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All About Us
Ich stehe an der Verbindungsstraße zu ihrem Dorf, die Hände in den Hosentaschen, habe meine Jacke vergessen, weil es so wichtig klang. Jessie klingt nicht oft so entsetzt. Eigentlich hört man ihrer Stimme insgesamt sehr selten an, wie es ihr überhaupt geht. Verdammt, wo bleibt sie denn? Da mir langweilig ist, fange ich an, die Sterne zu zählen. Als ich bei 87 angekommen bin kann ich das Vorderlicht ihres Fahrrades in der Ferne erkennen und kurz darauf legt Jessie direkt vor mir eine Vollbremsung hin. Trotz der Dunkelheit hier draußen kann ich in dem schnell verblassenden Licht des Dynamos noch erkennen, dass sie geweint hat. Sie lässt ihr Fahrrad achtlos ins Gras fallen und wirft sich mir um den Hals, wo sie dann endgültig in Tränen ausbricht. „Scht. Ist ja gut“, versuche ich, sie zu beruhigen und streiche ihr sanft über den Rücken. Ihr Körper bebt vor Schluchzen. Was hat er bloß mit ihr angestellt?
„Mia...“, bringt sie nur stammelnd hervor.
„Ja, ich bin ja da. Scht. Alles wird gut, ich bin bei dir!“
„Mia...“, schluchzt sie noch einmal und ich merke, dass ihre Beine drohen, wegzuknicken.
„Komm, wir setzen uns in meinen Wagen, okay?“
Sie nickt schwach unter Tränen und ich öffne meine Hintertür und lasse sie einsteigen, um mich danach neben sie zu setzen und die Tür wieder zu schließen. Sie schmiegt sich schutzsuchend an mich und klammert sich an mir fest. Ich erinnere mich an ihre Worte vorhin: „Mia, ich muss dich treffen, sofort.“ Mehr hat sie nicht gesagt. Aber der Ton, in dem sie es gesagt hat klang so, als war sie da schon kurz davor, zusammenzubrechen. Ein Wunder, dass sie es bis hier hin geschafft hat. Ich streichele über ihre Haare. „Was ist passiert?“, frage ich leise. Es ist unheimlich still hier im Wagen. Es fahren keine Autos vorbei und die typischen Nachtgeräusche dringen nicht durch die geschlossenen Scheiben. Außerdem ist es hier nicht wärmer als draußen. Kalt. Jessie antwortet nicht, sondern klammert sich nur noch mehr an mich. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Um sie so aus der Fassung zu bringen, muss wirklich etwas passiert sein. Vielleicht sogar etwas, das selbst ich nicht wieder gut machen kann.
„Lass uns hier weg fahren“, bringt sie irgendwann heraus. Sie klingt merkwürdigerweise äußerst entschlossen.
„Wohin?“, frage ich.
„Weg. Ganz weit.“
„Jess, was ist passiert?“
„Das ist nicht wichtig. Wenn ich bei dir bin.“ Sie sieht zu mir auf, eine Tränenspur zieht sich über ihre Wange und in mir steigt wieder dieses starke Gefühl auf, sie nie mehr allein zu lassen. Sie küsst mich.
„Was ist passiert?“, frage ich ein drittes Mal. Doch Jessie schüttelt bloß den Kopf.
„Ich kann dich nicht einfach mitnehmen. Sie werden dich suchen, das weißt du.“
„Nur diese Nacht. Bitte. Lass uns zur Talsperre fahren.“
Ich gebe nach. Wie könnte ich ihr auf Dauer widerstehen? Sie will auf dem Rücksitz sitzen bleiben und ich sehe beim Fahren ab und zu in den Heckspiegel um sicher zu gehen, dass es ihr gut geht. Sie starrt nur die ganze Zeit aus dem Fenster. Und weint lautlos. Scheiße.
Ich halte an dem Parkplatz, wo ich immer stehe, wenn ich hier spazieren gehe. Jessie und ich waren oft hier. Steige aus und öffne Jessies Tür, doch sie scheint mich zuerst gar nicht zu erkennen, denn sie zuckt zurück und versucht, mich zu treten, doch ich fange ihren Fuß mit der Hand ab und drücke ihn sanft wieder zur Erde. Sie stammelt eine Entschuldigung und steigt aus. Wir schlagen unseren Rundweg ein und irgendwann legt Jessie den Arm um meine Hüfte und schmiegt sich im Gehen an mich. An der zweiten Biegung sagt sie: „Jochen hat es Papa erzählt.“ Meine Muskeln verkrampfen sich. „Er hat Fotos gemacht. Er wird dich anzeigen.“ Ich ziehe scharf die Luft ein. Jessie bleibt stehen und lehnt sich von vorne gegen mich. „Es tut mir leid.“ Ich lege meine Arme um sie und halte sie fest.
„Es muss dir nicht leid tun. Es ist nicht deine Schuld.“
„Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen.“
„Niemand kann etwas dafür. Liebe kann man nicht kontrollieren.“
Sie blickt zu mir auf. Sie hat so schöne Augen. Tiefblau. Ich muss an Jochen denken, ihren Freund seit drei Jahren. Der Freund, den Jessies Vater für sie ausgesucht hat. Und der uns vor ein paar Wochen miteinander flirtend vor der Bäckerei erwischt hat.
„Wer hätte ahnen können, dass mir mal so was passiert?“, fragt Jessie leise. Resigniert irgendwie. Als hätte sie von jetzt auf gleich einfach mit allem abgeschlossen. Mir wird kalt. Plötzlich habe ich Angst, sie könne mich verlassen.
„Was passieren?“
„Mich in eine Frau zu verlieben“, antwortet Jessie. Urplötzlich lässt sie mich wieder los und schlendert weiter. Ich gehe langsam neben ihr her. „Er hat über drei Stunden mit mir darüber geredet.“
„Was hat er gesagt?“
Sie schiebt die Hände in die Hosentaschen. „Er hat vorwiegend geschrieen. Wie ich ihm das antun könne. Ob ich überhaupt wisse, was ich da mache. Dass du mir nicht geben kannst, was ich brauche. Wieso ich nicht mit ihm drüber gesprochen hätte, dass auf einmal solche Gefühle aufgetaucht sind. Dass er nicht zulassen wird, dass du mein Leben zerstörst. Er will ja nur mein bestes. Ob ich mir im Klaren sei, was die Leute von mir denken werden. Dass du mich eh nur ausnutzt. Wie ich mich bloß so gehen lassen könnte. Dass bald alle mit dem Finger auf mich zeigen würden.“
Sie spricht abgehackt. Leise. Verzweifelt. Ich liebe sie.
„Was hast du gesagt?“, frage ich.
Jetzt bleibt sie wieder stehen. „Dass er keine Ahnung hat.“ Jessie küsst mich wieder. Zärtlich, leidenschaftlich, hingebungsvoll. Ihre Lippen schmecken salzig. „Du zitterst ja“, stellt sie fest und zieht ihre Jacke aus, um sie mir über die Schulter zu legen. Sie sieht mich aus so schrecklich erwachsenen Augen an. Ich lächele.
„Dann hat er mich geschlagen. Und gebrüllt, dass er dich anzeigen wird.“
Ich weiß erst nicht, wie ich reagieren soll. Ich spüre, dass sie Angst hat, um mich. „Er kann mich nicht anzeigen“, beruhige ich sie deshalb zuerst. „Er könnte mich anzeigen, wenn er uns im Bett erwischen würde. Aber du kannst ihn anzeigen, wenn er dich geschlagen hat.“
Sie schüttelt den Kopf. Nein, das will sie nicht. Sie versteht ihn ja. Sie ist seine Zukunft. Das müsse ich doch auch verstehen.
„Ich verstehe es. Dass er sein Leben nicht leiden kann. Aber deshalb kann er nicht deines versauen.“
„Er wird mich nicht mehr einfach gehen lassen.“
„Das macht nichts. Wir werden Gelegenheiten finden.“
Jessie lächelt schief. „Du bist ein unverbesserlicher Optimist.“
„Sie werden uns nicht kriegen Jess, außer, wenn wir es zulassen.“
„Wir werden es nicht zulassen“, sagt sie. „Ich werde es nicht zulassen. Ich liebe dich mehr, als mein eigenes Leben.“
Mir wird etwas schwummerig. Trotz all des Leidens, das sie hat durchstehen müssen in ihrem Leben bringt sie mir mehr Liebe entgegen, als ich jemals in meinem Leben zusammen empfunden habe. Ich kann ihren Schmerz spüren. Ich kann sie leben spüren. Alles zieht mich zu ihr hin. Ihre Lippen treffen meine und ich schließe die Augen. Jessie hat sehr fein geschwungene, dünne Lippen. Ein Uhu ruft irgendwo hinter uns im Wald. Ein paar Fische blubbern im Wasser. Der Mond scheint.
„Ich glaube, du solltest mich jetzt nach hause fahren. Sonst kriegen sie dich doch noch dran, wegen Entführung.“
„Mir egal“, gebe ich wahrheitsgemäß zurück.
„Mir aber nicht.“
Wir stehen voreinander, sie hält meine Hände fest.
„Gut. Lass uns gehen“, gebe ich nach. Wir schlendern gemächlich den Weg zurück. Eilig haben wir es nicht. Vor allem, weil es lange dauern könnte, bis wir uns das nächste Mal sehen. Ich kann links von mir die leuchtenden Augen eines Fuchses sehen, der sich schleunigst wieder verzieht, als er uns entdeckt hat. Ich nehme im Gehen ihre Hand, Jessie erwidert den Druck meiner Hand sanft. Diesmal sitzt sie vorne. Dicht bei mir. Ich kann ihren Blick auf mir spüren und ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass es mich nicht anmacht.
„Ich wünschte, ich wäre schon 18 und könnte hier weg“, meint sie irgendwann.
„Dauert ja nicht mehr lange.“
„Ein Jahr kann einem ziemlich lang vorkommen. Vor allem, wenn man nicht mit dem Menschen zusammen ist, mit dem man zusammen sein will.“
„Wir werden zusammen sein. Ich verspreche dir, ich finde einen Weg.“
Sie lacht ungläubig. „Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Mia.“
„Tue ich nicht. Ich werde für dich da sein. Immer.“
An ihrem Blick merke ich, dass sie mir glaubt. Ich fahre auf ihren Hof, wo mir ihr Vater wütend entgegen kommt. Ihre Mutter steht im Hauseingang. Jochen steht neben dem Briefkasten. Ich halte, steige aus, gehe ums Auto herum und öffne Jessies Tür. Das habe ich mir irgendwie zur Angewohnheit werden lassen, auch wenn sie es schrecklich findet. Erinnert sie an ihren Chauffeur, sagt sie immer.
„Das hätten Sie nicht tun sollen“ Die Augen von Jessies Vater sind kalt, als er mich abweisend mustert.
„Ich wüsste nicht, was ich schlimmes getan habe“, erwidere ich ruhig. Jessie neben mir wird unruhig. Sie will, dass ich wieder fahre, das merke ich.
„Jessie, komm rein“, ruft ihre Mutter herrisch und Jessie gehorcht und geht aufs Haus zu. Ich sehe ihr mir schreiendem Herzen hinterher. Doch plötzlich dreht sie sich auf dem Absatz herum, kommt zu mir zurück und gibt mir einen langen, intensiven Zungenkuss. Dann geht sie endgültig ins Haus, hocherhobenen Hauptes. Ihre Eltern starren mich feindselig an. Jochen starrt mich eifersüchtig an. Ich ignoriere alle und fahre davon. Egal, wie lange ich auf sie warten muss, ich werde es tun.