Allein
Es ist dunkel* im Zimmer. Am Fenster steht eine kleine Gestalt, deren schemenhafter* Umriss sich leicht von der Dunkelheit abhebt. Um ihre dünnen Beine flattert ein weißes weites Kleid und der Wind, der durch das geöffnete Fenster hereinweht spielt mit ihrem blonden Haar. Sie neigt den Kopf zum Himmel und unter geschlossenen Liedern zeigt sich die Andeutung eines Lächelns.
Sie drückt ihre kalten Fingerspitzen gegen das Glas, in der Hoffnung den Mann berühren zu können, der unten im Hof steht und aus schwarzen Augen zu ihr hinauf starrt.
Sie kennt ihn nicht und doch spielt ihre Fantasie mit ihm. Gibt ihm tausend Gesichter, eines schöner als das Andere. Sie kennt ihn nicht und wünscht sich doch ihren Kopf an seinen Hals zu legen, seine Lippen zu berühren und von ihm gehalten zu werden.
Nach einigen Sekunden wendet er den Blick ab und geht eiligen Schrittes die viel befahrene Straße entlang davon.
Sie dreht sich um die eigene Achse, wiegt ihren Kopf zu einem Takt den nur sie allein hören kann.
Die Wohnung liegt im dritten Stock, sie geht auf den Balkon und schaut mit leeren Augen auf die Autos die schnell und laut unter ihr dahin fliegen.
Sie fröstelt und geht wieder hinein, nur um einen Moment später mit einer Wolldecke und einer Dose Seifenblasenwasser erneut hinaus zu treten.
Sie setzt sich in einen alten Schaukelstuhl, der leise knarrt als sie ihn sachte vor und zurück wiegt. *Sie summt ein Kinderlied als sie die Dose öffnet, den Stab herauszieht und behutsam auf die runde Öffnung pustet. Der Wind trägt die Seifenblasen fort, über die Straße ein kurzes Leben entlang bis sie irgendwo mit einem leisen Seufzen zerplatzen.
Sie wünscht sich, jemand möge sie sehen und hinter den Seifenblasen ihr Gesicht erahnen und wissen, dass die Seifenblasen freuen sollen. Sie sollen gesehen werden, wie sie gesehen werden will.
Gleichzeitig ist sie sich der Abwegigkeit des Gedankens bewusst.
Sie stellt die Dose ab, erhebt sich und stützt ihre Arme auf das Hüfthohe Geländer, das den pfirsichfarbenen Balkon umgibt. Es ist ein milder Abend, die Luft schmeckt süß, nach Leben und nach Abenteuer.
Wie gern würde sie die Treppen hinunter gehen, sich ins Leben stürzen ohne Zeit an das eintönige anstrengende Denken zu verschwenden. Entscheidungen treffen, fähig sein Verantwortung zu übernehmen. Nur ist alles so laut und schnell. So ohne Sinn und Verstand. Ohne Verstehen.
Sie schlingt ihre Arme um den Körper um sich zu schützen und weil sie friert, obwohl alles um sie herum aufgeladen ist mit der Elektrizität der ersten Frühlingstage, mit Sonne und vermeintlichem Glück.
Zwei Häuser weiter stehen zwei Frauen auf dem Balkon, der Wind ist Bote, wie so oft und trägt ihr unbekümmertes derbes Lachen zu dem Mädchen herüber.
Sie wendet sich von der Straße ab und dafür der verglasten Tür zu.
Ihr sieht ein schönes Mädchen entgegen, deren helle blaue Augen sich in der Fülle von Möglichkeiten zu verlieren scheinen.
Wieder dringt das Lachen an ihr Ohr. Sie ballt die Fäuste, durchquert entschlossen die Wohnung, steuert auf die Wohnungtür zu. Sie öffnet, atmet geräuschvoll aus und rennt die ersten fünf Treppenstufen hinunter. Dann bleibt sie stehen, zwingt sich dazu, sich nicht umzusehen und legt ihre Hand auf das rote Geländer. Ihre Finger beginnen darauf feucht zu werden und ohne sich dafür zu schämen dreht sie sich herum und rennt den mühsamen Weg zurück.
Sie schließt die Tür leise hinter sich, geht mit sanften, kleinen Schritten an den Küchentisch und setzt sich auf einen Stuhl aus Holz. Von oben betrachtet sieht man nur ein schönes Mädchen in einem weißen Kleid, *deren Schultern sich in der Melodie von Trauer und Verzweiflung heben und senken. Nur wenn man genau hinsieht, erkennt man die Umrisse eines Seils, das von der Decke herabbaumelt. Und wenn man sich noch einen Moment länger Zeit nimmt, sieht man, wie das Mädchen den Kopf hebt und sich die blauen, tränenfeuchten Augen gen Himmel erheben.