Was ist neu

Alarm

Mitglied
Beitritt
14.07.2004
Beiträge
369
Zuletzt bearbeitet:

Alarm

Alarm

Neben mir am moosbewachsenen feuchten Ufer eines kleinen idyllischen Baches, sitzt ein kleiner Bengel von acht Jahren. Er versucht, mit seinen ungeschickten Händen Fische zu fangen. Immer wieder entgleitet ihm das kleine Stückchen Brot aus seinen dicklichen, kurzen Fingern, das er auf den Haken stecken möchte. Schließlich helfe ich ihm doch und die vermeintliche Beute landet sicher im kühlen Wasser.
Der liebenswerte Bursche ist etwas zu kurz geraten für sein Alter und auch ein bisschen zu mollig. - Egal, er lebt. Dass er noch am Leben ist, ruft in mir ein Gefühl von stolzer Freude und freudigem Stolz hervor. Man vergisst derartige Erfahrungen niemals, behält sie wie zarte, nie schwindende Schemen in zweifelhafter, unbegreiflicher Erinnerung. Das genaue Datum entflieht eines Tages in einsame Ferne, dennoch, es bleibt für alle Zeit ein außergewöhnlicher Tag. Der Tag, an dem ich die Möglichkeit hatte, ein Leben zu retten und dies auch vermochte. Wenige Jahre später stelle ich schließlich fest, dass es sich wahrhaftig gelohnt hat. Für jenes damals so zierliche Wesen einen ahnungslosen Augenblick lang die unerwartete und bestimmende Verantwortung zu tragen, um so den Lauf seiner künftigen Vergangenheit und gleichzeitig seiner denkbaren Zukunft tiefgreifend zu verändern …
Für diesen Jungen selbst, für seine an jenem Abend verzweifelten Mutter, war und ist es ein besonderer Tag gewesen. Auch für mich darf er dies sein, dagegen für alle anderen Menschen war es ein ganz gewöhnlicher Wochentag.

Mein Telefon läutet. Wer um Himmels Willen könnte um diese Uhrzeit noch anrufen? Gerade war ich zufrieden am eingeschlafen. Wie immer vor dem Fernsehgerät, weil ich zu müde gewesen war, ins Schlafzimmer zu gehen. Es läuft überhaupt nichts Spannendes mitten in der Woche.
"Lass es läuten, lass es läuten, irgendwann hört es schon wieder auf", denke ich halb schlummernd…
Nein, es hört nicht auf zu klingeln. Lustlos erhebe ich meine kraftlosen Glieder aus dem gemütlichen Sofa und bewege mich in Richtung Telefon.
"Ja, hallo", murmele ich in den Hörer. Cayla ist am anderen Ende der Leitung. Wie üblich.
Sie ist eine sehr gute Freundin, wohnt im selben tristen Mehrfamilienhaus wie ich und meine Familie. Nur zwei Etagen über uns. Wieder mal ist ihr langweilig. Sie lebt allein mit ihren beiden Kindern.
Ein Mädchen von siebzehn Monaten – Sophie - und ihr kleiner Sohn Marco, gerade mal zehn Wochen alt. Noch so winzig ist er, da er viel zu früh zur Welt kam. An einem Monitor hängend, der seine Atmung überwacht und Alarm schlägt, wenn er das Atmen einstellt. Aber das kam schon ein paar Tage nicht mehr vor.
In Ordnung, jetzt bin ich fit. Dafür hat die teure Cayla gesorgt. Also, kann ich auch genau so gut nach oben zu ihr gehen. Vermutlich packt sie ihre vergilbten, abgegriffenen Tarotkarten wieder einmal aus, um auszukundschaften, wann sie ihren Traummann endlich treffen würde.
Vielleicht höre ich Cayla auch erneut zu, wie sie am Telefonapparat an einer für Frauen kostenlosen Datingline hängt, um dort ihrem edlen Prinzen zu begegnen. Hin und wieder verabredet Cayla sich mit einem der möglichen Kandidaten, der mit ihr den Rest ihres Lebens zusammen verbringen soll.
Ich weiß, sie ist eine blinde Traumtänzerin, aber wer hat schon den nötigen Mut, seiner besten Freundin so etwas direkt ins Gesicht zu sagen, selbst dann nicht, wenn man sich beinahe dazu verpflichtet fühlt.
Nun, ich lasse sie in ihren Träumen, behaftet mit der stillen Hoffnung, dass sie allein diese sinnlose Unnötigkeit erkennt. Cayla muss begreifen, dass es so etwas wie die Liebe über seltsame Umwege nur äußerst selten, oder nur in den sentimentalen Romanverfilmungen des Abendprogramms bestimmter dafür prädestinierter Sender des Fernsehens gibt.
Marco, der von seinem Leiden kaum etwas erahnt, und mit herrlich blauen Augen seinen noch verschwommenen Lebensraum wahrnimmt, ist das Ergebnis einer solchen selbstquälerischen Verabredung. Cayla kennt nicht einmal den Nachnamen ihres Prinzen für eine gedankenlose Nacht. Dieser wird wohl auch unmöglich erfahren dürfen, dass er einen neugeborenen Sohn hat. Genauso wenig wie Marco, der nie die geringste Gelegenheit haben wird, und haben darf, zu erfahren, wer sein eigentlicher Vater ist. Nun gut, das geht mich nichts an. Meine Ansicht versteht sie, ignoriert sie aber gekonnt.
Wie eine anmutige Raubkatze durchstreift sie Samstag für Samstag ihr vertrautes Revier, auf der Suche nach Nahrung für ihre verletzte Seele, nur um am nächsten Morgen feststellen zu müssen, dass sie ihren Hunger nach Liebe erneut nicht wirklich stillen konnte. Ich werde Cayla nicht in ihre zahllosen Affären reinreden. Dazu habe ich auch gar kein Anrecht. Jeder ist seines eignen Glückes Schmied. Da ist was Wahres dran. So manches Mal wünsche ich mir jedoch, Cayla wäre ein besserer Schmied.

Zum Tarotkarten legen, und auch zum Telefonieren kommen wir heute nicht, dazu bleibt bei der plötzlich aufkommenden Hektik keine Zeit. Gemeinsam mit ihrem Jungen sitzt meine Freundin auf dem schwarzgrauen Mikrofasersofa mir gegenüber, während ich auf dem Sessel auf der anderen Seite des kleinen Tischchens sitze. Vor mir steht mein Glas Wasser.
Marcos blaue Augen, die heute irgendwie nicht so strahlen wie sonst, sind geöffnet. Gerade hat er sein Fläschchen getrunken, allerdings nur bis zu einem Drittel, was eigentlich ungewöhnlich für ihn ist. So wirklich wach ist das Kerlchen nicht. Eine beklemmende Ahnung beschleicht mich. Ein zarter Hauch von grau bis grünlich umringt seine blassbläulichen Lippen.
"Warum hängt er nicht am Monitor", höre ich mich selbst ins Leere fragen. "Du solltest lüften und aufhören zu rauchen, wenn er im Raum ist."
„Ihm fehlt nichts“, entgegnet Cayla mir schroff. "Ich sitze doch ständig neben ihm, und höre wenn ihm was fehlt."
Diese leidige Diskussion haben Cayla und ich laufend. Ist doch nicht so schwer den Jungen ständig anzuschließen, oder?
Die Elektroden, die mit Hilfe von Aufklebern angebracht werden, und seine Atmungsbewegungen messen sollen, kann ich nicht sehen, da sie ja normalerweise auf seiner Brust festgemacht werden, verborgen unter seinem Strampelanzug. Auch die Kabel, die von dort zum Monitor führen sollten, kann ich nirgends sehen.
"Vielleicht solltest du ihn vorsichtshalber doch anschließen, er sieht nicht gut aus".
Widerwillig erhebt sie sich endlich von ihrem Sofa, und geht in das fröhlich eingerichtete Kinderzimmer, gleich gegenüber dem Wohnzimmer, in dem ihre Tochter Sophie friedlich schläft, um die Aufkleber und den tragbaren Monitor zu holen. Es dauert ein paar Minuten, bis wir den Kleinen mit dem Monitor verbunden haben. Mit geschickten Händen arbeiten wir zusammen daran. Mittlerweile weiß auch ich, was ich tun muss. Nachdem er angeschlossen ist, und vom Herumhantieren wieder munterer ist, scheint es dem Kerlchen besser zu gehen. Seine Lippen und sein winziges Gesichtchen nehmen wieder eine zartrosa Farbe an. Ich verstehe ja durchaus, dass diese Prozedur lästig ist, aber schließlich geht es doch um die Sicherheit ihres Kindes.
Ich hole einen kühlen, feuchten Waschlappen. Zärtlich streicht Cayla ihrem Sohn damit über seine Wangen, seine Stirn, und die winzige Nase. Erleichtert öffne ich die Balkontüre, um frische Luft herein zu lassen. Zum Rauchen gehen wir nach draußen. Alles scheint in bester Ordnung zu sein, und beide genießen wir die kühle Märzluft und den klaren, mit glänzenden Sternen bedeckten Himmel über uns. Von hier oben aus kann man direkt über die Grenze nach Salzburg zum beleuchteten Funkmasten sehen. Für ein paar wenige Minuten bin ich beruhigt. Ich unterhalte mich mit Cayla über die bevorstehende Party meines Sohnes Jonas, der morgen seinen vierten Geburtstag feiern wird.
"Wie wär’s mit Cappuccino?", will Cayla wissen.
"Gute Idee, ich helfe dir".
Zusammen gehen wir hinein ins Wohnzimmer, wo Marco ruhig eingeschlummert ist. Seine Atmung ist regelmäßig. Die Balkontür wird wieder geschlossen. Ist doch noch ziemlich kalt, so spät am Abend. Ich freue mich auf den Sommer, aber der lässt wohl noch etwas auf sich warten. Hier in den Bergen kann das dauern, da wechselt das Wetter von einer Minute zur anderen. Beide stehen wir ihn der Küche und warten darauf, dass sich der Wasserkocher endlich ausschaltet. Ich zähle die gewünschte Menge des Cappuccinopulvers in unsere Tassen….

Ein schriller, lauter Ton zerschneidet unser Gespräch. Sofort ist alles vergessen. Die Tassen, das Wasser, unsere Unterhaltung, alles. Cayla schreit den Namen ihres Jungen. Gleichzeitig stürmen wir ins Wohnzimmer zu Marco. Er bewegt sich kein bisschen. Die Augen geschlossen, die Lippen nicht einmal mehr blau, sondern gräulich, sein Gesicht fahl wie der Nebel über den Bergen. Keine von uns ist in der Lage, sich zu bewegen. Wir stehen nur da wie unbewegliche Säulen aus Stein. Eingefroren in unsere panischen Angst und traurigen Unwissenheit.
Nachdem ich alles gelernt hatte, was man in einer solchen bedenklichen Situation machen muss, war ich der trügerischen Meinung, ich wäre darauf vorbereitet. Ich bin es nicht!! Dieses kleine Menschlein ist echt, keine leblose Plastikpuppe zum Üben, der es egal ist, ob ich nun einen Fehler mache oder nicht. Kein ausgebildeter Sanitäter steht hinter mir, um im Notfall einzugreifen, wie damals im Erste-Hilfe-Kurs für Säuglinge.
Cayla geht es genauso. Sie sieht nur, dass ihr Sohn jede Sekunde ein bisschen mehr stirbt. Endlich - sie löst sich von ihrer stumpfen Lähmung und hebt das leblose Bündel hoch. Sie schüttelt ihn sanft und ruft immer wieder seinen Namen.
"Marco, Marco, mach die Augen auf … Mama ist ja da … bitte!"
Sie ist hilflos. Verzweifelt drückt sie mir das Kind in den Arm.
"Bitte Sarah, hilf ihm, du hast das doch gelernt."
Nie vorher habe ich eine solche Angst in Caylas Augen gesehen. Ich schreie sie an, sie solle den Notarzt rufen. Ich versuche mich selbst zu beruhigen. Ich zähle bis zehn - das funktioniert immer. Ich bin ruhiger. Langsam rufe ich mir alles in Erinnerung. Ich weiß nun wieder, was ich tun kann.
Vorsichtig öffne ich seinen schlaffen Mund. Mit dem Waschlappen, der noch immer auf dem Tisch vor mir liegt, wische ich sanft die Milchreste weg. Mehrfach puste ich ihm ins bleiche Gesicht. Meine Gedanken kreisen, aber noch bin ich konzentriert. Ich nehme nicht mehr wahr, was um mich herum geschieht. Es gibt nur dieses leblose Kind in meinen Händen, und mich. Ich höre nicht auf ihm immer und immer wieder ins Gesicht zu pusten. Dann ist dieser schreckliche Ton weg. Totenstille. Die Stille wirkt so unlogisch. Marco atmet. Ich erwache aus meiner Trance und suche nach Cayla. Sie sitzt im kalten Flur und weint.
"Wann kommt der Notarzt?"
"Ich find die Nummer nicht."
Wut steigt in mir auf. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber zum telefonieren hätte es sicher gereicht. Ich reiße ihr das Telefon aus der Hand, und wähle die Nummer selbst.
"Rettungsleitstelle, Schwester Wind."
Ich erkläre ihr, wer ich bin, wo ich bin und was passiert ist.
"Der Junge hängt am Monitor. Im Moment atmet er flach, aber er scheint nichts wahrzunehmen, bitte kommen sie sofort."
"Der Einsatzwagen ist andersweitig unterwegs, wir kommen so schnell wie möglich. Wenn das Kind aufhört zu atmen, machen sie das Gleiche wie vorhin."
"Bitte beeilen sie sich."
"Ich werde die Rettungsleitstelle Salzburg auch benachrichtigen, bleiben sie ganz ruhig."
Wieder dieses schreckliche Geheule des Alarms. Ich zucke zusammen, und lasse das Telefon fallen. Wie ferngesteuert laufe ich wieder zu Marco. Wieder atmet er nicht. Immer und immer wieder versuche ich ihn zum Atmen zu bewegen, in dem ich ihm wie eben ins Gesicht puste. Es hilft nichts. Schleimige Flüssigkeit läuft aus seiner Nase. Ich versuche mit dem Waschlappen die Nase frei zu bekommen. Sekunden später umrahmt mein Mund seine Nase und seinen Mund. Kein liebevoller Kuss. Ein mutloser Versuch, ihm Atem zu spenden. Vorsichtig blase ich meinen eigenen Atem durch seinen Körper direkt zu den winzigen Lungen. Einmal, zweimal, dreimal...
Pause.
Ich halte ihn vor mich und drücke mit meinen Daumen behutsam auf seinen Brustkorb – einmal, zweimal, dreimal. Wir atmen wieder zusammen, einmal, zweimal, dreimal. Immer und immer wieder. Der Alarm ist aus. Ich weiß nicht, ob ich alles richtig mache aber der Alarm ist aus - so falsch kann es nicht sein. Ich beobachte ihn. Die Augen noch immer geschlossen, aber der Brustkorb bewegt sich. Ich betrachte ihn still und starre immer wieder zur Uhr. Zwanzig Minuten, das kann doch nicht wahr sein. Wir wohnen nur fünfhundert Meter vom Krankenhaus entfernt. Wie kann man dann zwanzig Minuten brauchen, um hierher zu kommen. Dass der Einsatzwagen zu einem anderen Notfall unterwegs ist, habe ich längst vergessen. Ich bin nur zornig. Schaue abwechselnd zur Uhr und zu Marco.
Er atmet ruhig, aber sehr flach. Wo ist Cayla. Sie sitzt nicht mehr im Flur. Sie läuft auf und ab wie ein verstörter Gefangener. Im Moment ist sie nicht ansprechbar. Sie hat sich zurückgezogen, in eine andere Welt, in der ihr Sohn gesund ist und sie alles fest im Griff hat.
Der Alarm zerreisst die Stille. Noch nie in meinem Leben habe ich mich einem Menschen so nah gefühlt, wie in diesem Augenblick. Der kleine Marco und ich atmen wieder zusammen - er mit mir und ich für ihn.
Wir teilen uns ein Stück vom Leben für ein paar Sekunden und Minuten. Ich werde nicht aufhören mit ihm zu atmen, bis jemand kommt, der es besser kann als ich. Aber ich höre noch keine lauten Sirenen, kein helles Blaulicht leuchtet auf der Strasse. Kein erlösendes Klingeln an der Tür. Mich beschleicht eine furchtbare Angst. Vielleicht finden sie uns gar nicht. Es stehen doch so viele Häuser nebeneinander und eins sieht aus wie das andere. Die Hausnummern sind auch so schlecht zu lesen.
"Cayla, geh sofort nach unten, pass auf dass der Notarzt ins richtige Haus kommt. Schnell."
Sie ist wieder da. Sie hat nun eine Aufgabe. Muss nicht mehr hilflos daneben stehen. Im selben Moment rennt meine fassungslose Freundin nach unten, und wartet. Mein Gott, schon beinahe eine halbe Stunde.
Manchmal fängt man erst zu beten an, wenn man wirklich Hilfe braucht, und ich bete. Flehe zu einem unsichtbaren Gott, von dem ich mir nicht sicher bin, ob er dem Würmchen beistehen kann.
Vor mir stand noch das Glas mit Wasser. Ich tauche meinen Daumen hinein und führe ihn zu Marcos Stirn. Er ist noch nicht einmal getauft, denke ich. Welch irrsinniger Gedanke. Ist das jetzt so wichtig? Für mich schon.
In der Schule lernte ich einmal, dass es möglich war einem Sterbenden eine Nottaufe zu geben. Jeder durfte das machen. In diesem Moment scheint es mir richtig. Mein Daumen ruht noch auf seiner kühlen Stirn, und für einen winzigen Augenblick öffnet er die Augen. Ich weiß nicht ob ich mir das einbilde, aber ich freue mich trotzdem darüber und weiß ich hab nichts falsch gemacht.

Die Haustür ist noch offen. Cayla hat sie in der Eile nicht zu gemacht. Ich höre die Sirene des Notarztwagens. Kurz darauf unsere Nachbarn, die neugierig ins Treppenhaus laufen. Sensationssüchtig, wie immer. Jemand mit einer kräftigen Stimme, die ich nicht sofort verstehen kann, übertönt das sinnlose Geplapper unserer Nachbarn.
"Aus dem Weg."
Das muss der Arzt sein, der sich einen Pfad durch die Schaulustigen bahnt. Sekunden später nimmt ein älterer Mann in Sanitätskleidung mir das blasse Kind aus den Armen. Eine Sauerstoffmaske wird über seinen Mund und seine Nase gestülpt. Ich bin noch nicht bereit, ihn einfach gehen zu lassen und bleibe ganz in seiner Nähe. Ein anderer Sanitäter nimmt mich am Arm und zieht mich von Marco weg.
"Es ist alles in Ordnung. Der Kleine atmet. Wir kümmern uns jetzt um ihn. Sie haben das wirklich sehr gut gemacht."
Mir ist schwindelig. Ich setze mich wieder, und beobachte genau was sie mit "meinem" Kind machen. Ja, ich habe das Gefühl, jetzt würde er auch ein wenig zu mir gehören.
Cayla hat sich inzwischen beruhigt und zieht sich an, um ihren Sohn ins Krankenhaus nach Salzburg zu begleiten.
"Ich bleibe hier und passe auf Sophie auf. Ruf mich an, wenn du kannst."
Mehr kann und will ich jetzt nicht sagen. Der Ältere der beiden Sanitäter bringt Marco hinunter zum Einsatzwagen. Cayla geht sofort mit. Der Sanitäter, der mich am Arm genommen hatte, packt die Ausrüstung zusammen, bevor auch er nach unten geht. Ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit wuscheligem schwarzem Haar. Als er fertig ist sieht er mich an und lächelt.
"Der Kleine ist übern Berg, wir nehmen ihn nur zur Beobachtung mit. Sie haben ihm das Leben gerettet."
Wieder lächelt er und verschwindet im Treppenhaus. Scheppernd fällt die Wohnungstür ins Schloss. Ich bin allein.
Minutenlang sitze ich nur da und kann mich nicht bewegen. Sophie schläft. Ich muss mich nicht bewegen. Plötzlich springe ich auf und renne ins Kinderzimmer. Ängstlich schaue ich in das Gitterbett zu Sophie. Töricht, ich weiß. Sie schläft noch immer ganz ruhig. Hat von der Aufregung der letzten Stunde nichts mitbekommen. Ich gehe wieder hinüber ins Wohnzimmer und lasse mich in den Sessel fallen.
Langsam gleitet mein Blick auf dem Tisch. Der Waschlappen liegt noch da. Das Glas mit Wasser ist beim Verrücken des Tisches durch den Sanitäter umgefallen. Es verteilt sich in kleinen Rinnsalen über die Oberfläche. Das Licht von der Decke des Zimmers spiegelt sich darin. Das kann ich nicht ertragen. Es ist alles viel zu hell. Ich reiße die Balkontür auf. Ich brauche frische Luft zum Atmen, und schalte das Licht aus.
Nur der Mondschein fällt kaum wahrnehmbar vom Balkon ins Zimmer. Vor dem Tisch falle ich auf die Knie. Ich kann nicht mehr, meine Arme liegen auf dem Tisch in dem verschütteten Wasser. Ich spüre es nicht. Die Ärmel meiner roten Bluse saugen sich gierig damit voll. Ich weine - aus Verzweiflung, Wut und Erleichterung. Meine endlosen Tränen vermischen sich mit dem Wasser auf dem Tisch. Schließlich schlafe ich so kniend ein. Ein guter Schlaf in unbequemer Lage. Ich bin wirklich erschöpft. War so lange ich konnte für den kleinen Marco wach und konzentriert. Jetzt bin ich es, der eine helfende Hand nicht ablehnen würde.
Das Telefon klingelt. Ich war doch gerade eingeschlafen. "Lass es klingeln, lass es klingeln… es hört schon wieder auf", denke ich noch beinah schlafend. Es hört nicht auf. Cayla ist am anderen Ende. "Wie üblich", denke ich. Nein, nicht wie üblich. Plötzlich bin ich hellwach.
"Wie geht es ihm?"
"Alles in Ordnung. Ich habe meine Mutter angerufen. Sie kommt mich abholen. Marco bleibt noch ein paar Tage hier. Nur zur Beobachtung, haben sie gesagt. Seit Stunden kein Alarm. Bin gleich da, dann frühstücken wir zusammen, ja?"
Wortlos lege ich auf. Seit Stunden kein Alarm. Wie lang hab ich denn geschlafen? Meine Knie schmerzen entsetzlich. Ich war tatsächlich richtig eingenickt. Und ich friere, weil die Balkontüre immer noch offen ist.
Ich borge mir einen trockenen Pulli aus Caylas Schrank und streife ihn mir zitternd vor Kälte über, während ich nach draußen gehe. Auf dem Balkon stehend freue ich mich über die Morgendämmerung.
Ich bedanke mich bei der Sonne, dass Marco sie noch sehen darf und rauche eine Zigarette. Mein Kopf dröhnt von den Ereignissen der letzten Nacht, aber ich bin glücklich. Lange stehe ich dort und beobachte wie sich die rötliche Scheibe Stück für Stück in den Horizont hinein schiebt. "Es ist alles so wie jeden Tag", denke ich.
Cayla steht plötzlich hinter mir. Ihre Mutter spaziert in die Küche um Frühstück zu machen. Nebeneinander stehend, mit den Händen auf dem Geländer ruhend, sehen wir uns an. Meine Freundin umarmt mich und küsst mich auf die Wange.
"Danke", flüstert sie.
"Bitte", flüstere ich zurück.
Mehr Worte sind nicht nötig.
Wir umarmen uns gegenseitig und vergießen erleichternde Tränen, aber wir schämen uns ihrer nicht.

Die Angelspitze zittert zaghaft.
"Schnell Marco, zieh an."
Ein silbrig glänzendes Fischchen hängt an Marcos Angelschnur und hüpft wild im grünen Gras umher. Irgendwie löst es sich vom Haken und springt mit zappelnden Vorwärtsbewegungen in Richtung Bach. Schnell lege ich die Hand um das winzige Fischchen. Ich lasse es in einem Eimer mit Wasser, der neben uns in der feuchten Wiese steht, behutsam aus meinen Fingern gleiten.
"Danke Sarah, du hast ihn noch erwischt, du bist super. Die Mama hat Recht, die sagt das auch immer.
"Nein Marco, so toll bin ich gar nicht. Ich bin nur manchmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort - das ist alles."
Er lächelt mich an, und eine kleine verstohlene Träne klammert sich in meinem Augenwinkel fest.
Ich blicke ihm direkt in sein glückliches Gesicht.
Ist das nicht das schönste und wertvollste Lächeln der Welt?

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Kürbiselfe,

deine Geschichte gefällt mir auch gut. Sehr gut sogar. Durch die vielen kleinen Details wird sie schön anschaulich - man kann sich sehr gut in die Extremsituation hineinversetzen, mit der Prot mitfiebern und regelrecht das Adrenalin spüren :D

Nur: Wenn ein Krankenwagen untewegs ist, wird dann nicht der von der nächsten Stadt geschickt? Versteh mich nicht falsch, aber dass viele Notfälle gleichzeitig passieren, ist keine Seltenheit. Und da wäre es ja noch schöner, wenn ein Herzinfarktpatient stirbt, weil die Sanitäter eine Schnittwunde behandeln - das kann ich mir so eigentlich nicht vorstellen. :confused:
Höchstens, deine Geschichte spielt irgendwo im extrem ländlichen Bereich mit vielleicht 200 Einwohnern auf einer Riesenfläche... ( :D die Mongolei zum Beispiel)

Lieben Gruß,

Anea

 

Hallo Anea

Ich freu mich, dass dir meine Geschichte gefällt. :D

Lass mich noch erklären:

Nur: Wenn ein Krankenwagen untewegs ist, wird dann nicht der von der nächsten Stadt geschickt?
Auf einer Balkonszene (Mann, hört sich das dämlich an, is aber eine) wird erklärt, dass man über die Grenze nach Salzburg sehen kann. Das heisst, sie sind nicht in Salzburg. Genauer gesagt spielt sich das Ganze in Freilassing ab. Keine sehr kleine Stadt und auch nicht ganz in ländlicher Gegend. Aber die nächste größere Ortschaft ist tatsächlich Salzburg, obwohl das nicht mehr auf deutscher Seite liegt, gibt es ein Abkommen zwischen den beiden Krankenhäusern, welches besagt, dass auch Salzburg gerufen werden kann, wenn in Freilassing "Not am Mann" ist. Und umgekehrt natürlich. Von dem Abkommen freilich habe ich im Text nichts erwähnt, das würde zu weit ausholen, aber folgende Zeilen erklären, glaube ich, schon ganz deutlich, dass man Salzburg zu Hilfe ruft. Tasächlich sind es auch nur ein paar wenige Kilometer von Freilasssing nach Salzburg. Auch andere Stellen im Text machen dies deutlich, wie oben genannte Balkonszene beispielsweise.
"Der Einsatzwagen ist andersweitig unterwegs, wir kommen so schnell wie möglich. Wenn das Kind aufhört zu atmen, machen sie das Gleiche wie vorhin."
"Bitte beeilen sie sich."
"Ich werde die Rettungsleitstelle Salzburg auch benachrichtigen, bleiben sie ganz ruhig."
Ich hoffe, Deine Bedenken sind nun ausgeräumt. ;)

Vielen Dank fürs Lesen und Deine lobenden Worte. :)

Liebe Grüße von Susie

 

Tja,bei deinen Gescihchten lernt man doch immer gleich was. :bib:
Ich wohne auch im Grenzbereich (an Frankreich) - bei uns gibts mehrere Wägen, die kommen dann eben von weiter nördlich bzw. südlich. Aber ich hab noch nicht in den Atlas geschaut - ich werd mich mal mit der Geographie vertraut machen.

Liebe Grüße,
Anea

 

Hallo Kürbselfe,
ohne Zweifel eine gut geschriebene Geschichte, und jetzt kommt das goldene aber ;)
nun, irgendwie kann ich keinen klaren Kritikpunkt fassen, aber sie hinterlässt einen schalen Beigeschmack; wenigstens bei mir. Keine Frage, die Spannung stimmt, nur drückst du mir dabei zuweilen etwas zu sehr auf die Tränendrüse. Mir kam direkt ein RTL movie in den Sinn, als ich deinen Text las. Das würde passen. Dennoch hat mir deine Geschichte gefallen!

Liebe Grüße
morti

 

Hallo morti,

danke Dir für Deinen Beitrag.
Es ist schon ziemlich schmalzig geschrieben. Das geb ich zu. :shy:
Als es passiert ist, habe ich es jedoch genau so empfunden und tue es noch. Die Geschichte schildert einfach die Erlebnisse eines Tages bzw. einer Nacht, die schon einige Jahre zurück liegt und so alt ist auch die Geschichte. Ich möchte daran nicht viel verändern, auch wenn ich Deinem goldenen aber nicht widersprechen kann. :) Freut mich aber, dass sie Dir dennoch ein wenig gefällt. :D

Liebe Grüße, Susie

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom