenden Geste wies Cora Anneliese und Mia ihre Plätze auf dem Sofa zu. Sie selbst setzte sich in einen Sessel gegenüber.
Auf dem Tisch stand ein Kassettenrekorder.
Anneliese konnte ihre Neugier nicht länger bezähmen. „Ich würde zu gern erst mal ein paar Botschaften hören.“
Cora funkelte sie an. „Hiermit erkläre ich dir die wichtigste Regel“, raunzte sie. „Wir schweigen. Vor allem, nachdem ich den Kassettenrekorder auf Aufnahme gestellt habe. Ist das klar?“
„Ja“, hauchte Anneliese.
„Wir wollen doch die auf der anderen Seite nicht verärgern, nicht wahr?“
Alle, einschließlich Anneliese, schütteln gehorsam den Kopf.
„Dann lasst uns anfangen.“
Annelieses Herz begann wieder zu klopfen. Ihr Mund war so trocken, dass die Zunge am Gaumen festpappte. „Entschuldigung“, bat sie schüchtern, „aber könnte ich zuvor vielleicht ein Glas Wasser ...“
„Wie kannst du an leibliche Genüsse denken", donnerte Cora, „jetzt, wo wir im Begriff sind, mit denen auf der anderen Seite Kontakt aufzunehmen?“
„Keine leiblichen Genüsse“, widersprach Anneliese hastig, „nur ein Schluck Leitungswasser.“
Cora hob ihren dicken Zeigefinger. „Sammelt euch!“ Sie holte tief Luft, dann drückte sie die Aufnahmetaste. „Ihr auf der anderen Seite“, rief sie, „wir bitten euch: Lasst uns an eurer Weisheit teilhaben!“
Anneliese versuchte, intensiv an Eduard zu denken, aber ihr ausgedörrter Mund wirkte sich störend auf ihre Konzentration aus.
Der Kassettenrekorder surrte leise.
Anneliese zuckte zusammen, als plötzlich ein laut gluckerndes Geräusch zu hören war. War das etwa ihr Magen gewesen? Vorsichtig schielte sie zur Seite, doch niemand schien etwas bemerkt zu haben. Detlev saß zusammengesunken in seinem Sessel. Er hatte die Augen geschlossen und Anneliese fragte sich, ob er schlief.
Eine Ewigkeit hockten sie so da.
Endlich klackte es. Das Gerät hatte sich abgeschaltet. Detlev öffnete die Augen. Mia und Cora richteten sich auf.
Anneliese räusperte sich. „Könnte ich jetzt vielleicht etwas Wasser ...?“
„Die Toilette ist im Flur, erste Tür rechts“, erklärte Cora ungeduldig. „Und nun lasst uns gemeinsam lauschen, was die auf der anderen Seite uns zu sagen haben.“
Anneliese wagte nicht hinauszugehen. Sie schluckte, so gut es ging, und versuchte sich auf die Botschaften aus dem Jenseits einzustimmen. Totenstille herrschte im Raum, während sie das Band abhörten.
„Halt!“, rief Detlev plötzlich.
Sofort stoppte Cora die Kassette, stellte kurz auf Rücklauf, dann auf Wiedergabe.
„Da war was!“
Auch Anneliese hatte ein Geräusch wahrgenommen.
„Das waren die auf der anderen Seite“, rief Cora begeistert.
„Ich glaube, das war mein Hund“, meinte Detlev nachdenklich. „Mein Cockerspaniel, den ich vor einem halben Jahr einschläfern lassen musste.“ Seine Stimme brach.
„Das war doch kein Hund!“, widersprach Cora.
„Es war meine Senta“, beharrte Detlev.
Anneliese spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum mit Gereiztheit auflud. „Mein Magen hat bloß gegluckert“, sagte sie schnell.
„Unsinn!“, fuhr Cora sie an. „Das war weder ein Cockerspaniel noch ein Magen. So klingt es immer, wenn die von der anderen Seite uns begrüßen.“
Anneliese schwieg, während sich die anderen die Aufnahme erneut anhörten. Schließlich einigte man sich darauf, dass die auf der anderen Seite „Wir sind da.“ gesagt hatten.
Cora schrieb Datum, Uhrzeit und die Begrüßung auf einen Notizblock. Dann ließ sie die Kassette weiterlaufen.
Das Halbdunkel, die Stille, das eintönige Rauschen des Kassettenrekorders, das alles wirkte auf Anneliese einschläfernd.
Plötzlich schrieen alle im Raum gleichzeitig auf.
Klack - klack - klack. Cora hielt die Kassette an, spulte ein Stück zurück und stellte auf Wiedergabe.
Sie betrachtete Anneliese mit ernster Miene. „Hast du die Stimme deines Mannes wiedererkannt?“
„Hm, tja, also, ich weiß nicht“, stotterte Anneliese. Sie war nicht sicher, ob sie überhaupt etwas gehört hatte.
„Ja oder nein? Entscheide dich!“ Coras Stimme klang streng.
Anneliese wollte nicht noch mehr Unannehmlichkeiten verursachen. „Wenn ich es mir genau überlege – ja, ich glaube, das könnte Eduard gewesen sein.“
„Und was hat er gesagt?“
„Dazu müsste ich die Stelle vielleicht noch mal hören.“
Klack – klack – klack.
Diesmal glaubte Anneliese etwas verstanden zu haben. Aber sie konnte sich kaum vorstellen, dass Eduard das wirklich gesagt hatte. „Ich muss es noch mal hören.“
Cora seufzte.
Klack – klack – klack.
„Nun?“
Es blieb dabei. Anneliese hatte wieder haargenau dasselbe verstanden. Unter Coras zornigem Blick wagte sie nicht, die Offenbarung für sich zu behalten. „Er hat ‚Hau mich blau!’ gesagt“, wisperte sie.
Niemanden schien das zu verwundern.
„Hau mich blau“, wiederholte Cora und schrieb diesen Satz auf ihren Block. Ihre Augen richteten sich auf die anderen Anwesenden. „Und was ist mit euch?“
„War es vielleicht doch nicht Eduard?“, hakte Anneliese nach.
„Das kannst nur du beurteilen“, erklärte Cora kurz angebunden. „Auf jeden Fall war es eine Botschaft – für jeden Einzelnen von uns. Und wir alle haben die Aufgabe, sie in unserem Leben zu verwirklichen. Wie lautet also euer Auftrag?“ Cora setzte wieder den Stift an.
Detlev ergriff als Erster das Wort. „Ich habe ‚Auf die Frau!’ verstanden.“
„Auf die Frau.“ Coras Stift glitt über das Papier. „Und du, Mia?“
„Kauf die Sau!“
„Der Auftrag, den ich erhalten habe, lautet ‚Lauf im Tau!“, ergänzte Cora und legte den Kuli hin. „Und nun kommt, wie ihr wisst, der schwierigste Teil unserer Sitzung. Wir müssen diese Botschaften deuten. Was mich betrifft, so ist es diesmal ganz einfach. Wenn die auf der anderen Seite sagen, ich soll im Tau laufen, raten sie mir, vor dem Frühstück joggen zu gehen. Gleich morgen werde ich damit beginnen. Ich hatte es mir sowieso schon des Öfteren vorgenommen.“
Sie wandte Anneliese ihr strenges Gesicht zu. „Machen wir mit dir weiter.“ Sie schaute auf ihre Notizen. ‚Hau mich blau’. Was könnte Eduard damit gemeint haben?“
Anneliese errötete. „Keine Ahnung.“
Coras Blick durchbohrte sie. „Du weißt es“, behauptete sie.
Anneliese fühlte, wie alle sie anstarrten. „Er ... er mochte das“, stotterte sie.
„Dass du ihn blau haust?“ Coras Stimme klang plötzlich überlaut.
„Ja, aber könnten wir jetzt bitte von etwas anderem reden?“
„Seht ihr?“ Cora schaute triumphierend von einem zum anderen. „Niemand von uns konnte wissen, dass Eduard gerne blau gehauen wurde. Das ist der Beweis: Die auf der anderen Seite sprechen tatsächlich mit uns!“
Mia nickte zustimmend.
„Aber jetzt kann sie den Auftrag doch nicht mehr ausführen“, gab Detlev zu bedenken.
„Vielleicht möchte Eduard einfach, dass sie sich an diese gemeinsamen glücklichen Stunden erinnert?“, überlegte Cora.
„Können wir jetzt, bitte, von etwas anderem sprechen?“, drängte Anneliese erneut.
„Na gut“, gab Cora nach. „Nun zu dir, Detlev.“ Ihre Miene wurde feierlich. „Deine Botschaft lautet ‚Auf die Frau’. Das ist ja wohl eindeutig.“
„Ja, aber ... ihr wisst doch ...“, stammelte Detlev.
„Dass du schwul bist? Na und? Dann musst du es eben mal probieren. Im Bahnhofsviertel ...“
„Ich möchte nicht“, unterbrach Detlev sie.
„Du hast keine andere Wahl! Sie beobachten uns.“
Detlev sank in sich zusammen.
„Und das nächste Mal berichtest du uns von deinen neuen Erfahrungen.“
Trübe starrte er vor sich hin.
„Kauf die Sau!“, rief Cora in die Runde. „Mia, wie verstehst du diesen Befehl?“
„Ich verstehe ihn gar nicht. Eine Sau kann ich nicht gebrauchen. Ich habe keinen Garten, und im Wohnzimmer kann ich ja wohl kaum ein Schwein halten.“
„Das sehe ich ein.“
Anneliese war überrascht, dass Cora denen auf der anderen Seite in den Rücken fiel.
„Wir wollen gemeinsam überlegen, wie du diesen Auftrag trotzdem ausführen könntest“, fuhr die Gastgeberin fort.
„Und wenn sie es nicht täte?“, fragte Anneliese vorsichtig.
„Dann würden die auf der anderen Seite nie wieder mit uns sprechen“, bellte Cora sie an.
„Ich hab’s!“, rief Mia dazwischen. „Bald ist doch Silvester.“
Verständnislos schauten alle sie an.
„Begreift ihr nicht? Silvester, Glücksbringer, Marzipan! Ich muss bloß ein Marzipanschwein kaufen!“
„Und warum solltest du das tun?“ Cora schien nicht ganz überzeugt.
„Um Glück zu haben natürlich.“
„Könnte ich jetzt vielleicht eben zur Toilette und ein Schluck Wasser ...“, begann Anneliese und erhob sich.
„Hinsetzen!“
Erschrocken fiel sie auf das Sofa zurück.
„Wir haben die Kassette noch nicht zu Ende gehört.“
Cora drückte die Wiedergabetaste und das monotone Rauschen klang aus den Lautsprechern. Bald gesellte sich noch ein anderes Geräusch dazu. Eine Art Scharren und Schleifen. Mit einem entschlossenen Klack schaltete sich der Rekorder ab.
„Die Batterien“, sagte Cora entschuldigend. „Ich hole schnell neue.“
„Warum steckt sie das Gerät nicht einfach in den Strom?“, fragte Anneliese leise, als sie aus dem Zimmer gegangen war.
„Das geht nicht“, erklärte Mia flüsternd. „Die Energie, die von der anderen Seite kommt, verträgt sich nicht mit Elektrizität. Die Ströme heben sich gegenseitig auf.“
Cora erschien mit einem Satz neuer Batterien, setzte sie ein und drückte erneut die Wiedergabetaste. Klack und Rauschen, Rauschen, Rauschen.
Anneliese schielte auf die Uhr. Schon Viertel nach zehn.
Ein kollektiver Aufschrei ließ sie zusammenfahren.
Mit bebenden Fingern ließ Cora das Band zurücklaufen. Kein Zweifel. Da war etwas. Auch Anneliese hatte es gehört.
Cora nahm ihren Stift und sah sie abwartend an.
„Ich möchte lieber nicht sagen, was ich verstanden habe“, flüsterte Anneliese.
„Hier gibt es keine Geheimniskrämerei“, zeterte Cora.
„Also gut“, lenkte Anneliese ein. Die Botschaft an mich lautet: ‚Schluss mit dem Stuss.’“
Mit offenen Mündern starrten die anderen sie an.
„Das kann nicht sein!“
Klack – klack – klack.
„Ich habe genau dasselbe gehört.“ Detlev senkte den Blick.
Cora legte den Kuli hin. „Ihr müsst euch irren.“
Klack – klack – klack.
„Kein Zweifel. Die Stimme sagt: ’Schluss mit dem Stuss.’“. Das war Mia.
Cora stiegen Tränen in die Augen. „Ich glaube, ihr habt Recht.“
„Tja ...“ Detlev räusperte sich. „Damit betrachte ich meinen ersten Auftrag ebenfalls als ungültig.“
„Ich auch“, sagte Mia. „Ich mag sowieso kein Marzipan. Und Schweine mag ich auch nicht. Komm, Anneliese.“
„Ihr meint also, ich muss morgen nicht früh aufstehen und joggen gehen?“
„Bestimmt nicht“, tröstete Anneliese sie. „Und diese Sitzungen brauchst du auch nicht mehr abzuhalten.“
Die Gäste strebten bereits der Wohnungstür entgegen.
„Ich hab eine Idee“, schrie Cora ihnen ins Treppenhaus nach. „Kommt doch demnächst zum Kaffeetrinken. Dann lesen wir die Zukunft aus dem Kaffeesatz.“
„Machen wir - vielleicht“, rief Mia zurück. „In der Zwischenzeit kannst du ja schon mal üben.“