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Alle vierzehn Tage
Mit kleinen Bewegungen winkte sie ihren Enkelkindern durchs Fenster hinterher. Ihr Gesicht zeigte den einen Ausdruck, der ihr geblieben war, nur das linke Augenlid zuckte noch immer in einem fort.
Die Kinder drehten sich nicht mehr um. Sie rannten die Straße hinunter, ohne noch einmal anzuhalten und nach diesem wilden Galopp waren sie rasch hinter der Ecke verschwunden.
Sie winkte noch einige Sekunden weiter. Dann senkte sie den Arm langsam, die knochige Hand verschwand in ihrer Schürze und zog ein Taschentuch hervor, mit dem sie sich zitterig über den Mund wischte. Als sie das Tuch wieder gewissenhaft verstaut hatte, schob sie die Gardine zurecht, drehte sich vom Fenster weg und ging ins Zimmer zurück.
Die beiden Buben waren fort, mit ihnen das Gezänk und Geschrei. Die Sonne war geblieben. Sie schien durchs Fenster und würde erst verschwunden sein, wenn der Tag um war. Dieser Tag. Dann der nächste, und der folgende. Immer so fort, bis zu ihrem Tod. Alle vierzehn Tage kamen die Enkelkinder zu Besuch, eine Pflicht, die nur durch Taschengeld zu ertragen war. Alle zwei Wochen, nicht früher.
„Wir schaffen es nicht, Mutter!“
Ihr Sohn, der Junge, dem sie die Brust gegeben hatte, stellte die Frage, deren Antwort er kannte: „Wir könnten dir einen Platz besorgen, nicht mal teuer. Sehr schön gelegen, unter Gleichgesinnten. Du hättest deine Freude.“
Statt mit Worten hatte sie mit einem Lächeln geantwortet und sah das Erleichtern in seinen Augen.
-Ich habe dich aufgezogen, mein Sohn, allein, nachdem dein Vater der Meinung war, dass es anderswo schöner sei. Ich tat es hier, in diesen vier Wänden, die mir vertraut sind. Weißt du noch, wie dein kleiner Hamster gestorben war? Ich nahm dich in den Arm und alles war gut, hier in unserem Heim.
Sie schlurfte zu dem Tisch, an dem die beiden Jungen gesessen und sich gestritten hatten. Zwillinge sind Rivalen, hatte sie immer schon gesagt, du wirst deine helle Freude haben.
Wenn sie nur jünger wäre. Sie würde sich mehr mit den Kindern beschäftigen können, Ausflüge machen und so. Doch als sie schwanger gewesen war damals, da war sie schon eine alte Frau gewesen. Zu alt, die Generation übersprungen.
Sie räumte die Gläser und Teller fort. Mit bedächtigen Bewegungen, vorsichtig und langsam. Sie brauchte Zeit für die Tätigkeiten, die notwendig waren. Zeit und Geduld. Wie gut, dass sie von beidem soviel zur Verfügung hatte.
„Aber du wirst älter, Mutter. Immer älter. Ich kann mich nicht um dich kümmern, du weißt, die Firma. Und Claudia hat jetzt auch wieder ihren Job aufgenommen.“
Sie hatte wieder nichts geantwortet. Er schien sich rechtfertigen zu müssen.
„Wir kommen abends beide geschafft nach Haus, dann die Kinder, am Wochenende nehmen wir uns Arbeit mit. Es ist stressig, Mutter, glaub mir.“
Sie hatte wieder gelächelt und gesagt: „Ich komm schon zurecht.“
„Es ist ja nicht mehr lange.“ Er war erleichtert, während er sich den Schlipsknoten lockerte. „Wenn ich den Posten habe, kann ich mir die Arbeit einteilen. Dann haben wir wieder mehr Zeit.“
Er war in seinen Mercedes gestiegen und hatte sich mühsam umgedreht, während er fortfuhr, um die Ecke. Auch da hatte die Sonne geschienen.
Die Geschirrspülmaschine hatte ihr Sohn gekauft. Sie war klein und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Die beiden Gläser mit Kakaoresten und die beiden Teller mit Kuchenkrümeln waren das einzige Geschirr darin. Sie schloss die Klappe und musste sich festhalten, während sie sich aufrichtete. Ihr schwindelte. In letzter Zeit immer häufiger, manchmal wurde ihr richtig schwarz vor Augen. Sie hatte davon ihrem Arzt nicht erzählt und auch nicht ihrem Sohn. Der würde sich nur unnütze Sorgen machen und wieder zu schwitzen beginnen.
Sie setzte sich auf den harten Stuhl.
Heute war Dienstag, ein weiterer Dienstag noch und der Dienstag darauf wäre wieder Besuchstag. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, wie sie die Kinder beschäftigte. In ihrem Alter musste man ihnen etwas bieten, um ihre Aufmerksamkeit zu haben.
Das war bei ihrem Sohn anders gewesen. Der war mit einem Holzkreisel zufrieden gewesen, einem Holzkreisel! Ein einfaches Ding, das überdies noch jahrelang gehalten hatte. Sie hatte vorgehabt, das Spielzeug ihren Enkeln zu schenken, doch sie war sich nicht sicher, ob diese damit etwas anzufangen wussten. Es lag noch immer im Schrank in ihrem Schlafzimmer hinter den alten Briefen und Fotografien. Sie würde es nicht verschenken.
„Was wünschen sich die Kinder zu ihrem Geburtstag?“, hatte sie gefragt.
Ihr Sohn hatte mit den Schultern gezuckt. „Ach Gott. Du weißt doch, sie haben alles. Schenk ihnen Geld.“ Das Lächeln, mit dem er dies gesagt hatte, war unsicher gewesen und sie hatte nicht alle Hoffnung verloren gehabt.
Sie ging ins Wohnzimmer zurück und erleichtert stellte sie fest, dass die Sonne fast verschwunden war. Es wurde langsam kühler im Raum.
Sie schaltete den Fernseher ein und sofort brandete Lärm ins kleine Zimmer. Die Fernbedienung lag auf dem Apparat, trotzdem stellte sie den Sender am Gerät ein und setzte sich dass in den Sessel.
Sie saß still und das unruhige Licht zuckte in ihrem Gesicht. Sie nahm die Sendung kaum wahr, ihre eigenen Gedanken führten Regime. Als sich eine Fliege auf ihren Arm setzte, beobachtete sie kühl, wie sie über ihre Haut wanderte, über die Altersflecken lief und die Falten umquerte. Sie sah die Fliege zwar, doch konnte sie sie nicht spüren. Sie fühlte nicht die feinen Beinchen, die über ihr eigenes Fleisch wuselten, sie meinte der Arm gehörte nicht zu ihr. Nicht mehr, ganz wie eine abgelegte Prothese. Er begann leicht zu werden, federleicht. Der Arm verlor jegliches Gewicht, er begann zu schweben...
Sie erwachte, als es vollkommen dunkel war und ihr Körper war taub und matt. Die Dunkelheit hatte überhand genommen, die geisterhaften Bilder des Fernsehers unterstützten diesen Eindruck nur. Sie erhob sich mühsam aus ihrem Sessel und hielt sich dabei am Tisch fest. Ihre Beine waren taub, sie drohten nachzugeben. Um nicht zusammenzusinken, griff sie mit fester an das Tischtuch und als sie es endlich geschafft hatte, sich zu erheben, geschah es. Der Tisch, der wohl schon älter war als ihr Sohn, gab nach und kippte zu ihrer Seite. Sie verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten über, mit einem dumpfen Poltern schlug sie auf dem Boden auf und spürte sofort den Schmerz im Kopf. Gleich darauf stürzte der Tisch auf ihren Leib und sie konnte ein jämmerliches Stöhnen nicht mehr unterdrücken.
Sie lag wie eine Schildkröte auf dem Rücken und auf ihrer Brust der schwere Tisch. Das Luftholen schmerzte, sie konnte nur ganz flach atmen. Der Kopf tat weh, der Brustkorb und sie schien sich nicht vor und nicht zurück bewegen zu können. Aus ihrem Mund lief Speichel.
Es war früher Morgen, als sie es endlich einsah, dass sie sich aus eigener Kraft nicht würde befreien können. Sie war gefangen unter einem alten Esstisch, nicht fähig, auch nur einen Arm zu rühren. Ihr Atem wurde immer flacher und es wurde ihr schwarz vor den Augen.
Die ersten Sonnenstrahlen brachen hervor, als ihr der Gedanke kam, dass ihre Enkelkinder sie erst in dreizehn Tagen würden besuchen kommen.