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- 06.04.2008
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Alles gesagt
„Gott wird sich ihrer annehmen“, sagte der Pfarrer.
„Das glaube ich kaum“, dachte Manuela. „Sie war nett, zu denen, welchen sie nahe stand. Aber kaum jemand weiss wohl, was wirklich in ihr vorgegangen ist. Sogar ich als ihre Freundin kann es nur erahnen…“ Doch sie sagte nichts. Gott wird sich ihrer annehmen.
Ja, das passte schon.
„Sie ist nun von allen Qualen ihres menschlichen Daseins erlöst.“ Der Pfarrer, die Stimme erhoben.
„Qualen ihres menschlichen Daseins? Welche Qualen hatte sie schon?“, dachte Isabella. „Doch jetzt… Ich vermisse sie. Ja, das tue ich tatsächlich, auch wenn ich es nie gedacht hätte. Ich wollte meine Schwester los sein, und jetzt wo es so ist, laufen mir Tränen über die Wangen. Welch Ironie. Wäre sie doch noch da; ich würde alles anders machen. Ganz anders. Sie hat auch Fehler gemacht, und sie hat sie bestimmt nicht bereut… Aber ich wünschte, sie wäre noch hier. Sie würde sich kaputt lachen. Sie hat bestimmt nicht gedacht, dass an ihrer Beerdigung so viel geweint werden würde.“ Isabella sagte nichts. Sie dachte es nur. Sie ist nun von allen Qualen ihres menschlichen Daseins erlöst. Damit stimmte alles.
„Sie wird nun vermisst, von uns allen, die wir hier trauern“, sagte der Pfarrer.
„Ha, von wegen vermissen!“, dachte Markus. „Diese billige Schlampe! Bin froh, dass ich sie los bin… Niemand ausser mir weiss es, aber sie war ein Miststück… Ich werde sie nicht vermissen, und wenn wir hundertmal verheiratet waren…“ Aber Markus schwieg. Sie wird nun vermisst, von uns allen, die wir hier trauern. Ja, das war gut so.
„Sie war nur ein Mensch, doch sie war einzigartig.“ Wieder der Pfarrer, die Stimme nun gesenkt.
„Einzigartig? Ich hoffe es!“, dachte Roger. „Sie war einzigartig, oh ja, aber auf welche Art und Weise! Diese Frau hatte kein Herz, davon bin ich überzeugt…“ Roger lächelte und sagte nichts. Sein Lächeln war ein bisschen wehmütig. Sie war nur ein Mensch, doch sie war einzigartig. Schöne Worte. Sollte man es so lassen.
„Sie war sehr emotional veranlagt“, sagte der Pfarrer.
„Ja, aber das war nur eine Maske“, dachte Regula. „Meine Tochter war nie ehrlich, zu den anderen und zu sich selbst nicht… Aber ich habe sie geliebt. Was habe ich diese Frau doch geliebt!“ Regula blieb stumm. Sie war sehr emotional veranlagt. Ja… In Ordnung.
„Sie war eine Ehefrau, eine Tochter, eine Enkeltochter, Schwester, und sie war eine Freundin“, sagte der Pfarrer.
„Ja, das mag sie gewesen sein. Aber sie war keine Mutter“, dachte Hans. „Nicht einen einzigen Urenkel hat sie mir geschenkt… Und sie war nicht immer brav. Nein, das war sie nicht, wirklich nicht. Und doch, zu mir war sie immer freundlich… Sie musste zu früh gehen, eindeutig. Ich mochte sie.“ Hans sprach nicht. Sie war eine Ehefrau, eine Tochter, eine Enkeltochter, Schwester, und sie war eine Freundin. Das alles stimmte… Auch wenn Einiges unausgesprochen blieb.
„Sara Werkel war ein guter Mensch“, sagte der Pfarrer.
Und niemand sonst sagte etwas. Nach diesem Satz sahen die Anwesenden sich in die Augen, einige betroffen, andere schuldbewusst und manche voller Trauer. Und in vielen dieser Augen standen Tränen. Blicke wurden wieder abgewandt, die Augen geschlossen.
Sara Werkel war ein guter Mensch.
Es war alles gesagt.