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Aderlass

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03.12.2002
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Aderlass

Aderlass

Paris, 1888

Langsam näherte sich der Tag dem Ende und der Abend zog herauf. Edmond Herge knöpfte seinen Mantel zu, zog seinen zu großen Hut tiefer ins Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Er liebte diese Momente, in denen Kälte und Wärme aufeinander trafen, in denen sie sich darum stritten, wer seinen vorherrschenden Platz einnehmen durfte. Und besonders mochte er diese Augenblicke, weil er wusste, wer gewann. Zwar war es draußen kalt, doch durch seinen dicken Mantel vermochte die Kälte nicht zu dringen.

Das Pfeifen eines kleinen Vogels wurde von einem kalten Wind an Edmond Herge herangetragen. Das graue Tier flog über ihn hinweg, schlug ein paar Haken und stieß dann schnell hinauf, als wolle es direkt in den grauen Wolken des noch vorherrschenden Winters verschwinden. Edmond verfolgte den Flug des Tieres von einer hölzernen Bank aus, die am Rande des Parc du Champs de Mars stand. Als der Vogel nicht mehr zu sehen war, richtete Edmond seinen Blick wieder auf das Geflecht von Stahlstreben, die in den letzten Wochen mehr und mehr ein Bild von dem ergaben, was sie einmal darstellen sollten.
Ein eiserner Turm, inmitten des alten Paris, würde sich in einigen Monaten in den Himmel strecken. Viele waren dagegen gewesen, doch Edmond schaute dem Vorhaben mit Begeisterung zu. Eine große Stadt brauchte seiner Ansicht nach ein großes Zeichen und über diesen Turm spräche man einmal überall in der Welt. Das wusste er. Er kannte die Pläne von Stephen Sauvestre, der den Turm im Auftrag des Schweizers Maurice Koechlin konzipiert hatte. Es war ein toller Plan. Wie gerne hätte auch er an so etwas mitgewirkt. Wie gerne wäre er an etwas größerem beteiligt gewesen, denn sein Leben schien mehr und mehr fad und langweilig zu sein. Oft hatte er sich dabei erwischt, wie er sich fragte, ob dies schon alles gewesen war. Und dann waren neue Gedanken gekommen. Pläne und Ideen, die ihm ein Lächeln auf das Gesicht gezaubert hatten. Doch er hatte nur mit diesen Gedanken gespielt. Sie nie umgesetzt. Suchte man lange genug, fand man für fast alles eine Entschuldigung. Auch dafür etwas nicht getan zu haben.
Er wusste darum. Wusste um sein eigenes Unvermögen die Dinge zu ändern und so staunte er über andere und ihren Mut das Leben selbst anzupacken.
„Es wird ein prächtiger Turm“, sprach er verträumt vor sich hin, als sich unvermittelt ein Mann neben ihn setzte.
„Das glaube ich auch.“
Edmond sah den Fremden an. Er trug einen schwarzen Gehrock und neben ihm lag eine zugeschlagene Zeitung.
„Sehen Sie sich nur diese Gerüste an. Die Männer, die da arbeiten müssen wahre Draufgänger sein.“
Edmond nickte nachdenklich. „Stimmt. Ich kenne einen von ihnen. Er sagte mir mal, dass die Angst immer mit arbeitet.“
„Zwei hilfreiche Hände mehr“, scherzte der Fremde und lachte dabei aufrichtig.
Dann kehrte wieder Stille ein. Man hörte die Hämmer in der Ferne schlagen und einige wilde Rufe, die ärgerlich, aber auch enthusiastisch klangen.
„Sie schauen so nachdenklich dort hinüber. Ich glaube, Sie würden gern ein Teil des Turmes sein. Ihn mitbauen oder so.“
Der Mann neben ihm lächelte ihn an und zupfte dabei an seinem kurzen Kinnbart.
„Ich weiß nicht. Ich finde die Idee des Turmes einfach toll. Das ist etwas für die Ewigkeit. Selbst wenn wir schon tot sind, wird der Turm noch stehen.“
„Aber Sie sind doch gut in Form, warum gehen Sie nicht rüber und fragen nach Arbeit?“
Edmond sah den Fremden verstört an.
„Nicht? Warum nicht? Sind Sie etwa nicht gut in Form?“
„Was?“ Edmond wusste nicht, warum ihm gerade diese Frage gestellt wurde.
„Nein, nein. Es liegt nicht an meiner Form oder an meiner Gesundheit. Meine Frau will einfach nicht, dass ich so was mache. Das ist ihr zu gefährlich. Außerdem hab ich eine gute Arbeit.“ Und wieder war eine jener Entschuldigungen über seine Lippen gegangen.
Kurz riss die Wolkendecke auf und ein Lichtstrahl brach sich auf den glänzenden Streben der eisernen Füße des Turms.
„Sind Sie etwa nicht gut in Form?“
Wieder sah Edmond ihn an. Doch diesmal war es nicht nur ein fragender Blick, sondern in gewisser Weise auch ein tadelnder. Edmond wollte einfach nur hier sitzen und dort zusehen. Und zudem hatte er die Frage doch schon beantwortet.
„Doch. Glauben Sie mir. Ich bin gut in Form.“
„Wissen Sie was, Edmond? Ich kenne Sie. Ich habe hier auch oft gesessen. Meist auf einer der anderen Bänke. Habe nachgedacht. Über ähnliche Dinge wie Sie. Aber etwas unterscheidet uns, Edmond. Sie sitzen nur da, denken und tun nichts. Ich aber nehme die Dinge in die Hand. Ich handele. Wissen Sie, was mit Leuten passiert, die einfach nur so zum Leben hinaufblicken und nichts daran ändern, sondern es sich nur wünschen?“
Edmond sah den Fremden irritiert an.
„Keine Angst. Ich erwarte keine Antwort von Ihnen. Sie können es gar nicht wissen. Aber Sie werden es bald herausfinden. Was ich Ihnen eigentlich versuche zu sagen. Man sieht Ihnen schon aus der Ferne an, welch eine Art Mensch Sie sind und deshalb hab ich mich für Sie entschieden. Es war purer Zufall, dass gerade Sie hier gesessen haben. Wäre es ein anderer gewesen, der ähnlich dreingeblickt hätte, wäre er es gewesen. Das Leben bestraft die Untätigen und belohnt die Tätigen. So einfach ist das. Ich erhalte meinen Lohn. Sie nicht. Und noch was, Edmond. Ich weiß, dass sie kerngesund sind. Ich wollte nur ein wenig plaudern. Als ich wusste, dass Sie der beste Kandidat sind, hab ich mich schlau gemacht und siehe da. Sie waren und sind perfekt.“
Edmond war verwirrt. Er sah noch eine schnelle Bewegung, dann wurde die Welt um ihn herum dunkel und er spürte, wie er schnell und tief in die Bewusstlosigkeit abglitt.

Langsam, sehr langsam nur, erlangte Edmond wieder das Bewusstsein. Es fühlte sich an, als ziehe sich ein Teil von ihm aus einem tiefen Loch heraus an die Oberfläche und mit jedem Zentimeter, mit dem es sich dem Ziel näherte, kamen weitere Teile hinzu. Wie ein Puzzle. Ein Edmond-Herge-Puzzle, dass sich Stück um Stück zusammensetzte.
Wie in einem Traum oder wie eine weit entfernte Stimme, die vom Wind getragen wird, drang ein leises Flüstern an ihn heran.
„Schon zur Zeit des Hippokrates nahmen die Menschen an, dass das Blut für vieles verantwortlich ist.“
Es war die Stimme eines Mannes.
„Das Prinzip war also ganz einfach. Das Blut war demnach verantwortlich. Man kann es sich quasi so vorstellen, als schwämmen in ihm all die Krankheiten herum. Alles, was man tun musste, war es also, den Kranken anzustechen und das Blut herauszulassen, um es einmal salopp zu formulieren.“
Edmond lag. Das konnte er spüren. Aber er lag in keinem Bett, denn um ihn herum war es kühl und die fremde Stimme ging einher mit einem leichten Hall, was bedeutete, dass es ein großer Raum sein musste, in dem er sich befand. Edmond versuchte die Augen zu öffnen. Als jedoch blendendes Licht schmerzhaft darin explodierte, schloss er die Lider wieder.
„Nun hatte man ein Problem. Man konnte schlecht das ganze kranke Blut aus jemandem herausfließen lassen. Es hat einige Tote gegeben. Verblutet. Und als man dann auch den Blutkreislauf entdeckte, war die Theorie des Aderlasses dahin. Es schien keinen wirklichen Nutzen zu geben.“ Die Stimme war nun deutlicher, näher. Der Hall jedoch blieb bestehen.
Noch einmal versuchte Edmond seine Augen zu öffnen. Dieses Mal war das Licht weit weniger aggressiv. Zwar dauerte es eine ganze Weile, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten, aber nach und nach erkannte er, dass er zu einer gläsernen Kuppel heraufschaute, durch die Tageslicht hineinflutete. Die Frage war nur, wo genau dieses Herein war.
Bewegen konnte er sich nicht. Sein Körper war wie gelähmt.
„Oh. Ich glaube, unser Patient erwacht.“
Ein Gesicht erschien in Edmonds Sehfeld. Es war der Fremde, der neben ihm auf der Bank gesessen hatte. Und nun kamen die Erinnerungen wieder. Der Turm, das Gespräch, die Dunkelheit. Dieser Mann hatte etwas mit ihm gemacht. Und diese Unsicherheit und die Gelähmtheit brachten etwas mit sich, dass seinen Herzschlag beschleunigte.
Es war Angst.
„Wenn Sie sich fragen, wo Sie sind und was mit Ihnen passiert ist, so bitte ich Sie sich noch ein paar Sekunden zu gedulden. Ich erkläre es Ihnen gerne und meinen Studenten bin ich auch noch eine kleine Rechenschaft schuldig. Hören Sie einfach zu, dann ergibt das Ganze hier auch für Sie einen Sinn.“ Der Fremde lächelte ihn an. Es war wieder dieses aufrichtige Lächeln, das nun jedoch seine Freundlichkeit verloren hatte.
Edmond versuchte seinen Kopf zu drehen, doch es geschah nichts. Sein Wille zur Bewegung war da, doch es mutete an, als würde man mit einem Tauben sprechen. Sein Körper schien losgelöst von seinem Geist und auch als er versuchte zu sprechen, zu schreien, tat sich nichts. Sein Mund blieb geschlossen.
´Angst ist kalt´, dachte Edmond in diesem Augenblick. Er wusste nicht, warum er das dachte, aber es war das Einzige was er fühlte. Kälte. Diesmal gab es keine Wärme, die den Sieg davontrug.
„Wissen Sie“, begann der Fremde nicht länger an ihn gerichtet zu erzählen, „Medizin ist so eine Sache. Will man Fortschritte machen, darf man sich nicht an Regeln halten. Fortschritt schreitet nur langsam voran, wenn man sie befolgt. Aber ich brauche Ihnen das ja sicherlich nicht zu erklären. Wüssten Sie das nicht, wären Sie nicht hier. Immerhin steht diese Veranstaltung hier in keinem Ihrer Studienpläne, sondern Sie haben über irgendwelche dunklen Kanäle davon erfahren.“ Er machte eine kurze Kunstpause und fuhr dann mit erhöhter Lautstärke fort.
„Unser Proband heißt Edmond Herge und er ist kerngesund. Davon hab ich mich selbst überzeugt. Nun mögen Sie sich fragen, warum er sich für dieses Experiment hergibt. Die Antwort ist ganz einfach. Edmond gehört zu den Traurigen unter uns, die ihren Lebenswillen verloren haben. Vor einigen Wochen wurde seine Frau von einer Krankheit dahingerafft, gegen die kein Arzt etwas tun konnte.“
´Das stimmt nicht!´, schrie Edmond, doch seine panischen Rufe verklangen in der tonlosen Stille seiner Lähmung.
„Dennoch mussten wir ihn für dieses Experiment lähmen, da die kleinste Bewegung, die kleinste Störung also, den Erfolg der Behandlung beeinträchtigen könnte. Er muss absolut still liegen. Sie werden es ihm also nachsehen müssen, dass er nicht auf Ihre Fragen antworten kann.“
Ein Lachen erschallte. Es war ein Lachen aus vielen Mündern. Panisch versuchte Edmond sich wieder zu drehen. Wie viele Menschen waren noch in diesem Raum? Warum beobachteten sie ihn? Was wollten sie von ihm? Plötzlich schien ihm der Raum sehr viel kleiner, als wären die Wände enger zusammengerückt.
„Das Blut, meine lieben Studenten – das Blut kann Krankheiten in sich tragen. Und der Aderlass ist die Heilung dafür. Aber was kann man tun, um einem Menschen all das kranke Blut zu entnehmen? Man muss es durch neues ersetzen. Und nicht nur das. Es gibt auch ein Mysterium. Jemand anderes muss die Krankheit auf sich nehmen. Sie ist wie ein Fluch, der auf einen Menschen übergeht. Nur wenn dies geschieht, kann die Heilung eintreten.“
Erst breitete sich unheimliches Schweigen aus. Es war still, doch dann gab es ein erstes Füßescharren, ein erstes Räuspern und ein erstes Murmeln.
´Oh, Gott! Bitte! Ich will hier raus!´ Edmond zerbrach. Er wollte weinen, seine Angst herauslassen, aber sein Körper reagierte nicht und so fand die Furcht kein Ventil, keinen Weg ein wenig kleiner zu werden. Sie schwoll an, wie ein Fluss. Reißend und gefährlich. Und dieser Fluss drohte Edmonds Verstand mit sich zu nehmen.
„Ich weiß, ich weiß“, beschwichtigte der Arzt oder was auch immer dieser Mann war, „es klingt nicht sehr wissenschaftlich, aber glauben Sie mir. Manchmal ist an den Dingen einfach mehr als reine Sachlichkeit.
Dieser Mann hier ist kerngesund und nur ein gesunder, junger Mann ist in der Lage eine Krankheit einfach so zu übernehmen.“
´Übernehmen? Was sollte das heißen?´
Edmond wollte fliehen. Er wollte weit fort. Vielleicht wollte er auch einfach nur aufwachen, denn tief in seinem Bewusstsein gab es die leise Hoffnung, dass all dies einfach nur ein Traum war, den er auf einer Bank im Parc du Champs de Mars träumte.
„Lassen Sie sich überraschen. Die Medizin ist nicht losgelöst von Gott. Ich glaube an Gott und deshalb weiß ich auch, dass es Gottes Werk ist, dass so etwas möglich ist. Wenn dies gelingt, und es wird gelingen, weil ich den Erfolg schon einmal gesehen habe, werden wir alle Götter in Weiß sein. Männer, in denen sich Gott und die Wissenschaft die Hand geben.“
Edmond hörte Schritte. Der Arzt kam auf ihn zu. Das alles war reiner Wahnsinn.
„Nun denn, Monsieur, wollen wir beginnen?“
´Nein! Nein!´, schrie Edmond tonlos.
„Nun, er antwortet uns wohl immer noch nicht.“
Wieder erfüllte sich der Raum mit Lachen. Die Spannung war gelöst. Die Menschen, die um ihn herum saßen, erwarteten nun wahrscheinlich mit Aufregung was in den folgenden Minuten geschehen würde.
Aber etwas tat sich. Als Edmond sich noch einmal wehrte, seinen Willen erhob, um sich zu schütteln und loszureißen von den Fesseln, die gar nicht existierten, bewegte sich sein Kopf ein Stück nach links. Er sah jene, die ihn angafften wie ein Versuchstier.
Es waren junge Menschen. Sie saßen hoch oben in einem Halbrund um ihn herum und sahen auf ihn herab. Studenten, die Neues lernen wollten. Sie waren wohl hierher gekommen, um eine Art Freakshow zu sehen. Warum sollten sich Studenten, gebildete Menschen oder die sich wenigstens einbildeten gebildet zu sein, so etwas ansehen? Gott und Wissenschaft? Das durfte nicht wahr sein. Und er, Edmond Herge, war der Freak, zusammen mit diesem Arzt, den sie sehen wollten. Sie waren die Show. Vorhang auf! Es ging los.

Um ihn herum erhoben sich weiß gekachelte Wände. Sie waren alt. Einige zeigten kleine Sprünge und gebrochene Kanten. Gemeinsam hatten sie allerdings einen schwarzen Schmutzfilm, der wie ein erdiger Pilz auf ihnen zu wachsen schien. Darüber begann die Tribüne mit ihren Zuschauern, welche auf alten, von vielen Hosen und Röcken abgewetzten Holzbänken saßen. Wie viele mochten dort schon gesessen haben und Experimente wie dieses beobachtet haben? Wie viele mochten bereits vor ihm auf diesem Tisch gelegen haben, den Blicken der Studenten und der Willkür der sogenannten Ärzte ausgesetzt?
Edmond wollte fliehen. Er wollte fort.
Edmond konzentrierte sich. Wie hatte er das gemacht? Erneut schüttelte er sich, so wie er es zuvor getan hatte. Nur diesmal geschah nichts.
„Ich würde sagen, wir beginnen einfach.“
Wieder hörte Edmond die Schritte des Arztes, dann ein leises Klicken, wie das Umlegen eines Schalters und schließlich ein stetiges, raues Summen.
„Diese kleine Maschine entwickelt eine Sog- und eine Druckwirkung zugleich.“
´Was für eine Maschine? Kommt daher dieses Summen?´
´Bitte, komm schon! Beweg dich!´ Und dann geschah es erneut. Es leichtes, kaum spürbares Zucken durchlief Edmonds Körper.
´Ja!´, dachte er. ´Ich komme wieder zu mir.´
Hoffnung mischte sich unter die Angst und nahm einen Teil ihrer Kälte.
Edmond versuchte es weiter. Es gelang ihm seinen Kopf weiter nach links zu bewegen. Nicht viel, aber es genügte, um die Quelle des Summens erkennen zu können. Seine Augen schmerzten, so sehr presste er sie in Richtung der Maschine. Er konnte nur den oberen Teil erkennen. Sie besaß einen Rahmen aus dunklem Holz und darunter konnte er einige kleine Hebel sehen.
Was er jedoch auch sehen konnte und was die Hoffnung in ihm wieder zunichte machte, waren ein paar undurchsichtige Schläuche, die in den wenigen Öffnungen, die der Rahmen besaß, verschwanden. Edmond konnte sich denken, was durch diese Schläuche floss. Es war sein Blut, sein Leben. Unbarmherzig kehrte die Kälte wieder. Er fror.
„So. Nachdem der Prozess nun angelaufen ist und sich das Blut des ersten Probanden in der Maschine befindet, wird nun auch Proband Nummer Zwei hinzugeschaltet.“
´Proband Nummer Zwei?´ Auch wenn Edmond sich diese Frage stellte, wusste er doch bereits die Antwort darauf. Würde er seinen Kopf noch ein Stück weiter drehen, dann läge da noch jemand. Jemand, dessen Blut krank war und das er nun bekommen würde.
Wieder wurde ein Schalter umgelegt. Das Summen wurde lauter und nun konnte Edmond etwas spüren. Er spürte einen eigenartigen Sog, aber auch einen merkwürdigen Druck in seinem Körper.
„Der Prozess dauert etwa eine Stunde. Nach Verstreichen dieser Zeit dürften die Probanden sozusagen die Rollen getauscht haben.“
Der Arzt tauchte wieder im Gesichtsfeld Edmonds auf.
„Hören Sie auf!“ Edmonds Stimme war schwach und zittrig und er konnte sehen, wie der Mann, der neben ihm auf der Bank gesessen hatte, die Stirn in Falten legte.
„Ich glaube, Monsieur Herge ist wacher als gedacht. Wir werden ihn noch einmal etwas geben müssen.“
Damit verschwand der Arzt wieder.
„Nein!“, schrie Edmond mit leiser, brechender Stimme. Für ihn war es ein Schrei, für jene, die ihm zusahen, war es nur ein lautloses Zittern der Lippen.
Lähmen. Sie wollten ihn erneut lähmen, damit die Prozedur weitergeführt werden konnte.
Das durfte nicht sein. Edmonds gesamter Wille bäumte sich auf. So stark, so intensiv, dass die Schranke zwischen Bewusstsein und Körper durchbrochen wurde. Er spürte, wie seine Beine juckten, wie seine Zehen sich bewegten und wie seine Haut überall kribbelte und brannte.
Er hob den Kopf. Die Bewegung war schmerzhaft.
„Nein!“, schrie er entsetzt, von den Studenten immer noch ungehört, auf.
Was er sah, hätte einem düsteren Alptraum entsprungen sein können. Überall ragten Schläuche aus seinem nackten Körper hervor und dort, wo sie in seiner Haut und in seinem Fleisch verschwanden, bildeten sich kleine, rote Rinnsale.
Der Sog und der Druck. Sein Blut verschwand. Das Blut des anderen kam.
Er drehte den Kopf. Ein zweiter Tisch stand in der Mitte des Raumes. Darauf lag eine nackte Frau. Ihr Brustkorb hob und senkte sich und auch aus ihr ragten unzählige Schläuche hervor. Doch sie war völlig wach; bei Bewusstsein. Er konnte es sehen. Sie blickte ihn an und ihre Augen waren voller Leben. Sie war nicht gelähmt.
„Helfen Sie mir!“, flehte er und hoffte, dass sie ihn hören konnte.
Die Frau jedoch schüttelte leicht, und nur von ihm zu sehen, den Kopf. Ihr Gesicht war rot und fleckig. Es wirkte krank.
„Mein Leben. Ich will leben“, flüsterte sie.
Edmonds Herz schien in seiner Brust zu schrumpfen. Das Summen der Maschine wurde greifbar. Es fühlte sich an, als schneide es sich direkt in sein Gehirn.
„Dann wollen wir mal.“
Der Arzt kam wieder zu ihm. In seiner Linken hielt er einen kleinen Drahtkorb, gefüllt mit Watte und gehalten von einem breiten Griff.
„Nein!“, schrie er wieder, aber immer noch zu leise, um gehört zu werden. Das Summen der Maschine war mittlerweile so laut, dass er sich selbst kaum noch hören konnte. Zudem erfüllte ein ständiges Gluckern den Raum. Es klang, als würde man einen fauligen Apfel zwischen den Händen zerquetschen. Es war das Geräusch des gesunden und kranken Blutes, dass durch die Schläuche gepresst wurde.
Der Korb wurde ihm über Mund und Nase gelegt, während eine Hand des Arztes seinen Kopf zurück auf den kühlen Tisch drückte. Er konnte sich nicht wehren. Er war zu schwach. Hilflos. Ausgeliefert.
Ein beißender Geruch brannte in seiner Nase.
„Dieses Experiment wird in die Geschichte eingehen. Es wird überdauern. Das ist unser Eifelturm, liebe Studenten. Das ist unser Turm. Unser Vermächtnis.“
Dann überkam Edmond wieder die Dunkelheit. Wieder fiel er. Wieder wurde ihm das Bewusstsein und sein Körper genommen. Es fühlte sich an wie Sterben.

Der Eifelturm war herangewachsen. Die Füße trugen nun die gewaltigen Streben, die einmal in aller Welt bekannt und die so untrennbar mit Paris verbunden sein würden, wie das Kolosseum mit Rom.
Edmond Herge saß auf einer hölzernen Bank. Auf eben jener Bank, auf der er dem Fremden begegnet war. Er hatte seinen Mantel eng um sich gelegt und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Es war wie immer, nur ohne die Wärme. Ihm war kalt.
Paris wurde noch immer vom Winter beherrscht. Das Grau des Tages war allgegenwärtig und dieses Grau hatte nun auch einen Platz in seinem Herzen gefunden. Den Fremden, den Arzt, hatte er nie mehr wiedergesehen.
Er war am Ufer der Seine aufgewacht. Durchgefroren und nur in eine Decke gehüllt.
Aber ansonsten ging es ihm gut. Die Studenten hatten recht daran getan die Äußerungen des Arztes über den Zusammenschluss von Gott und der Wissenschaft mit fast lästerlicher Unruhe begegnet zu sein, denn seiner körperlichen Gesundheit hatte das Erlebte keinen Abbruch getan. Nicht einmal einen Schnupfen hatte er sich geholt.
Es war jedoch nicht so, dass besänftigendes Vergessen sich seiner bemächtigte. Seinen Körper zierten schmerzende Wunden. Und auch die Angst war geblieben. Manchmal hörte er noch das Summen und Gluckern der Maschine, die er nie richtig zu Gesicht bekommen hatte. Edmond fragte sich, ob sie ihm einen Streich gespielt hatten, eine Art Test, um die Stärke des Verstandes und des Willens zu erforschen. Das würde auch erklären, warum die Studenten nicht augenblicklich den Raum verlassen hatten, als der Arzt ihnen seine Geschichte erzählt hatte. Sie waren Teil des Experiments gewesen.
Er wünschte sich noch einmal auf den Fremden zu treffen. Er würde ihm die Angst spüren lassen, die auch ihn beherrscht hatte. Edmonds Gedanken drehten sich jede Stunde und jede Minute um das Geschehene. Immer wieder sah er die gläserne Kuppel vor sich, den Rand der Maschine und die kranke Frau. Und er glaubte auch noch immer das beißende Mittel in der Watte riechen zu können. Über all dem schwebte noch eine Frage. Nicht die nach dem Grund, warum er ausgesucht worden war. Edmond wusste, dass der Zufall jeden treffen konnte. Es war die merkwürdige Frage, ob er das Experiment bestanden hatte? Ob sein Verstand stark gewesen war? So eigenartig es auch anmutete, sich nach einem solchen Erlebnis diese Frage zu stellen, so sehr brannte er doch darauf die Antwort zu erfahren. Edmond spürte plötzlich so etwas wie Lebendigkeit in sich. Er selbst hätte nicht gewusst, wie er dieses Gefühl beschreiben sollte. Aber so fühlte es sich an. Die Angst hatte ihm etwas klar gemacht. Es war an der Zeit die Dinge zu ändern. Und er hoffte, dass es noch nicht zu spät war.
„Entschuldigung. Ist hier noch ein Platz frei?“
„Ja. Natürlich.“ Edmond achtete zuerst nicht auf die Frau, die sich neben ihn setzte, aber als er seinen Blick für einen kurzen Moment von dem Turm abwendete, glaubte er zuerst wieder eine Szene des Vergangenen vor sich zu sehen. Es dauerte mehrere Sekunden, Edmond hätte sogar behauptet, es wären Minuten gewesen, bis er begriff, dass die Frau real war, dass sie der Gegenwart entsprang. Sie erkannte ihn nicht. Aber er erkannte sie. Es war der andere Proband. Sie hatte das kranke Blut in sich getragen und ihr Gesicht war so klar und weiß wie das eines Engels. Ein anderer Vergleich fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein.
Edmond sah wieder auf den Turm. Jenes Bauwerk, welches man für die Ewigkeit errichtete.
Und damit hatte sie ihm seine Antwort gegeben. Nicht nur auf die eine Frage, sondern auf alle.

 
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Hallo morti.

Ich habe nur kurz reingelesen bis jetzt. Eine ausführliche Kritik folgt, wenn ich fertig bin. Eine Sache ist mir allerdings gleich am Anfang aufgefallen:

Eine große Stadt brauchte seiner Ansicht nach ein großes Zeichen und über diesen Turm spräche man einmal überall in der Welt.

Der Eiffelturm sollte ursprünglich nur für die Dauer der Weltausstellung stehen. Anschließend wollte man ihn wieder abreißen.

Edit: Ich habe grad mal bei Wikipedia nachgeschaut, und lag ein wenig falsch. Der Turm sollte für 20 Jahre stehen bleiben. Insofern vergiss meinen obigen Kommentar bitte wieder.

 

Hey morti!

Langsam näherte sich der Tag dem Ende und der Abend zog herauf. Edmont Herge knöpfte seinen Mantel zu, zog seinen zu großen Hut tiefer ins Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Er liebte diese Momente, in denen Kälte und Wärme aufeinander trafen, in denen sie sich darum stritten, wer seinen vorherrschenden Platz einnehmen durfte. Und besonders mochte er diese Augenblicke, weil er wusste, wer gewann. Zwar war es draußen kalt, doch durch seinen dicken Mantel vermochte die Kälte nicht zu dringen.
Der Held tut erst mal gar nix, alles andere um ihn herum handelt, der Tag und der Abend, die Wärme und die Kälte - er ist der gelassene Beobachter - ein erster Absatz als ruhiger Auftakt, der vielleicht später das Grauen noch plastischer hervortreten lassen soll. Ja, die ganze Geschichte über bleibt der Held auf eigentümliche Weise ein Nicht-Handelnder, er hat auch kein Profil, außer, dass er jung und gesund ist, erfährt man gar nichts über ihn. Er ist ein austauschbares Opfer, der Erzähler hat ihn genauso zufällig gewählt, wie der Arzt in der Geschichte, scheint mir.
Ich glaube, sie würden gern ein Teil des Turmes sein.
groß: Sie, und besser: .... Sie wären gern ein Teil des Turms.
zupfte sich dabei an seinem kurzen Kinnbart.
ohne „sich“
Aber sie sind doch gut in Form, warum gehen sie nicht rüber und fragen nach Arbeit?“
beide groß: Sie
„Wissen Sie was, Edmont?
Ich weiß, dass Sie völlig gesund sind.“
Der Zeilenumbruch ist hier überflüssig.
Ein Edmont Herge Puzzle,
mit Bindestrichen: Edmont-Herge-Puzzle, ich glaub übrigens, dass es "Edmond" heißt, also mit "d" am Ende.
Alles was man tun musste, war es also, den Kranken anzustechen
Komma zu wenig, „es“ zuviel: Alles, was man tun musste, war also, den ...
Es hat einige Tote gegeben.
Auch hier besser Präteritum: Es gab viele Tote.
Es war wieder dieses aufrichtige Lächeln, dass nun jedoch seine Freundlichkeit verloren hatte.
das
aber es war das einzige was er fühlte
groß und Komma: das Einzige, was er ...
Ein Lachen erschall.
erscholl oder erschallte
Reißend und Gefährlich.
klein: gefährlich
Manchmal ist an den Dingen einfach mehr, als reine Sachlichkeit.
ohne Komma
die ihn angafften wie eine Laborratte.
ich bezweifle sehr, dass es damals diesen Begriff schon gab
Sie waren wohl hier hergekommen
hierher gekommen
gebildete Menschen oder die sich wenigstens einbildeten gebildet zu sein
zuviel „bild“ - Vorschlag: gebildetet Menschen oder die sich zumindest dafür hielten
Du lenkst oft vom Wesentlichen ab, bleibst nie am Eigentlichen dran - das nimmt immer wieder die Spannung heraus, statt sie zu erhöhen.
Beispiel:
um ihn herum erhoben sich weiß gekachelte Wände. Sie waren alt. Einige zeigten kleine Sprünge und gebrochene Kanten. Gemeinsam hatten sie allerdings einen schwarzen Schmutzfilm, der wie ein erdiger Pilz auf ihnen zu wachsen schien. Darüber begann die Tribüne mit ihren Zuschauern, welche auf alten, von vielen Hosen und Röcken abgewetzten Holzbänken saßen. Wie viele mochten dort schon gesessen haben und Experimente wie dieses beobachtet haben? Wie viele mochten bereits vor ihm auf diesem Tisch gelegen haben, den Blicken der Studenten und der Willkür der sogenannten Ärzte ausgesetzt?
Edmont waren die Antworten egal. So sehr waren diese Fragen mit Schrecken und Furcht erfüllt. Flucht war das einzige woran er dachte.
groß und Komma: ... Einzige, woran ...
Wieso bringst du diese Gedanken hier, wenn es ihm eh egal ist?
in ihm wieder zu Nichte machte
ist doch nicht seine Nichte, oder? ;) - zunichte
wusste er doch bereits unlängst die Antwort darauf.
„unlängst“ häh? - einfach weglassen
für jene die ihm zusahen war es nur ein lautloses Zittern der Lippen
Kommas: für jene, die ihm zusahen, war ...
Was er sah hätte einem düsteren Alptraum entsprungen sein können.
Komma: ... sah, hätte ...
In seiner linken hielt er einen kleinen Drahtkorb
groß: Linken
Es fühlte sich an wie sterben.
groß: Sterben
Die Studenten hatten recht daran getan die Äußerungen des Arztes über den Zusammenschluss von Gott und der Wissenschaft mit fast lästerlicher Unruhe begegnet zu sein, denn seiner körperlichen Gesundheit hatte das Erlebte keinen Abbruch getan.
Komma: ... getan, die Äußerungen ... ansonsten versteh ich den Inhalt dieses Satzes nicht.

Ich kann das Grauen, das der Held empfindet, nicht nachvollziehen, du gehst zu weit von ihm weg, richtest den Blick immer woanders hin. Alle handelnden Personen haben wenig Profil, besonders der Protagonist. Warum weiß der Arzt, dass er so gesund ist? Die Verknüpfung mit dem Eiffelturm erscheint mir etwas mutwillig, die Auflösung der Geschichte ist flau und undurchsichtig und unbefriedigend. Edmont hat ein eigenartiges Erlebnis, aber im Grunde passiert nix mit ihm, er ist danach noch der gleiche wie vorher, sicher, er hat Wunden und auch noch Angst, aber da er auch vorher keine bestimmten Charakter zeigt, kann man auch danach keine Auswirkungen auf diesen erkennen.
Der letzte Satz ist so bedeutungsschwer, aber nicht ganz verständlich - der Held glaubt, das er auch was Großes für die Menschheit geleistet hat?

Gruß
Andrea

 
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Hallo Andrea,
zwischen dieser und meiner letzten Geschichte liegt eine ganze Weile. Es war mir sehr schwer gefallen wieder etwas zu Papier zu bringen. Aber als es dann geschafft war, hatte ich eigentlich ein ganz gutes Gefühl. So kann man sich täuschen. Vor allem, dass ich es nicht geschafft habe dem Prot etwas Tiefe zu verleihen. Gerade dies ist mein häufigster Kritikpunkt, den ich hier unter Geschichten schreibe.
Ich werde mal sehen, was sich da noch machen lässt.
Die Fehler hab ich korrigiert.
Danke! :)

Einen lieben Gruß...
morti

So. Dieses "Nicht handeln" des Helden hab ich nun einmal aufgegriffen und zu einem Thema der kg gemacht. Ich weiß nicht, ob es mir dadurch gelungen ist, der Person etwas mehr Tiefe zu verleihen, aber ich hoffe es mal. Das war jetzt mehr ein Schnellschuss. Vielleicht fällt mir ja noch etwas besseres in nächster Zeit ein. Irgendwie bin ich nun selbst ziemlich unzufrieden mit dieser Geschichte, hat mir deine Kritik doch an vielen Stellen erst Schwachpunkte gezeigt, die ich vorher nicht vermutet hätte. Aber dafür ist se ja gut, so eine Kritik. :)

Einen zweiten lieben Gruß... :)
morti

 

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