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Alleine in der Nacht
Es war warm, als ich den Motor des alten, verrosteten Fiats abstellte und meine Sachen zusammensammelte. Die Luft war schwül, obwohl der Tag sich seinem Ende neigte und es dämmerte. In dem Moment, in dem der Fahrtwind mein Gesicht nicht mehr kühlte, wurde es unerträglich warm in dem kleinen Auto. Um möglichst schnell der Hitze zu entkommen, schnappte ich meinen Geldbeutel, meinen Schlüssel und meine schwarze, lederne Aktentasche vom Beifahrersitz, öffnete mit verschwitzter Hand die Tür und verließ das Gefährt.
Draußen atmete ich durch, die Luft war frisch, da sie sich langsam abkühlte, sie lud zum tiefen Durchatmen ein. Ich schaute auf die Uhr, sie zeigte kurz vor zehn an. Ich war mehr als pünktlich. Um zehn Uhr, hatte sie gesagt, sollte ich in der kleinen Allee hinter dem Bahnhof sein. Ich hatte nicht gewusst, wie weit sich der Weg dorthin ziehen würde, die Parkbank, die wir als Treffpunkt ausgemacht hatten, lag weit, weit hinten und selbst Straßenlaternen gab es nicht. Unter "Hinter dem Bahnhof" verstand ich wenige hundert Meter, doch die Straße hatte sich gezogen, einige Kilometer hatte ich zurücklegen müssen, Bäume wucherten am Straßenrand, es lag kein Asphalt und der steinige und staubige Weg führte aller Wahrscheinlichkeit nach nur zu einigen Feldern. In dem Moment wurde mir wieder klar, wie groß die Welt war, und dass es gar nicht so unwahrscheinlich war in ihren Weiten zu verschwinden.
Nachdem ich fünf Minuten gewartet hatte, kam mir das Gespräch, das ich vor drei Stunden per Telefon geführt hatte, in den Kopf. Wenn ich an ihre Stimme dachte, wurde mein Kopf unruhig. Das Telefon hatte geklingelt, während ich in der Universitätskantine saß. Es war erstaunlich still für diese Uhrzeit gewesen, so dass ich ohne Probleme reden konnte. Doch ihre Stimme bereitete mir Angst, kannte ich sie so doch gar nicht. "Du musst mir helfen, du musst herkommen!“ Das hatte sie mir gesagt, aber es war eher ein Flehen als eine Bitte gewesen. "Ich erklär dich alles später, ich brauch dich hier jetzt, ich habe ziemlichen Mist gebaut!" Bei diesen Worten war ich ängstlicher geworden, sie passten nicht zu ihrer sanften, zärtlichen Art, sie sprach, als wäre sie in Eile und dieses große Verlangen wäre nur eine kleine Bitte. Ich musste nicht nachdenken um meinen Entschluss zu fassen, ich sagte zu und sofort machte sie einen Treffpunkt aus, teilte mir die Zeit mit und ich setzte mich sofort ins Auto und trat meine Reise an.
Das Ganze war inzwischen drei Stunden her, es war spät, vielleicht schon zu spät, es war viertel nach zehn, wo war sie? Zum ersten Mal sah ich mir wirklich die Straße an, sie sah friedlich aus, so ruhig. Die Bäume schienen erschöpft von dem langen Tag, sie bewegten sich träge im Wind. Die Luft war eigenartig. In ihr war der ganze Tag gefangen, mit viel Vorstellungskraft konnte ich fast das Wasser der Schwimmbäder riechen, das Frittenfett, die Autos, aber auch die Tiere und Blumen. Es kamen nicht viele Geräusche an, ab und zu hörte man noch flatternde Vögel oder Insekten, ansonsten war es mit Ausnahme der rauschenden Blätter still.
Halb elf, langsam ging die Sonne komplett unter. Nur einige wenige Wolken waren als rosa beleuchtete Decken am Himmel zu sehen, doch die Sonnenstrahlen gingen zuneige, es wurde dunkler und dunkler. Wo war sie, was war passiert. Sie war immer pünktlich, ich hatte noch nie erlebt, dass sie ein einziges Mal zu spät gekommen war. Mein Kopf schien Purzelbäume machen zu wollen, meine Gedanken waren nur auf sie fixiert. Auf SIE meine ich, nicht die Purzelbäume. Ich überlegte, was passiert sein könnte, schließlich war sie ein schüchterner Typ, der niemals eine Straftat begangen hätte, was also konnte nur passiert sein?
Viertel nach elf, es war dunkel, die Welt legte sich schlafen. Wie seltsam musste ich aussehen, ich passte mit meiner abgeschnittenen Jeans, meinen aus Nervosität wippenden Beinen und meinen langen, inzwischen vollkommen unordentlichen Haaren kein bisschen in die romantische Stille dieser Umgebung. Mir war, als wollten die Bäume mir zu verstehen geben: „Du hast hier nichts zu suchen!“ Aber wo sollte ich hin? Ich dachte nicht ein Mal daran, zu fahren, sie im Stich zu lassen, ihr Handy hatte sie anscheinend nach unserem Telefonat ausgeschaltet. Ich war auch nicht böse auf sie, was mich wunderte. Schon immer war ich ein ungeduldiger Mensch gewesen, und immerhin hatte ich für sie eine lange Fahrt, viel Zeit und für meine Verhältnisse auch sehr viel Geld für Sprit verbraucht. Doch meine bösen Gefühle schienen heute zu schlafen.
Mitternacht. Mitternacht. Mitternacht. Das Wort lief in der Endlosschleife, ich wartete und verstand nicht, warum ich zwei Stunden nach unserem verabredeten Zeitpunkt immer noch einsam und verlassen auf der kalten, moosigen Parkbank saß. Ich fror inzwischen, traute mich jedoch nicht, ins Auto zu gehen, sie könnte mich ja übersehen und wieder gehen. Ich hatte längst Hunger, Durst brannte in meinem Hals und ließ mich mit meinen Gedanken immer schneller rotieren. Viele Bilder kamen in meinen Kopf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich saß hier, wie versteinert und innerlich doch am Kochen.
Um halb eins begann ich, die Umgebung um mich herum zu beobachten. Hinter mir Bäume, vor mir Bäume, dann Felder und eine endlose Leere, in der Entfernung ein paar Reklameschilder und einige Laternen. Wäre es nicht so dramatisch gewesen, wäre es wunderschön gewesen. So betrachtete ich sorgevoll meine Uhr, sah, wie die Sekunden vergingen und ich mir in jeder Sekunde dümmer vorkam. Einfach, weil ich so gut wie sicher wusste, dass sie nicht kommen würde. Aber das hätte ich nie zugegeben, vielleicht, weil ich es selbst nicht wahrhaben wollte. So selten ich es geschafft hatte sie im letzten Monat zu sehen, so sehr vermisste ich sie jetzt. Ich atmete schwer, es klang laut bei der nächtlichen Stimme. Ich rief ihren Namen in die Nacht, erst flüsterte ich ihn nur, dann schrie ich ihn auf das weite Feld hinaus. Aber sie kam nicht, sie kam einfach nicht und ich wusste, dass sie nicht mehr kommen würde. Diese Erkenntnis war bitter. Ich saß auf der Parkbank und weinte, weinte wie ein kleines Kind, ich verhielt mich nicht wie der bodenständige, lebensfrohe Student vom Nachmittag.
Es war drei Uhr nachts, als ich ein letztes Mal die Wahlwiederholung betätigte und doch wieder die mechanische, stimmungslose Frauenstimme hörte, die mir mitteilte, der Gesprächspartner wäre vorübergehend nicht zu erreichen, ich solle es später noch ein Mal versuchen. Ich wusste, es würde kein weiteres Mal geben, und ein Gefühl sagte mir, dass „Vorübergehend“ der falsche Begriff war.
Um vier Uhr nahm ich meine Tasche, mein Telefon, meinen Schlüssel und meinen Geldbeutel und stieg ins Auto. Es begann zu dämmern, als ich die holprige Allee verließ und auf die Hauptverkehrsstraße einbog. Es dämmerte wie am vorigen Abend, nur rieb die Welt sich gerade den Schlaf aus den Augen und reckte sich. Die Blumen hoben wieder ihre Köpfe, es wurde langsam wärmer und lauter. In diesem Moment hasste ich die Welt dafür, dass sie keine Angst hatte, dass sie nicht mit mir bangte, dass sie nicht mit mir geweint hatte. Ich hatte noch eine lange Fahrt vor mir, ich sah noch ein Mal prüfend in den Rückspiegel, bevor ich diesen Ort verließ. Er war mir unheimlich und ich wollte ihn nicht sehen. Wer weiß, was ich dort zurückgelassen habe, in dieser denkwürdigen Nacht voller Erwartung und einer zerstörten Hoffnung. Wer weiß…
Drei Jahre ist das Ganze jetzt her, der Zeitraum „vorübergehend“ ist noch nicht vorbei, und obwohl ich so gutgläubig bin, weiß ich, dass er niemals enden wird. Obwohl ich das letzte Telefonat mir ihr gut zitieren konnte und es der Polizei Wort für wort aufgeschrieben hatte, war die Suche nach wenigen wochen abgebrochen worden, sooft ich auch versucht hatte, noch etwas zu unternehmen. Es gab keine Meldungen im Fernsehen, keine Titelfotos in Boulevard-Zeitungen, ihre Akte lag klein und dünn mit einem Foto von ihr in einem staubigen Schrank, ohne dass der Schritzug "Ungelöst" je von ihrem Einband verschwunden wäre. Die Suche nach ihr hat aufgehört, zumindest für die Polizisten, für mich wird sie nie enden, und vielleicht kann ich jetzt die Menschen verstehen, die sagen:" Ob tot oder lebendig, Hauptsache wir haben Gewissheit!" Und das ist es, was ich will. Gewissheit! Nicht immer nur dieses furchtbare Vielleicht!!!