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Alice S. Im Wunderland
Alice S. im Wunderland
Herbstlaub wirbelte auf. Heftiger, kalter Ostwind brachte der kleinen Stadt am Meer einen Vorgeschmack auf den bald eintreffenden Winter. Martin klappte den Mantelkragen hoch und verkroch sich bibbernd in seinen Trenchcoat. Nur ein kurzer Weg trennte ihn vom Tagungsort. Das ehemalige Gutshaus wirkte einladend. Groß, weiß, fast unschuldig stand das hundertjährige Gemäuer da. Die hellen Sprossenfenster und das daraus verströmende Licht versprachen Wärme und Behaglichkeit.
Ein herausgerissenes Blatt eines veralteten Wartezimmermagazins stob durch die Luft und blieb am feuchten Boden kleben.
"Alice Schwarzer ist tot." Die Schlagzeile sprang schmerzend in Martins Augen. Er erstarrte. Las die Überschrift nochmals und wünschte sich, das nicht getan zu haben. Mit zitternden Händen wischte er Tränen von der Wange. Weitere Tränen liefen nach. Seine Gedanken riefen ihn zur Ordnung. Sei Mann! Ja, genau, das wollte er. Martin hob trotzig den Kopf, räusperte sich kraftvoll und atmete aus der Tiefe seines maskulinen Brustkorbes. Er ahnte, dass der kurze Weg bis zum Treffpunkt für ihn ein langer Weg sein würde.
„Ich heiße Martin ...“. Er stockte und starrte auf die breitschultrige Vorrednerin, die am Rand Platz genommen hatte. Sie nickte ihm aufmunternd zu. „Also, ich heiße Martin“, begann er von neuem „und ich bin zum ersten Mal hier.“
Es entstand eine quälende Stille. Fast körperlich empfand er die Neugierde auf seine Geschichte. Widerliche Neugierde. Er nahm allen Mut zusammen, hob seine Stimme: „Ich, ich bin ... ein Feminist! Ein Radikal-Feminist!“ Jetzt war es heraus. Martin blickte in die Zuschauermenge. Ein Raunen ging durch den gut besuchten Saal. Mit einem Stoßseufzer stimmte er sich auf sein Problem ein. Er und seine Seele brauchten Befreiung, Befreiung von der Last, dem Makel, eine irrende Seele zu sein.
„Ich habe diese furchtbare Krankheit schon seit vielen Jahren. Zunächst ist mir gar nicht bewusst geworden, dass ich krank bin. Eigentlich ist es doch nicht ungewöhnlich, gelegentlich Frauen toll zu finden. Anfangs wusch ich nach dem Abendbrot das Geschirr ab. Ich fand das normal und in Gesellschaft macht es ja auch Spaß.“ Weit hinten im Saal hörte man einen vereinzelten Buhruf.
„Später backte ich Apfelkuchen“. Jetzt mehrten sich die Buhs. Martin blickte gequält nach oben. Aber das ist nicht alles. Zuletzt war ich so weit, dass ich sogar eine Kinderpatenschaft in der dritten Welt übernommen habe.“ Martin machte eine Pause. Seine hellgrauen Haare bildeten einen interessanten Gegensatz zur gebräunten Haut. Er hob an, senkte den Blick und holte die ganze Wahrheit an das Licht. „Für ein Mädchen.“ Viele Zuschauer standen jetzt auf und handvertrichterten den Mund, um die Buhrufe noch eindringlicher zu gestalten. Geschlechterdiskriminierung wurde nicht geduldet.
Frauenfreundlichkeit, Feminismus, Radikalfeminismus. Der ins Tal rollende Schneeball der Geschichte wurde runder und extremer. Die Übersetzung lautete Frauenduldung, Frauengleichstellung, Frauenbevorzugung - die drei aufsteigenden Säulen der Schwarzer-Epoche. Sie brachen zusammen, nachdem Frau Schwarzer tot zusammengebrochen war. Geschlechterrevolution in Betrieben, Behörden und Beziehungen. Männer wollten endlich wieder echte Männer sein und Frauen wieder Frauen. Keine Frauenbeauftragte mehr, sofern es keinen Männerbeauftragten gab. Keine Frauensauna ohne Männersauna. Keine Frauenbibliothek ohne Männerbibliothek. Die Magierin des Sexismus’ übte keine Macht mehr auf die Anwesenden aus.
Martin wollte erklären. Erklären, warum ein Schuldiger keine Schuld trug. Warum er das tat, was ein Täter für tatwürdig hielt.
„Ich habe das Buch „Der kleine Unterschied“ von Alice Schwarzer gelesen. Die Bibel des Feminismus’. Schlecht war es nicht, genau genommen fand ich es interessant. Allerdings habe ich mir schon Gedanken darüber gemacht, was geschehen könnte, wenn man nicht Maß halten würde. Dennoch war ich völlig sicher, dass ich persönlich damit umgehen könnte.“ Im Saal ruhte die Masse. Trügerisch. Die Meute witterte die nächste Geschlechtsdiskriminierung.
„Mein Abwärtsstrudel begann ganz harmlos. Ich abonnierte die ‚Emma’ und wann immer ich konnte, förderte ich Frauen. Eigentlich nicht schlecht. Aber unmerklich wandelte sich der Haustier-Feminismus zum Radikal-Feminismus. Ich rutschte ab. Die Droge pulste in meinem Blut. Ich konnte nicht mehr anders. Im Betrieb trat ich für Frauenquoten ein, auch wenn weit qualifiziertere Männer dadurch benachteiligt wurden. Fast immer kam mein Verhalten gut an, denn ich war gesellig und Frauenfreundlichkeit wurde auch erwartet. Ich übertrieb allerdings. Bald schämte ich mich, ein Mann zu sein; wusste ich doch, dass ich zur Hälfte aus einem Tätergen bestand.“ Viele Buhs gruben sich in die martinsche Seele. Er wollte weinen; überwand den Anfall und rückte die Krawatte zurecht.
Eine junge, blonde Frau betrat leise den Saal. Tippelnde Schritte auf dem Parkettboden. Ihr Blick suchte nach einem freien Stuhl. Ganz vorne in der ersten Reihe, neben Martins leerem Sitz, setzte sie sich. Sie schlug ihre Beine zusammen und schüttelte die volle Mähne.
„Wenn auf einem Frauenparkplatz ein Mann sein Auto abgestellt hatte, habe ich den Lack zerkratzt. Einfach so. Gewalt gegen Gewalt!“
Die Blondine in der ersten Reihe lächelte, kramte in ihrer Handtasche nach einem Lippenstift und zog die vollen Lippen in kampfrot nach. Als Martin sie ansah, machte sein männliches Herz unwillkürlich einen Sprung. Wie bei pawlowschen Rüden sammelte sich der Speichel in seinem Mund. Sein konditioniertes Hirn schrie „NEIN, ich muss sie schützen! Vor dem Patriarchat, vor allgegenwärtiger Männergewalt, jahrtausendelanger Unterdrückung und vor üblen Männergelüsten!“
„Manchmal ging es mir besser, für ein paar Tage, vielleicht für einen Monat. Doch dann baute ich einen Rückfall.“
Die Blondine leckte sich die Lippen. Glitzerndes Nass auf ihrer Unterlippe traf auf Martins feuchte Augen. Geradezu magisch bohrte sich der Männertraum in seinen Blick. Beinahe hypnotisiert sprach er weiter.
„Das Schlimmste, liebe Zuhörerinn ... liebe Zuhörer, bevor ich dem Radikalfeminismus abgeschworen habe, war die Enthaltsamkeit. Ich schlief nicht mehr mit Frauen, weil ich annahm, dass jeder Akt für die Frau ein Zwangsakt ist. Und - ich war doch nur ein Mann. Warum sollte sich eine Frau nach mir umsehen?“
Lachen im Saal. Die Blondine lächelte auch. Heikel. Allgemeines Lachen war in Ordnung, blondes Lächeln nicht. Was dachte sie sich nur? Dachte sie, er sei ein unbrauchbarer lila Pudel? Sah er vielleicht aus wie ein Weichei? Vorher war es nur ein Saal mit anonymen Feministen. Jetzt war es ein Raum mit ihr und mit ihm. Soviel blond auf einmal. Was sollte er nur sagen?
Er hob die Hände. Beschwörend bat er um Ruhe, wie ein amerikanischer Fernsehprediger. Mit den erhobenen Armen bildete sein Körper ein Kreuz. In Tateinheit mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck beherrschte das verborgene Tätergen kurzfristig die Psychologie der Massen. Erwartungsvolles Schweigen.
„Liebe Freunde!“ Um die Spannung noch zu vergrößern, baute er eine Kunstpause ein. „Liebe Freunde! Ich bin geheilt! Ich will nur noch - ganz Mann sein!“
Die Masse stockte einen Moment, so viel Inhalt brauchte Zeit zur Verarbeitung. Dann riss es die Menge begeistert von den Stühlen und donnernder Applaus brandete ihm entgegen. Martin badete in der Woge, genoss sie und wuchs daran.
Auf dem Weg zum Sitzplatz nahm er kopfnickend Beifall und Jubel entgegen. Die Langmähnige klatschte ebenfalls. Martin zog seine Augenbraue hoch und lächelte sie zögernd an. Die nächste Rednerin bat um Aufmerksamkeit. Aber war es nicht gleich, was und wovon sie redete? Neben ihm duftete es nach Rosen und Vanille. Das empfindliche Geschöpf zog den Rocksaum zurecht. Es gab nicht viel, an dem sie ziehen konnte. Ergo muss sie Single sein, dachte Martin.
„Hat dir mein Vortrag gefallen?“, wisperte er in Langmähnes Richtung. Ihre Lippen lächelten lockend. Vermutlich denkt sie jetzt, ich sei ein Schwein. Ein männliches Schwein, das nur das Eine will und zwar sofort. Penetrationsgelüste. Sie wird gleich aufstehen, mit dem Finger auf mich zeigen und ‚Lüstling’ schreien.
„Ja“, sagte sie und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre langen, samtigen Wimpern bogen sich nach unten.
Oh, sie hat JA gesagt. Verdammt. Martins Herz rutschte in den Magen und veranstaltete dort einen Tumult. Was nun? Was hätten Charles Bronson oder John Wayne in dieser Situation getan?
„Hast du Lust auf einen Kaffee nachher?“
Das klappte wie Radfahren. Gewisse Dinge verlernt man nie. Doch dieser Moment war eine brandheiße Klippe. Kaffee kam schon beinahe einem Paarungsversuch gleich, quasi Spermien in Tassen. Während des Kaffeetrinkens könnte man unverfänglich über Alice Schwarzers Ableben diskutieren und ob es ihr in der Himmelin... im Himmel gut gehen würde. Vermutlich nicht, denn Gott der Herr war ein Mann und keine Frau. Ein schlechter Start für himmlischen Gleichstellungsrabatt. Aber einerlei, worüber sie sprechen würden, am Ende wäre er ein Schwein, vielleicht sogar ein Täter. Martin pfiff seine Gedanken zurück. Entzug beginnt im Kopf. Die Schönheit an seiner Seite hauchte ein „Ja“. Nicht nur ein einfaches JA, sondern ein erfreulich sinnliches JA. Soviel geballte Fraulichkeit! Der Keimling Kerl durchbrach Mutter Erde, um zu wachsen. Schön! Seine Beute war willig und unendlich lecker blond, unkomplizierter Sex lauerte da auf ihn. Hereindonnernder Speichelfluß. Schlucken. Mann-Sein. Täter Martins geläuterter Alice-Kopf begriff, dass er am heutigen Abend mit absoluter Sicherheit nur eine untergeordnete Rolle spielen würde - und dass ein Ende auch immer einen Anfang bedeutet.