Adams Liste
Adams Liste
Nummer 35
Ich betrachte seelenruhig die Leiche des Mannes. Noch vor wenigen Sekunden stand er lebendig vor mir, dann habe ich ihn getötet. Mir hat dieser Mensch nichts getan, trotzdem war er reif, denn sein Name war der nächste auf meiner Liste. Präzise gesagt war Jimmy Rost, das war sein Name, die Nummer fünfunddreißig. Das Morden fällt immer leichter. Mittlerweile bin ich an einem Punkt, an dem das Töten nur noch einen statistischen Wert für mich hat. Je mehr Frauen und Männern von meiner Liste ich in den Kopf schieße, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ich endlich die Person finde, die mir das Leben retten wird.
Vorsichtig knie ich mich vor die Leiche, weit genug von der dunkelroten Blutlache entfernt, die sich direkt unterhalb der kleinen Einschusswunde an der Schläfe des Mannes auf dem gelben Linoleum gebildet hat.
„Bist du es?“, flüstere ich und streichel behutsam über die Brust des Toten. Meine verräterischen Fingerabdrücke schütze ich mit dünnen Op-Handschuhen, von denen ich bei meiner letzten Untersuchung im Krankenhaus eine ganze Kiste mitgehen ließ.
„Ich brauche dich, mir läuft die Zeit davon“, spreche ich zu der Leiche. Das Blut suchte sich einen Weg am Körper des Toten entlang. In einem kleinen Rinnsaal fließt es direkt auf mich zu. Eilig stehe ich auf und mache einen Schritt zurück, stoße an ein Regal und befördere einen ganzen Stapel Krimihefte auf den Boden. Gemächlich, ohne Hast bücke ich mich und hebe die Hefte auf. Mit einem kurzen Blick auf die Titel und einem müden Lächeln auf meinen blau angelaufenen Lippen lege ich die Groschenromane zurück auf das Regal. Ein letzter Blick auf den Toten, danach verlasse ich die Wohnung meines Opfers, langsam und gemütlich als würde ich gerade angesäuselt den Frühschoppen eines Freundes verlassen. Draußen vor der Tür japse ich wie ein gehetztes Tier, ich giere nach Luft, doch der kostbare Sauerstoff wirkt schwach und erreicht nur sehr mühselig sein Ziel. Tagtäglich schwindet meine Kondition und schon die kleinste Anstrengung lässt mich außer Atem geraten. Mit zitternden Händen schalte ich mein Handy wieder ein und mache mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. An einer Telefonzelle stoppte ich und wähle den Notruf. Wenig später im Bus höre ich die Sirenen der Rettungswagen, die zu meinem Opfer eilen.
Lebensliste
Eine abgewetzte Couch aus dem Sperrmüll, mein alter Tisch aus der Kellerbar, ein alter Schreibtisch und ein paar Küchenutensilien sind die einzigen Dinge, die mir geblieben sind. Alles andere habe ich verkauft, nur um an diese Liste zu kommen, auf denen die Menschen stehen, die ich töten muss. In der ersten Zeit nachdem mir die Ärzte mitgeteilt hatten, dass ich das Jahr nicht überleben würde, wenn ich kein neues Herz bekäme, vertraute ich darauf, dass frühzeitig ein Spender gefunden werden würde. Wochenlang befasste ich mich mit dem Thema Organspende, las Fachberichte über die Wahrscheinlichkeit rechtzeitig ein Spenderorgan zu bekommen und verlor meine Hoffnung auf Rettung. Als ich herausfand, dass fast 25% aller Leute auf der Warteliste versterben, bevor sie ein neues Organ bekommen, da begann ich nach Alternativen zu suchen. Ich wollte noch nicht sterben.
Über zwanzig Jahre war ich bei der CIA, hatte Kontakte zu Diplomaten, Agenten und zu Leuten, die für Geld alles taten, was man von ihnen verlangte. Tomek ist einer dieser Menschen. Ein Dunkelmann, geschlechtslos, anonym, schattenlos, nur unter einer E-Mail-Adresse kontaktierbar und diese ist mir bekannt. Ein Treffen war nicht Tomeks Stil, deshalb blieb unser Kontakt auf den elektronischen Briefverkehr beschränkt. Was ich von ihm verlangte, war ungewöhnlich und er erbat sich Bedenkzeit, um zu überprüfen, ob es realisierbar war. Zwei Tage später bekam ich eine Mail. Für 100.000 Dollar würde er den Job erledigen. In Windeseile verkaufte ich das Haus, weit unter Wert, aber das war mir egal. Es wurde langsam Sommer und die Zeit eilte, als ich das Geld endlich zusammenhatte. Ich überwies die Summe auf ein Konto einer Bank in der Karibik und mailte Tomek alles, was er von mir wissen musste. Drei Wochen später hatte ich einen Umschlag in der Post, darin ein Schlüssel und der knappe Hinweis auf die Schließfächer am Grand Central Terminal. Als ich die Liste endlich in der Hand hatte und die Fülle der Namen aus ganz Amerika las, da war ich noch skeptisch, dass es möglich ist, so viele potenziell kompatible Herzspender zu finden. Trotzdem war ich entschlossen diese Chance zu nutzen und ich begann das Töten. Der erste Name auf meiner Lebensliste war Thomas Mc Noy.
Polyfon
Nach jedem Mord sitze ich zu Hause oder in irgendeinem Motel und beobachte mein Handy. Die ständige Kontrolle der Akkuanzeige ist zu einer Manie geworden. Die Angst vor einer leeren Batterie oder einem verpassten Anruf von der Klinik ist zu meinem ständigen Wegbegleiter geworden. Nach Nummer fünfunddreißig sitze ich wieder auf meiner Couch, streiche seinen Namen akribisch auf der Liste durch und warte auf das Läuten des Handys. Niemand, außer dem Transplantationszentrum, hat meine Nummer.
Während ich meine Medikamente einnehme, die Waffe säubere und meinen goldenen Kugelschreiber suche, erfasst mich eine Welle, die meinen Körper mit einer Gluthitze überschwemmt. Eine Sekunde später höre ich es, dass gleichmäßige Schlagen meines Herzens, harmonisch begleitet von der Nationalhymne, polyfon.
„Summers“
„Hallo Adam!“
„Hallo Professor Singh!“
„Wir haben ein Herz für Sie! Kommen Sie so schnell wie möglich in die Klinik!“
„Ja, ich komme.“
Seltsam unberührt beende ich die Verbindung. Eine imaginäre Stimme drängt mir Fragen auf.
Freude?
Ich antworte nicht.
Angst?
Ich schweige.
Mitleid?
Ich gehe!
Inspektion
AB0-Kompatibilität O.K., negativer Crossmatch-Test, keine akuten oder chronischen Infektionen. Das Herz des Spenders ist perfekt für mich. Ob es von Nummer fünfunddreißig ist, geht mir durch den Kopf, während mir eine Krankenschwester die Brust rasiert.
Hören, schmecken, fühlen, sehen
Ein Ton, künstlich, wie aus einem alten Videospiel, ist das Erste, was ich wahrnehme. In meinem Mund muss Sand sein, denke ich entsetzt und versuche meine Zunge aus dem Mund zu schieben. Ich schaffe es nicht. Meine Arme sind schwer wie Blei, an meinem Rumpf hängen leblose Säcke, die meine Beine sein sollen. Der Rest ist dumpfer Druck auf meiner Brust. Ich spüre in mir etwas, das nicht zu mir gehört. Zeitlupenhaft versuche ich, meine Augen zu öffnen. Sekundenlang befürchte ich erschrocken, dass man Sie mir zugeklebt hat, dann dringt Licht an mein Bewusstsein. Mehr als ein verwaschenes Bild, wie ein Blick durch eine Milchglasscheibe, kann ich nicht erkennen, dann wird es wieder Nacht.
Zyklus
Der Tag geht, die Nacht kommt, der Schmerz bleibt. Die ersten Tage sind fürchterlich. Bei jedem Atemzug befürchte ich, dass sich meine Brust wie ein Thanksgiving Truthahn aufklappt. Trotzdem habe ich erreicht, was ich wollte: Ich lebe.
Vorwärts
Langsam komme ich zu Kräften. Das Herz und ich wachsen zusammen, unzertrennlich, als hätten wir immer zusammen gehört. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es von Nummer 39 ist, ich spüre es.
Die Wochen im Krankenhaus sind vorbei. Seit ein paar Tagen bin ich in einer Rehaklinik am Stadtrand von Boston. Zwei Klinkerbauten ohne Charme, verbunden durch einen gläserne Brücke in jeder Etage. Zwischen den Anwendungen vertreibe ich mir die Zeit mit lesen, ich bin zwar noch sehr müde, aber schlafen kommt mir nicht in den Sinn. Es gibt einen Aufenthalsraum auf der anderen Seite der Glasbrücke, dort sitze ich stundenlang, bis ich wieder zu irgendeiner Untersuchung muss.
Zurück
Rhythmusstörungen, das Wort des Monats. Etwas Zugluft im Aufenthaltsraum, eine ungeheizte Toilette oder die chemische Krankenhausluft? Ich weiß nicht, wie ich mich erkältet habe, zumindest reagiert mein neues Organ mit heftiger Gegenwehr. Vier Wochen vergehen, in denen ich zweimal kollabiere und einmal reanimiert werden muss. Aber ich kämpfe weiter und behalte die Oberhand über das widerspenstige Herz von Nummer 39.
Lesezeichen
Vom Fenster in meinem Leseraum kann ich den nierenförmigen Teich im Garten des Krankenhauses sehen. Ein dünner Film aus Eis hat sich über die Oberfläche gelegt und kündet den nahenden Winter an. Noch wenige Tage, dann kann ich das Sanatorium verlassen, nur wohin ich gehen soll, das weiß ich noch nicht. Vieles umspannt sich in meinem Kopf mit einem Nebel, der immer dichter wird. Mein Leben vor der Transplantation kommt mir wie eine Buch vor, das zugeklappt wurde und in irgendeinem Regal verstaubt. Die Liste, das Töten, ich erinnere mich nur bruchstückhaft.
Unter einer der Zeitschriften finde ich ein Romanheft. Der Titel kommt mir bekannt vor.
„Oh! Das ist mein Heft“, ruft mir jemand aus dem Rücken zu. Eine innere Stimme rät mir mich nicht umzudrehen, den Groschenroman wegzulegen und weiter in den Magazinen zu stöbern.
„Wenn Sie wollen, dann können Sie es lesen. Es ist spannend, wirklich ...“
Der Redeschwall unterbricht abrupt, als ich mich umdrehe. In der Tür zum Aufenthaltsraum steht ein Mann, so groß wie ich, in einem schrecklich gelben Morgenmantel. Statt Haare trägt er einen Turban aus Mull auf dem Kopf, doch das ist es nicht, was mich erschreckt. Es ist das Gesicht, ich kenne es, verzerrt zu einer Grimasse auf dem Boden des gelben Linoleums. Mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mund steht Nummer 35 vor mir.
Sein Herz war es nicht, geht es mir durch den Kopf.
Schluss, Aus, Finito!
Abgesang
Meine Unschuld beteuerte ich erst gar nicht, denn zu allem Übel präsentierte man mir noch meinen goldenen Kugelschreiber, den man in der Wohnung von Nummer 35 gefunden hat.
Der Prozess war, wie Prozesse nun mal sind. Mein Anwalt plädierte auf Unzurechnungsfähigkeit, ich hielt den Mund und schaute dumm aus der Wäsche.
Der Staatsanwalt war so eine Gucci-Tunte mit rosa farbenen Hemden, Seidenkrawatten, blank polierten Slippern und selten dämlichen Fragen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube der Typ hatte irgendetwas mit der Richterin oder mit der Gerichtsdienerin, vielleicht auch mit meinem Anwalt oder mit allen zusammen. Zumindest war ich die unwichtigste Person unter diesen Selbstdarstellern, so hatte ich genug Zeit zu beobachten, bis sie man mich endlich zum Tode verurteilte. Nun ja, vielleicht waren die Geschworenen noch einen Tick überflüssiger als ich, denn der Prozess konnte nur mit einem schuldig enden, egal ob sie Geschworene oder eine Hand voll Schaufensterpuppen über mich richten ließen. Die Presse bezeichnete mich einfallslos als Herzilein. Ich könnte mir auf die Schenkel klopfen, wenn ich die ganzen Berichte über mich in meiner Zelle lese. Zeit zu lesen habe ich genug, denn die Vollstreckung des Todesurteils wird sich mit Sicherheit ein paar Jahre hinauszögern.
Ein Reporter hat mich mal gefragt, ob ich Mitleid mit den Opfern hätte. Das Einzige, was mir Leid täte, antwortete ich ihm, ist, dass ich den Schädel von Nummer 35 nicht richtig durchlöchert habe.
Ich werde mich jetzt auf mein Bett legen und ausruhen, denn die letzten Wochen waren anstrengend und ich spüre ein leichtes Ziehen in meiner Brust. Schonung hat oberste Priorität, schließlich muss mein Herz noch etwas halten. Man weiß ja nie, was noch alles so passiert. Wenn das Licht gelöscht wird, dann verkriech ich mich unter meine Decke und bin mucksmäuschenstill. Ich lausche dem Rhythmus meines Herzens, eine warme Monotonie, die mich beruhigt. In der Dunkelheit meiner Zelle, wie ein Fötus auf dem Bett zusammengekauert, höre ich das Pochen in meiner Brust. Jeden Schlag genieße ich in vollen Zügen, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Ich lebe, das ist alles was zählt.