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Alle Jahre wieder?
Es war das Jahr, in dem der Weihnachtsmann keine Geschenke ausliefern musste, weil es keine Kinder mehr gab.
Ein halbes Jahr war es inzwischen her. Wie schnell die Zeit doch verging, dachte Klaus Bertelmann. Ein halbes Jahr ...
Mit Sicherheit waren einige Frauen schon wieder schwanger geworden, aber viele befanden sich noch in Trauer. Trauer, um einen Verlust, den sie nie überwinden würden.
Die Männer waren da stärker. Klaus begann zu weinen. Leise nur, mit wenig Tränen.
Nur die Harten werden überleben!, dachte er nach einer Weile, während er den Teelöffel in das Fünfminuten-Frühstücksei grub. Als er ihn wieder herausbeförderte, kringelte sich die weiße Nabelschnur, wie eine winzige Feder und legte sich um das Silber des Löffels.
Klaus schüttelte sich. So etwas war ihm früher nie aufgefallen. Ekel stieg augenblicklich in ihm auf, etwas zuckte in seinem Hals. Ihm wurde bewusst, dass er sich hemmungslos über den Frühstückstisch übergeben würde, sobald dieses Gebilde seine Zunge berührte. Für einen Moment genoss er dieses Gefühl. Es lenkte ab. Ablenkung tut gut. Männer müssen stark sein.
Heidi, seine Frau, schlief noch. Zumindest befand sie sich noch im Bett. Meist lag sie dort und starrte die Decke an. Sie würde niemals über den Verlust hinwegkommen. Niemals!
Klaus schluckte; der Kloß in seinem Hals war immer noch da, doch diesmal war es kein Ekel, der ihn verursachte.
Kevin war nun seit über einem halben Jahr … Ja, was war er eigentlich?
Klaus stand auf und ging zum Mülleimer. Nachdem er das Stück Ei mit der Nabelschnur von seinem Löffel entfernt hatte, setzte er sein Frühstück fort.
Seit einem halben Jahr war ihr Sohn verschwunden. Tot? Klaus senkte den Kopf. Das Ei roch seltsam, erinnerte ihn an den Geruch von Schweiß. War Kevin tot? Vermutlich ja. So wie all die anderen Kinder auch. Von heute auf morgen. Alle Kinder unter zwölf. Verschwunden. Einfach so.
Klaus durfte nicht so intensiv darüber nachdenken. Der Kloß wurde dicker, gab ihm das Gefühl, ersticken zu müssen. Es tat weh.
Heute war Heiligabend. Das erste Jahr, an dem es keinen Weihnachtsbaum gab. Es war zu keinem Zeitpunkt das Gespräch darauf gekommen; und er hätte auch niemals gewagt, Heidi diesbezüglich anzusprechen.
Dennoch hatte er ein Geschenk gekauft. Ein Laserschwert. Kevin war ein richtiger Star-Wars-Fan gewesen. Und er hatte sich das Schwert gewünscht. Damals schon, nachdem sie sich zusammen den letzten Teil der Saga im Kino angesehen hatten. Genau zwei Tage vor seinem Verschwinden …
Durch alle Medien ging es. Überall das gleiche. Keine Kinder mehr unter zwölf Jahren. Alle weg! Spurlos, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Der Weihnachtsmann wird dieses Jahr ALG II beantragen müssen“, hatte ein Reporter gesagt.
Er hatte einen Scherz machen wollen, doch trauernde Eltern mögen keine Scherze dieser Art. Einen Tag später fand man ihn erhängt an einer Straßenlaterne auf, mitten auf einem riesigen Marktplatz. Niemanden hatte es gekümmert. Und kein weiterer Reporter machte mehr Scherze über die Situation.
Von den Kindern gab es keine Spur. Nicht den geringsten Hinweis. Weltweit!
„Schahatz?“
Klaus blickte auf. Sein Frühstücksei war leer, so wie sein Inneres. Heidi hatte aus dem Schlafzimmer heraus gerufen. Er stand auf, ging zur Kaffeemaschine, schüttete ihre Lieblingstasse voll, die er vorhin schon bereitgestellt hatte. Er war froh, etwas zu tun zu haben. Nicht die Milch vergessen; sie trank ihren Kaffee nur mit einem Schuss Milch. Dann ging er nach oben. Er wusste, was sie wollte. Kaffee mit Milch.
Im Radio spielten sie „Last christmas“. Er mochte den Song nicht, schon seit Jahren nicht. Er lief viel zu oft; alle Jahre wieder. Heidi und Kevin hatten immer mitgesungen.
„Schahatz?“
„Ich bin unterwegs“, brummte er. Ein wenig Kaffee schwappte aus der Tasse über seine Hand. Es tat nicht weh.
Er setzte sich auf die Bettkante, während sie an dem Kaffee schlürfte. Ihr Schlafgeruch hing schwer in der Luft.
„Soll ich einmal das Fenster öffnen?“, fragte er, ohne sie anzusehen.
„Nein.“
Er ging wieder hinunter. Oh Mann, wie er seinen Sohn vermisste.
*
„Knecht Ruprecht hat sie geholt!“, sagte der alte Mann und sah ihn eindringlich an.
Klaus steckte die Hände in die Taschen seiner dicken Winterjacke. Der eisige Wind fegte über den Parkplatz des Einkaufszentrums, zerrte an der Kleidung. Der Alte, der vor dem Eingang jedem seinen schäbigen Hut entgegenhielt, war in einen speckigen Mantel gehüllt. Sein Schaal bedeckte fast sein bärtiges Gesicht. Kleine Eiszapfen hingen an einigen Barthaaren hinab. Essensreste an anderen.
„Im Auftrag des Weihnachtsmannes“, hauchte er Klaus entgegen.
„Was?“
Das Einkaufszentrum war nicht stark besucht. Klaus wusste nicht, ob es an der Tatsache lag, dass heute Heiligabend war, oder dass die meisten dieses Jahr …
Der Wind pfiff stärker und Klaus fröstelte.
„Na, die Kinder! Knecht Ruprecht hat sie im Auftrag des Weihnachtsmannes geholt.“
„So so“, murmelte Klaus. Er hatte sich nach dem Frühstück auf dem Weg zum Einkaufszentrum gemacht, um eine Kleinigkeit für Heidi zu kaufen. So, wie jedes Jahr. Immer am Heiligmorgen. Und jedes Jahr nahm er sich vor, das nächste Mal schon ein paar Tage oder gar Wochen vorher alles erledigt zu haben.
„Er hatte es nur gut gemeint“, fuhr der Penner fort. „Hat sie alle weggeholt, weil ihm sein Chef jedes Jahr mehr Leid tat. Die ganzen, vielen Geschenke. Alle Jahre wieder, verstehen Sie? So viele Kinder ... So viel Arbeit.“
Klaus runzelte die Stirn. Warum war er eigentlich stehen geblieben? Er hatte den Penner schon von weitem gesehen, und wollte einen ebenso großen Bogen um ihn machen. Doch er war stehen geblieben, hatte ihm den Euro, den er immer für den Einkaufswagen benutzte, in den Hut gelegt. Und der Alte hatte damit begonnen, ihn vollzuquatschen. Aber wenigstens einer, der ihn vollquatschte. Irgendwie tat es gut.
„Santa war ganz und gar nicht begeistert davon.“
„Wovon?“, fragte Klaus. Ein junges Pärchen ging an ihm vorbei, hinein in den warmen Glitzer des Konsums.
„Von der Tat seines Gehilfen.“
„So wie viele“, sagte Klaus, und seine Stimme hatte einen traurigen Tonfall angenommen.
Der Alte griff seinen Arm. „Und deshalb bringt er sie zurück! Heute bringt er die Kinder zurück! Er hat ja dieses Jahr Zeit. Muss ja keine Geschenke verteilen. Ich meine, keine für die Kinder. Verstehen Sie?“
Klaus sah ihn an. Was faselte der Alte da? Klaus entwand sich dem Griff und trat einen Schritt zurück. „Ja“, sagte er. „`n schönes Fest noch.“
„Er hätte es sofort tun können, aber es ging nicht.“
Klaus drehte sich noch einmal um. „Was ging nicht?“
Der Alte kam wieder näher, hauchte leise. Klaus stellte fest, dass der Atem des Mannes gar nicht nach Alkohol roch.
„Er konnte sie nicht sofort zurückbringen“, sagte dieser jetzt geheimnisvoll. „Ruprecht hatte ganze Arbeit geleistet. Er wollte keine Spuren hinterlassen, verstehen Sie?“ Er machte eine Bewegung, wie beim Hacken von Kaminholz.
Der Penner war verrückt. Er lebte in einer anderen Welt. Klaus würde jetzt gehen.
„Der Weihnachtsmann musste die Teile erst wieder zusammennähen. Und das hat gedauert, wie Sie sich vorstellen können. Auch seine Engel hatten alle Hände voll zu tun. So viele Teile …“
Klaus wandte sich ab und ging zurück zu seinem Wagen. Ihm war die Lust auf das Einkaufszentrum vergangen. Und Heidi würde es sowieso nicht auffallen, wenn sie kein Geschenk bekam.
Auf dem Heimweg ging ihm der Mann nicht mehr aus dem Kopf; vielmehr das, was er gesagt hatte. Zu Anfang hatte es ihn erschreckt. Grausame Vorstellung. Idiot. Seltsamerweise musste er dabei nicht an Kevin denken, sonst hätte er dem Penner in den vereisten Bart geschlagen.
Es hatte wieder angefangen zu schneien, und Klaus drosselte das Tempo.
Inzwischen grinste er bei dem Gedanken - er wird sie alle zurückbringen - und etwas später freundete er sich sogar mit der Vorstellung an. Er bringt sie zurück! Ein angenehmes Kribbeln überzog seinen Nacken. Klaus atmete hörbar aus, drehte das Radio lauter. Kevin. Ein schöner Gedanke.
Er parkte den Wagen in der Einfahrt. Einige Häuser in seiner Straße waren geschmückt, vor dem Nachbarshaus stand ein Plastik-Santa mit Plastikschlitten und Plastikrentieren. Zwei Schwule wohnten dort. Nette Leute.
Er ging die Stufen hinauf und öffnete die Tür. Es roch anders!
Klaus verharrte. Es roch nach … Was war das? Weihnachten?
Ja, es roch nach Zimt. Hatte Heidi Plätzchen gebacken? Kerzenduft! So, wie früher!
Klaus blickte zum Himmel. Es war kalt.
Schnell trat er ein, klopfte den Schnee von seinen Stiefeln. Dann stutzte er. Im Flur standen zwei Kinderschuhe.
„Schahatz?" Heidis Stimme hallte aus dem Wohnzimmer. ,,Schatz, du wirst es nicht glauben!"
Klaus konnte den Blick nicht abwenden. Zwei Kinderschuhe! Zwei verschiedene Kinderschuhe. An einem klebte Blut …