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Alles Gute zum Geburtstag
Sie konnte nicht viel, nein. Sie konnte nicht schreiben. Nicht rechnen. Nicht singen. Nicht schnell rennen. Doch sie konnte ihre Augen schließen. Manchmal saß sie einfach nur da, die Hände in den Schoß gelegt, schwer, und schloss ihre Augen. Das tat sie, um etwas zu tun. Sie konnte ja nicht viel. Dann dachte sie an das Leben. Das Leben in den Bäumen. Im See. Das Leben in der Luft. Im Wind. Der fegte durch ihr Fenster, als wolle er sie mitnehmen. Irgendwohin. Sie streckte ihre Arme aus wie Flügel. Sie war bereit, schon immer gewesen. Doch er konnte nicht, sie war doch so furchtbar schwer. Manchmal legte sie sich auf ihre Matratze, die sich knarzend unter ihr wand, als wolle sie fliehen. Die Matratze. Es war doch schon Niemand mehr da. Sie schlief ein, träumte. Träumte vom Leben. Vom Leben in den Bäumen. Im See. Dem Leben in der Luft. Im Wind.
Sie war kein gutes Kind gewesen. Das hatte man ihr gesagt, Tag für Tag. Sie war dumm gewesen, dumm und unnütz. Man hatte sie bestraft, geschlagen, weil sie da war. Geschlagen, weil sie geweint hatte, geschlagen, weil sie nicht aufgehört hatte. Und von vorn. Wenn sie Geburtstag hatte, hatte man sie in Ruhe gelassen. Dann hatte sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer gesessen, geträumt. Irgendwie schön. Da hatte sich sich einen Zettel geschrieben. Alles Gute zum Geburtstag.
So vergingen die Tage. Manchmal ging sie hinaus, hinaus zu den Bäumen. Die waren gar nicht weit. Sie setzte sich darunter und bewunderte die Äste, die so majestätisch in den Himmel ragten. Die wollen zu Gott, dachte sie. Das wollte sie auch, irgendwann. Da ist es schön, dachte sie. Weiche Wolken, sie würde nie mehr fallen. Das tat sie manchmal, wenn sie nicht auf den Weg achtete. Dann schmerzten ihre Knie, oder ihre Arme. Die waren ihr mal gebrochen, als sie fiel. Da war sie noch ein Kind. Man hatte sie geschlagen, sie hatte geweint. Also hatte man sie geschlagen. Und von vorn.
Wenn es Winter wurde, setzte sie sich auch unter die Bäume. Die waren ja nicht weit. Dann schloß sie ihre Augen, wenn die Schneeflocken hinein fielen. Wenn sie der Wind von den Ästen wehte. Sie strich sich durchs Haar. Das war schön, fand sie. Braun und lang. Sie wollte es jemandem zeigen, hören, dass es schön war. Doch da war Niemand, das wusste sie. Also sagte sich sich selbst, ihr Haar sei schön. Sie sagte es oft und laut. Sie schrie es zu Gott. Doch Gott antwortete nicht. Der habe zu viel zu tun, dachte sie. Er wolle sie nicht bestrafen, dafür, dass sie da war. Er liebte jeden Menschen. Das hatte sie mal gelesen. Sie sei nur einfach nicht groß genug, um von ihm bemerkt zu werden, dachte sie. Sie weinte auch nicht mehr. Damit hatte sie vor langer Zeit schon aufgehört. Da wurde man nur bestraft.
Es kam ein Tag, da regnete es. Sie saß unter den Bäumen, da blieb sie trocken. Sie streckte ihre Zehen nach vorn. Die waren ganz dreckig. Der Regen wasche sie sauber, dachte sie. Es war kalt. Sie breitete die Arme zu Flügeln. Irgendwie leicht. Sie schloss die Augen. Blut schoss aus den Adern. Und sie träumte. Vom Leben. Vom Leben in den Bäumen. Im See. Dem Leben in der Luft. Im Wind. Dem Leben bei Gott.
Und der Wind kam und bließ einen Zettel davon. Alles Gute zum Geburtstag.