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Alles ist gesagt
Alles ist gesagt
Meine Schwester rieb sich unauffällig die Schläfe. Ich erschrak über ihre dünnen, gemaserten Finger und warf einen verstohlenen Blick auf meine Hand, die neben dem Dessertteller auf der Damastdecke lag. Glatter, dachte ich, ohne wirklich beruhigt zu sein, wesentlich glatter. Es konnte aber auch am Schein der Kerzen liegen, die in zwei silbernen Kandelabern auf der Tafel standen. Kerzenschein taucht alternde Haut in mildes Licht. Schließlich war ich nur ein Jahr jünger.
Eine reservierte Festtagsstimmung lag über uns allen. Wir feierten die Silberhochzeit meiner Schwester; und ihres Mannes natürlich.
Veronika hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Die Vorbereitungen fraßen sie auf, doch wie immer, gab sie nichts aus der Hand.
Das Wohnzimmer ihrer alten Stadtvilla hatte die Größe eines kleinen Tanzsaales. Es war ausgeräumt worden, um Platz zu schaffen für eine opulente Tafel, an der sechsunddreißig Personen schlemmen und sich unterhalten sollten. Leonhard, Veronikas Mann, hatte sie in letzter Minute überreden können, ein renommiertes Hotel mit der Lieferung des Büfetts zu beauftragen, das von meiner Schwester mit Akribie zusammengestellt wurde. Leonhard besitzt zwei gutgehende Druckereien und kennt alle wichtigen Leute in der Stadt. Er ist ein angenehmer Mensch, ganz im Gegensatz zu meiner Schwester.
Mein Mann Paul hält sie für eine der typisch Neureichen, die sich mit Gewalt Stil und Etikette aneignen wollen und deshalb vor Stress fast krepieren. Er ist davon überzeugt, dass man Stil nicht lernen kann; entweder man hat ihn, oder eben nicht. Paul nimmt kein Blatt vor den Mund. Er ist Lehrer, und an seiner Realschule braucht er klare Ansagen. Obwohl ich ihm zustimme, beneide ich Veronika oft. Ihr Aufstieg von der Sekretärin zur Ehefrau war weder gänzlich zufällig noch geschah er aus romantischer Liebe; darüber hegt auch Leonhard keine Illusion, doch die beiden kommen gut miteinander zurecht und haben zwei wirklich gelungene Söhne. Veronika hat wohl inzwischen jedes Land der Erde bereist. Darum beneide ich sie sogar glühend. Wir waren zwar auch schon in Südafrika und Marokko, doch mit drei Töchtern sind größere Sprünge einfach nicht drin.
Da saßen wir nun, unser kleiner Bruder Gerald ergraute auch allmählich, seine Frau schwatzte ohne Punkt und Komma, die Kinder langweilten sich sichtlich und wurden unruhig. Verständlich, denn wer hatte schon Interesse an angeheirateten Cousins und Cousinen, die man wahrscheinlich nur zu langweiligen Feiern wiedersehen würde? Die weitläufige Verwandtschaft meines Schwagers war unserer Sippe immer fremd geblieben. Veronikas Söhne standen am Ende der Tafel und wachten mit Argusaugen darüber, ob Tassen und Gläser gut gefüllt waren. Sie machten mich irgendwie nervös.
Nun wäre eigentlich die unumgängliche Tischrede des Hausherrn fällig, damit die Soßenschüsseln und Pistazientortenreste abgetragen werden konnten.
Ich warf einen Blick auf unsere Mutter, die mit ihren achtundsiebzig Jahren erstaunlich aufrecht und hellblau getönt neben Veronika saß.
Wegen ihr legte sich meine Schwester so ins Zeug, da war ich ganz sicher.
Als Älteste hatte sie nach dem frühen Tod unseres Vaters eine Sonderstellung beansprucht, doch unsere Mutter, immer von kühlem Temperament, war nie bereit, ihr diese einzuräumen. Veronikas Tragik lag darin, dass sie nicht sehen wollte, wie sehr unsere Mutter ihre Freiheit genoss. Unser Vater war ein kleinlicher Pedant gewesen, der seiner Frau nun wenigstens eine Menge Erspartes, und endlich auch ein freies Leben vermachte.
Veronika ähnelte ihm, das wussten wir alle. Leonhards Wärme milderte ihre Engherzigkeit, die sie mit den Jahren in Perfektionismus umformte. Ich habe nie begriffen, warum Leonhard meine Schwester mochte und, mehr noch, wieso er zärtlich auf sie acht gab.
Jedenfalls lösten Veronikas Bemühungen, die Vertraute unserer Mutter zu sein, das genaue Gegenteil aus. Unsere Mutter zog sich von ihr zurück und hielt sie aus ihrem Leben raus. Von da an tat Veronika alles, um Mutters Aufmerksamkeit zu erlangen; doch sie war sich dessen nicht bewusst. Schon tragisch.
Wenn Leonhard nun endlich aufstehen würde, hätten wir bald alle diese Feier überstanden und bis zu Pauls fünfzigstem Geburtstag unsere Ruhe. Danach waren es noch fünf Wochen bis Weihnachten. Heiligabend war Gerald in diesem Jahr dran.
Da erklang das Klopfen eines Löffels an Kristall.
Ein Raunen ging durch die erweiterte Familie, denn es war nicht Leonhard, sondern meine Mutter, die aufstand und nach einem kurzen Räuspern ihre Stimme erhob.
„Ich will euch allen nur kurz mitteilen, dass ich heute zum letzten Mal bei einem Familienfest bin. In Zukunft werde ich nicht mehr kommen, weil ich keine Lust mehr dazu habe.“
Mit einem Lächeln setzte sie sich wieder hin und nahm einen Schluck Kaffee. Ich schwöre, dass sie völlig entspannt wirkte. Sie hätte jetzt auch zum Strickzeug greifen können.
Ganz im Gegensatz zu uns. Zunächst blieb es totenstill. Wir hörten nur unsere Atemzüge. Jeder überprüfte wahrscheinlich für sich, ob das, was wir gerade gehört hatten, wirklich gesagt worden war. Ich beobachtete meine Mutter und mir wurde klar, dass ich ihr jedes Wort glaubte und nicht eine Minute an ihrem Verstand zweifelte.
Paul rieb sich unter dem Tisch die Hände; zweifellos erwartete er noch einen spannenden Verlauf dieser Feier. Geralds Frau hielt endlich ihren Mund und schnappte nach Luft, Gerald nahm ihre Hand. Um sich daran festzuhalten, wie ich vermutete.
Leonhards Verwandtschaft blickte einander unsicher an. Bei den älteren Kindern meinte ich verschlagenes Grinsen zu entdecken.
Leonhard wandte sich mit einem traurigen Blick seiner Gattin zu. Es würde nicht aufzuhalten sein; er wusste das.
„Mutter! Wie kannst du so etwas sagen!“ Veronikas theatralischer Ausruf erstickte in einem Schluchzer. Sie drehte ihren Oberkörper zu unserer Mutter herum, doch sie schaffte es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Schon tropften die ersten Tränen auf die ineinander verschränkten Hände, deren spitze Knöchel weiß hervortraten.
„Ach, Vroni, hör auf mit dem Theater. Nimm es nicht persönlich, es ist schließlich an alle gerichtet.“ Mutters Stimme klang zwar ärgerlich, aber ungewöhnlich munter.
Ich begann, mich für die Szene zu erwärmen.
„Ja, aber warum denn, Mutter? Haben wir nicht alles schön gemacht?“
Veronikas war zu jeder Erniedrigung bereit.
„Natürlich habt ihr das, wie immer. Darum geht es mir doch gar nicht.“
„Worum geht es dir denn dann?“ Ihr Jammern schwang sich zu schrillen Höhen empor.
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. Sie dachte eine Weile nach.
„Ich glaube, ich habe einfach genug von diesen Treffen. Es ist alles gesagt, jetzt kommen nur noch Wiederholungen.“
Veronika blieb stur, sie verlegte sich aufs Anklagen.
„Was??? Und die Kinder? Interessieren dich die Kinder auch nicht mehr?“ Beachtlich, wie sie Selbstlosigkeit demonstrierte. Mutter legte den Kopf schief und sah ihr direkt in die Augen.
„Oh doch, die interessieren mich selbstverständlich.“ Schweigen.
Warum empfand ich plötzlich eine ungeahnte Zuneigung für die alte Dame? Ich hätte sie jetzt gerne in den Arm genommen.
„Und was ist mit Weihnachten?“ Veronika gab einfach nicht auf.
„Nichts ist damit. Ich feiere es einfach nicht mehr. Es gehört zu den endlosen Wiederholungen.“
Mutter wurde immer heiterer. Meine Tochter Carolin grinste unverschämt.
„Fährst du vielleicht weg, Omilein?“ Sie lauerte. Mutter fuhr sich kurz durch die blaue Haarpracht. „Das kann gut sein, mal sehen.“
Paul hielt es nicht mehr aus. „Sieh mal einer an, die Schwiegermama! Wo soll es denn hingehen?“ Jetzt kicherte unsere Mutter wie ein Schulmädchen. Sie wiegte schelmisch den Kopf hin und her, bevor sie antwortete. „Na gut, ich sage es euch. Ich fliege mit Gertrud am zwoten Dezember für fünf Wochen nach Gran Canaria, in die Wärme.“
Veronika schluckte und sah uns entgeistert an.
„Aber Mutter, wenn dir da was passiert! Ich meine, wie sollen wir denn…?“
Bevor sie ihren Satz beenden konnte, griff Mutter in ihre Lederhandtasche und zog ein kleines Ding heraus. „Ich kann euch ja die Nummer von meinem Mobiltelefon geben“, flötete sie und schwenkte ein todschickes Handy durch die Luft.
Veronika schlug die Hände vor den Mund und fegte dabei ein Kristallglas vom Tisch.
Es war ein sehr altes Glas, sicher älter als unsere Mutter.