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Alle Jahre wieder
Klaus schlägt die Augen auf. Ein Geschrei hat ihn aus seinem Schlaf gerissen. Er schaut auf den Wecker. Verdammte Scheiße, denkt er. Wer brüllt denn früh um halb zwölf morgens schon so rum? Er reibt sich die Augen und fährt mit den Händen über sein unrasiertes Gesicht. Er schmatz und fühlt den Geschmack von toter Katze auf seiner Zunge. Seine Matratze auf dem Boden ist schon sehr durchgelegen und er wälzt sich etwas auf die Seite. Vor ihm das Meer aus leeren Bierdosen.
Jede Dose schüttelt er leicht. In einer ist noch ein Rest. Wenigstens etwas ,denkt er, setzt sie kurzerhand an den Hals und schwapp, weg ist der Schluck. Der Geschmack von toter Katze wechselt zu schimmeligem Brot. Erst mal Vitamine und Aufbaustoffe sagt ihm seine Lunge und er greift zu dem Päckchen Schwarzer Krauser Tabak.
Gestern gab’s wieder Geld von der Agentur - wie das Amt für Zeitlose jetzt heißt. So ist er gestern erst mal feiern gegangen. Viele der alten Kumpels hatte er nicht getroffen. Die Üblichen halt. Das Flanellhemd, die Lederweste und Fritte. Fritte nannten sie ihn, weil seine langen Haare immer eher frisch frittiert wie frisch gewaschen aussahen. Wie alle ewig Gestrigen fand er sie auf den Barhockern auf denen sie immer saßen. Seine Erinnerung kam nur langsam wieder, sein Rittersportkopf sagt ihm auf quadratisch-praktische Art dass es wohl spät geworden sein musste. Geübt faltet er sich das erste Lungentorpedo des Tages. Einen tiefen Zug und einen Hustenanfall später wechselt der Geschmack in seinem Mund auf eine Mischung zwischen hinters Bett gefallenem Lakritz und Fußgängerzonenkaugummi. Wieder hört er den Lärm. Er kommt von der Straße.
Klaus wälzt sich aus dem Bett, streckt seinen in knapp 40 Jahren gewachsenen Bierbauch nach vorne und reibt ihn. Dann greift er hinter sich und kratzt sich genüsslich als wolle er so seine schlecht sitzende Unterhose vor der ewigen Verdammnis retten. So stolpert er durch sein Zimmer, welches sich nur von dem eines Fixers durch die Tatsache unterscheidet, dass in seinem noch mehr Dinge rumliegen. Und in einer Ecke ein Fernseher und eine alte Anlage stehen. Es war eine Altbauwohnung in zweiten Stock, die Fenster reichen von der Decke bis zum Boden und die letzte Renovierung muss kurz vor Einführung der D-Mark gewesen sein.
Am Fenster stehend zieht er mit der linken Hand die Fensterhälfte samt Gardine auf, während seine rechte Hand nun am Bug seiner Schiesser-Doppelripp um Klar-Schiff bemüht ist. Draußen, genau vor seinem Fenster steht ein Arbeiter mit oranger Weste und Helm in einem Korb eines Kranwagens und brüllt zur anderen Straßenseite: „Höher, noch Höher“. Klaus, dem das Gebrüll im Kopf hin und her schallt, sammelt den Tarzan in sich, holt tief Luft, und will gerade ausholen um ihn so richtig zusammenzuscheißen bis er winselnd in seinem Körbchen liegt, als sich seine Wut und sein in Restalkohol eingelegtes Sprachzentrum ins Gehege kommen und er nichts weiter zustande bringt als einen animalischen Urlaut. Ehhhhhhh... verhallt es langsam sterbend in der Luft.
Als er die dabei zugekniffenen Augen wieder öffnet und sich gerade die fast rausgefallene Kippe aus dem Mundwinkel holt, sieht er genau zur anderen Straßenseite, wo ebenfalls jemand in einem Korb auf gleicher Höhe steht. Und eine junge Nachbarin daneben. Im Fenster genau gegenüber. Der Typ neben ihm und die zwei auf der anderen Straßenseite starren ihn an. Und er starrt zurück. Klaus bemerkt dass sie wohl im Begriff sind eine Weihnachtsgirlande mit Lämpchen und Sternchen über die Strasse zu spannen. In seinem Kopf rattert es. Weihnachten! Das hat er ja total vergessen!
Wie paralysiert steht er da. Dann sagt der Arbeiter in dem Korb neben ihm ganz trocken: „Keine Angst, e dud Vüjelche fällt nit usm Ness!“ Grinst, und deutet auf die Hand, die Klaus immer noch in seiner Unterhose hat. Klaus lässt die Hand herrausschnellen und wirft das Fenster wieder zu.
Verdammt! Weihnachten! Dann geht das ja schon wieder los. Irritiert und irgendwie panisch geht Klaus auf und ab. Der Wievielte ist denn heut - fragt er sich. Nervös setzt er sich auf die Bettkante und schaltet den Fernseher an.
Im ersten läuft Frühstücksfernsehen. Eine gelangweilte Hausfrau erklärt der Moderatorin wie man Kerzen selber gießt. Diese hält ihr Keramikgrinsen zwischendurch in die Kamera und wiederholt was die Hausfrau erzählt mit eigenen Worten...“und dann lässt man sie einige Stunden abkühlen!“...“sehn sie liebe Zuschauer, so einfach ist das - nur abkühlen lassen!“ Klaus zapped weiter. Ein Jüngling mit Ziegenbärtchen backt Weihnachtsplätzchen. Eigentlich sieht er mehr wie ein VIVA Moderator aus. Außerdem klingt er als hätte er eine arge Erkältung.
„Undannnehmchiewasvonderflühigenchogoladeunchdreichenchieübadieblädchen“.
Der Fernsehdaumen zuckt kurz und Klaus sieht eine hübsche Blondine die mit einer Stichsäge hantiert und fragt sich ob auf dem nächste Kanal eine Fünfjährige erklärt wie man Tauben füttert. Aber dort läuft ein Friede-Freude-Hollywood-Weihnachtsfilm. Klaus wird nie begreifen warum die Leute in amerikanischen Filmen sich am Telefon nie verabschieden. In jedem drittklassigen Aktschnmuwie, wie der Terminatorsenator immer sagt, wird sich beim Funken mit Rogers und Overs überschlagen, aber beim Telefonieren legen sie nahezu mitten im Satz auf. So was würde Klaus nie machen. Klaus weiß schon was sich gehört. Er flitscht noch eben einen Popel weg bevor er weiterschaltet. NTV. Eine Überschwemmung in China. Fröhliche Weihnachten, denkt Klaus. Das Datum neben der Uhr zeigt 23.12.! Mistpippi! Dann geht’s heute ja schon los.
Klaus wirft sich nach hinten auf’s Bett. Er hatte es total verdrängt. Hätte er doch bloß das Kleingedruckte gelesen. Damals. „Hartz IV ist zum Wort des Jahres 2004 gewählt worden“ dringt es aus der Glotze. Klaus macht den Fernseher schnell aus. Heute wäre ihm ein Ein-Euro-Job fast lieber.
Er sieht auf die Uhr - es ist knapp Zwölf. Viel Zeit hat er nicht mehr. Ruhe bewahren. Mit dem Katerkopf geht eh nichts. Klaus wickelt sich noch ne Fluppe, noch krummer als sonst. Irgendwie ist er nervös. Jedes Jahr ist er nervös an diesem Tag. Hätte er doch nie auf die Kleinanzeige geantwortet. „Fahrer in Teilzeit gesucht“. Damals war er gerade wieder mal ohne Job. Und Moni war abgehauen. Mit diesem Schnösel. Jetzt fährt sie einen Z3....Schlampenschleuder! Dabei passt da noch nicht mal ein Kinderwagen rein. Und sie wollte doch immer Kinder. Aber Schnösel wohl nicht. Ob sie jetzt glücklicher ist?
Kaffee - ich brauch ein Kaffee, murmelt Klaus vor sich hin. Und Aspirin. Er schlurft in die Küche. An das Becken um Wasser einzufüllen kommt er nicht, der Spülberg reicht bis unter den Wasserhahn. Er geht ins Badezimmer, hält den Wasserbehälter unter den Hahn und dreht ihn auf. Er sieht in den Spiegel. Seine Augen sind glasig, die Falten unter ihnen tiefer geworden. Klaus betrachtet sich als wäre es vor einem Jahr das letzte Mal gewesen, das er sich angesehen hat. Irgendwas muss in seinem Leben schief gelaufen sein, aber hat aufgehört darüber nachzudenken was es war. Oder wann.
Klaus geht zurück in die Küche und füllt Kaffeepulver ein. Und noch ein paar Löffel extra.
Dann geht er ins Wohnzimmer und macht das Radio an. „Do they know it’s christmastime” dudelt es ihm entgegen. Klaus verdreht die Augen. Jajaja - jetzt weiß ich es ja und wechselt von Radio auf CD. „Engel“ von Rammstein. Schon besser. Plötzlich klingelt es irgendwo her. Klaus sieht sich um. Seine Hose, die er gestern auf den Boden geworfen hat, klingelt. Er hebt sie hoch und nimmt den Hörer des Telefons ab.
„Hallo Klaus“ fistelt eine Stimme. „Hallo“ nuschelt er zurück. „...bist Du fertig?“. „Mehr oder weniger“ antwortet Klaus. „Gut - ich bin in einer halben Stunde bei Dir“. „Ok“ sagt Klaus und legt auf. Er sieht auf das Telefon, hebt noch mal ab und sagt „bis dann - tschüss“ aber hört nur noch ein Tuten. Dann dreht er die Anlage auf hysterisch. >> Gott weiß ich will kein Engel sein<< dröhnt es laut aus den Boxen und im Rhythmus kopfnickend geht Klaus geht Richtung Bad. An der Küche vorbeigehend vermischt sich das „Sprotzspröttel“ der Kaffeemaschine mit der Musik in seinen Ohren.
Klaus duscht. Danach fühlt er sich schon besser. Er wischt mit der Hand den beschlagenen Spiegel frei und beginnt sich zu rasieren. Die Klinge seines Nassrasierers ist stumpf. Es war die Letzte. Klaus reißt sich weiter vorsichtig alle Haare aus dem Gesicht. Als er fertig ist geht er in die Küche und sieht der Kaffee ist es auch.
Er füllt eine große Tasse, kippt den Rest Zucker rein, ca. 6 Löffel, wie immer. Dann Milch obendrauf. Er rührt um und schaut aus dem Fenster. Verdammt kalt sieht es aus. Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Tasse und der Geschmack in seinem Mund wechselt auf Quark mit Mehl. Quark mit Mehl? Klaus sieht in die Tasse und obendrauf schwimmen dicke weiße Brocken. Er spuckt alles über den Berg Geschirr. Jetzt weiß er auch was er vergessen hat. Klaus geht sich die Zähne putzen.
Hoffentlich sind die Klamotten noch in Ordnung ,denkt er. Auf dem Rückweg nimmt er sich schnell eine neue Tasse Kaffee. Schwarz wie die Nacht und ohne Zucker. Widerlich. Der Geschmack in seinem Mund wechselt von Minze der Zahnpasta auf Asphalt. Er sieht auf die Uhr. 10 Minuten hat er noch. Dann wird er abgeholt.
Er geht an den Kleiderschrank. Naja, also an das Ikearegal mit Vorhang. Ganz unten holt er eine Plastiktüte heraus. Klaus kippt ihren Inhalt auf das Bett und sortiert alles auseinander. Nach und nach zieht er alles über. Alles ist alles ziemlich zerknautscht. Egal. Gerade als er fertig ist, klingelt es an der Tür. Klaus öffnet.
Ein kleines Mädchen mit blondem Haar steht vor der Tür. Das Mädchen sieht an ihm runter. Sie verdreht die Augen. „...Du hast es wieder vergessen, oder?“ fragt sie rethorisch. „Tut mir leid“ antwortet Klaus kleinlaut. „....dann vergiss wenigstens nicht die Schuhe“ und deutet auf seine Füße. Klaus ist noch barfuss. „Ähem - Moment“ sagt Klaus im Weggehen. Schnell zieht er sich die dicken Socken an, eine hat ein großes Loch. Dann holt er seine alten Bundeswehrstiefel und steigt hinein. Er macht die Anlage aus und geht wieder zurück zur Tür. „Komm - wir müssen uns beeilen bevor man uns sieht“ meint das Mädchen und geht vor.
Sie stapft die Treppe hinauf. Klaus geht ihr nach. Ganz oben öffnet sie eine schwere Tür. Wortlos folgt er ihr. Sie gehen zur Mitte des Daches. Klaus bleibt einen Moment stehen und lässt seinen Blick über das Gefährt wandern. Von ganz hinten nach ganz vorne. Das Mädchen steigt ein. Ein Blitzen fährt durch seine Augen. Naja, denkt er, eigentlich ist es ja doch ganz schön...wie alles gekommen ist. Und besser als ein Z3. Er setzt sich auf den Platz neben dem Mädchen. „Vergiss nicht Dich anzuschnallen, Du weißt es ist weit bis zur Fabrik und die Fahrt wird wie immer wild.“ „Ja“ antwortet Klaus, schnallt sich an und zieht seine Mütze tiefer ins Gesicht.
Das Mädchen zieht an den Lederriemen und mit wildem Geruckel setzen sie sich in Bewegung. Die Beschleunigung begeistert Klaus immer wieder auf's Neue. Er hält die Luft an. Sie rasen auf die Dachkante zu. Kaum sind die Tiere über die Kante hinaus, bewundert er wie sie in Reih und Glied, immer zwei nebeneinander, steil in den Himmel galoppieren. Klaus zieht sich den falschen Bart zurecht.
Der Geschmack in seinem Mund wechselt...auf Weihnachten.
Klaus lächelt. Wie jedes Jahr...
Micha, 20.12.04