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Adolf's Worst Case
Adolf, ein dünner und kränklicher junger Mann, ging mit gesenktem Blick die Milchstraße entlang. Soeben hatte er seinen Ausbildungsplatz verloren, weil er seine eurosportinduzierte Frustbewältigungsmethode an der Ausbilder-Glatze ausprobierte, der die Faust im Magen nicht schmecken wollte. Dabei verstand man sich, eigentlich. Bis sich der Testosteron-Schrank und die Glatze über Adolfs fachlich diagnostizierte bipolare Persönlichkeitsstörung lustig zu machen begannen. Er würde keine Scheingespräche mehr führen, die Poldis Torflaute oder die Mainzer Siegesserie zum Inhalt hätten, dachte Adolf, einige alte Kassenzettel entsorgend.
Dabei fiel ihm ein Bettler auf, der auf einem Lumpen saß. Der dreckige Alte, dessen schwarzgrauer Bart wohl unfreiwillig mit Herbstlaub verziert war, erschreckte Adolf wie der Teufel selbst. Nicht, weil der Bettler besonders aggressiv oder aufdringlich Geld eingefordert hätte, nein, vielmehr darum, weil Adolf in ihm eine verwirklichte Möglichkeit seiner selbst zu entdecken glaubte, nämlich den worst case. Er konnte nicht aufhören, diese verlotterte Erscheinung zu betrachten, die er allmählich zu hassen begann: mit aufgerissen Augen starrte Adolf dem Bettler mitten ins ungewaschene Gesicht, als wäre er gekommen, um diesen widerlichen alten Mann seine Widerlichkeit spüren zu lassen; selbiger, zunächst freundlich und interessiert dasitzend, fühlte sich bald belästigt und bat Adolf, doch bitte zu gehen. Doch der junge Mann, angeekelt und fasziniert gleichermaßen, stand weiterhin leicht nach vorne gebeugt da, während seine feingliedrigen Finger zu zittern anfingen. Die Zukunft war offen, nach allen Seiten hin gefährlich weit offen, dieser Gedanke schmerzte Adolf im Hirn. Schließlich schlich er, blass und verschwitzt, auf unsicheren Beinen fort. Noch einmal sah er sich um, noch einmal kreuzten sich die verächtlichen Blicke des Armen mit denen des Ärmsten.
Dann drehte sich Adolf final um und rannte los. Wenn er sich beeilte, könnte er seinen Brechreiz vielleicht noch ein Weilchen hinauszögern, bis er zu Hause angekommen wäre. Die Vorübergehenden verstanden nicht, wieso er plötzlich stehen blieb und seinen Mund wie ein Wasserspeier aufriss. Bis eine grauenvolle Kotzfontäne aus ihm herausplatzte, die ihn leicht zurückstieß. Adolf fiel, von den vielen Ausbrüchen ganz geschwächt, auf den Bauch, mitten in halbverdaute REWE-Fritten und American Sandwiches. Ein Hausmeister wurde gerufen, der sich des Entkräfteten annehmen sollte. "Mein Herr, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gerne wegkehren. Sie vergraulen die Kunden". Aus dem Augenwinkel sah Adolf ein riesiges Kehrblech, das der Hausmeister mit fragender Miene auf ihn richtete. "Nein ... noch nicht, ich darf noch nicht weggekehrt werden", keuchte er.
Noch nicht. Denn die Zukunft war offen, nach allen Seiten hin gefährlich weit offen...