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Alles, was Recht ist
Alles was Recht ist
Alles was recht ist. Der Hammer fährt nieder. Im Namen des Volkes fährt er nieder. Zum letzten Mal wurde in dieser Woche verwarnt, verurteilt, eingekerkert, Recht gesprochen. Das Böse weggeschlossen und bestraft. Mit der Robe wird der Beruf abgestreift und in den Spind gehängt. Ebenso die Vernunft und die Verantwortung. Jetzt kommt der Ehemann zum Vorscheinen, der sich die freie Zeit schwer verdient hat, der Vater, der sich nun auf den Weg macht in die private Welt, wo andere Gesetze herrschen. Das Gerechtigkeitsgebäude und die Akten hinter sich lassend schiebt sich das Wochenendgesicht auf sein Antlitz.
Da, wo er jetzt hingeht, sind die Fenster weit geöffnet. Noch fällt Licht in die Zimmer. Der Wind lässt die Vorhänge tänzeln, er trägt den Frühlingsduft herein, das Zwitschern der Vögel und das Trällern der Tochter, die sich im Garten mit dem Springseil vergnügt. Die Mutter blickt auf die Uhr, probiert ein letztes Lächeln, deckt den Tisch. Akkurat. Ein perfektes Arrangement, auf dem Reißbrett entworfene Stadtteile. Millimeterarbeit.
Da ist die Tür. Sie schaut nicht hin. Noch bleibt sie geschlossen. Diese Tür. Dieses ledergepolsterte Portal. Eingang in das dunkle Heiligtum mit dem alten Schreibtisch, dem Cognac und den verklebten Geheimnissen, aus dem kein Geräusch hinein oder herauszudringen vermag, das niemand ohne ausdrückliche Genehmigung betreten darf. Alles was recht ist.
Hoffentlich ist er nicht in Wochenendlaune, betet sie in sich hinein. Denn dann wird er die verhassten, harmlos klingenden Worte nicht sagen. Doch wenn er in Wochenendlaune ist, wird er sie sagen und dann...
Das Knirschen in der Auffahrt reißt die Gedanken ab. Plötzliche Windstille. Die Vorhänge erschlaffen und nehmen an Gewicht zu. Das Trällern der Tochter verstummt. Das Springseil erstarrt. Gekrümmt. Zusammengerollt. Eine bewegungslose, geduldig auf Beute lauernde Schlange. Unsichtbar fallen irgendwo die Vögel vom Himmel.
Wer betritt heute das Haus? Richter, Vater oder Ehemann? Es ist der Vater, er hält die Tochter an der Hand. Wochenendlaune. Sein Atem verrät den hastig hinuntergestürzten Cocktail. Die Fenster werden geschlossen. Die Vorhänge zugezogen. Die Welt ausgesperrt. Die Mutter zupft fahrig Frisur und Kleidung zurecht.
Ein Teller fällt, als der Vater sich erkundigt, wie es „Papas Liebling“ im Kindergarten ergangen sei. Etwas explodiert lautlos und die Mutter muss sich neu sortieren, das Mosaik in ihrem Kopf wieder zusammensetzen, Stein für Stein am rechten Ort platzieren, während sie ausgegossen wird mit Beton. Das Signal wurde mit dem Horn von den Hügeln ins Tal geschmettert, und der richterliche Hammer ist niedergefahren, die beiden Worte: „Papas Liebling“ sind gefallen. Unwiderruflich in Marmor gemeißelt. Das Urteil ist rechtskräftig. Im Namen des Vaters.
Das Essen ist gelungen. Papa lobt und scherzt lächelnd. Die Tochter kichert künstlich und viel zu laut, während die Lautsprecher Mozart in den Raum spucken. Die Mutter bringt kaum etwas hinunter, denn der Beton in ihr ist nun ausgehärtet und will nichts mehr hinein oder hinauslassen. Nach dem Espresso legt sich eine Schraubzwinge aus Fleisch und Blut um die Hand der Tochter. Die ledergepolsterte Tür wird geöffnet. Lautlos. Der dunkle, dampfende Raum, in dem die Tapeten Blasen schlagen, verschluckt Papa und Papas Liebling.
Versteinert bleibt die Mutter am Tisch zurück. Festgezurrt im Geschirr der Ehe, starrt sie auf die geschlossene Tür. Obwohl kein Ton in den Raum hinein oder hinausdringen kann, ist es laut in ihrem Kopf. So laut, dass der Beton in ihr zu Staub zerfällt und die Beweglichkeit zurückkehrt.
Alles was recht ist. Wer sich Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr aufopfert und Recht sprechen muss, immer wieder und wieder Recht sprechen muss, hat doch auch ein Recht auf Unrecht, denkt sie, steht auf und räumt leise summend den Tisch ab.