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Alles, was Recht ist

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01.07.2004
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Alles, was Recht ist

Alles was Recht ist

Alles was recht ist. Der Hammer fährt nieder. Im Namen des Volkes fährt er nieder. Zum letzten Mal wurde in dieser Woche verwarnt, verurteilt, eingekerkert, Recht gesprochen. Das Böse weggeschlossen und bestraft. Mit der Robe wird der Beruf abgestreift und in den Spind gehängt. Ebenso die Vernunft und die Verantwortung. Jetzt kommt der Ehemann zum Vorscheinen, der sich die freie Zeit schwer verdient hat, der Vater, der sich nun auf den Weg macht in die private Welt, wo andere Gesetze herrschen. Das Gerechtigkeitsgebäude und die Akten hinter sich lassend schiebt sich das Wochenendgesicht auf sein Antlitz.
Da, wo er jetzt hingeht, sind die Fenster weit geöffnet. Noch fällt Licht in die Zimmer. Der Wind lässt die Vorhänge tänzeln, er trägt den Frühlingsduft herein, das Zwitschern der Vögel und das Trällern der Tochter, die sich im Garten mit dem Springseil vergnügt. Die Mutter blickt auf die Uhr, probiert ein letztes Lächeln, deckt den Tisch. Akkurat. Ein perfektes Arrangement, auf dem Reißbrett entworfene Stadtteile. Millimeterarbeit.
Da ist die Tür. Sie schaut nicht hin. Noch bleibt sie geschlossen. Diese Tür. Dieses ledergepolsterte Portal. Eingang in das dunkle Heiligtum mit dem alten Schreibtisch, dem Cognac und den verklebten Geheimnissen, aus dem kein Geräusch hinein oder herauszudringen vermag, das niemand ohne ausdrückliche Genehmigung betreten darf. Alles was recht ist.
Hoffentlich ist er nicht in Wochenendlaune, betet sie in sich hinein. Denn dann wird er die verhassten, harmlos klingenden Worte nicht sagen. Doch wenn er in Wochenendlaune ist, wird er sie sagen und dann...
Das Knirschen in der Auffahrt reißt die Gedanken ab. Plötzliche Windstille. Die Vorhänge erschlaffen und nehmen an Gewicht zu. Das Trällern der Tochter verstummt. Das Springseil erstarrt. Gekrümmt. Zusammengerollt. Eine bewegungslose, geduldig auf Beute lauernde Schlange. Unsichtbar fallen irgendwo die Vögel vom Himmel.
Wer betritt heute das Haus? Richter, Vater oder Ehemann? Es ist der Vater, er hält die Tochter an der Hand. Wochenendlaune. Sein Atem verrät den hastig hinuntergestürzten Cocktail. Die Fenster werden geschlossen. Die Vorhänge zugezogen. Die Welt ausgesperrt. Die Mutter zupft fahrig Frisur und Kleidung zurecht.
Ein Teller fällt, als der Vater sich erkundigt, wie es „Papas Liebling“ im Kindergarten ergangen sei. Etwas explodiert lautlos und die Mutter muss sich neu sortieren, das Mosaik in ihrem Kopf wieder zusammensetzen, Stein für Stein am rechten Ort platzieren, während sie ausgegossen wird mit Beton. Das Signal wurde mit dem Horn von den Hügeln ins Tal geschmettert, und der richterliche Hammer ist niedergefahren, die beiden Worte: „Papas Liebling“ sind gefallen. Unwiderruflich in Marmor gemeißelt. Das Urteil ist rechtskräftig. Im Namen des Vaters.
Das Essen ist gelungen. Papa lobt und scherzt lächelnd. Die Tochter kichert künstlich und viel zu laut, während die Lautsprecher Mozart in den Raum spucken. Die Mutter bringt kaum etwas hinunter, denn der Beton in ihr ist nun ausgehärtet und will nichts mehr hinein oder hinauslassen. Nach dem Espresso legt sich eine Schraubzwinge aus Fleisch und Blut um die Hand der Tochter. Die ledergepolsterte Tür wird geöffnet. Lautlos. Der dunkle, dampfende Raum, in dem die Tapeten Blasen schlagen, verschluckt Papa und Papas Liebling.
Versteinert bleibt die Mutter am Tisch zurück. Festgezurrt im Geschirr der Ehe, starrt sie auf die geschlossene Tür. Obwohl kein Ton in den Raum hinein oder hinausdringen kann, ist es laut in ihrem Kopf. So laut, dass der Beton in ihr zu Staub zerfällt und die Beweglichkeit zurückkehrt.
Alles was recht ist. Wer sich Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr aufopfert und Recht sprechen muss, immer wieder und wieder Recht sprechen muss, hat doch auch ein Recht auf Unrecht, denkt sie, steht auf und räumt leise summend den Tisch ab.

 

hallo falky,

gut geschrieben! Starke Bilder! Alles was ich kritisieren werde, ist nur ne Geschmackssache, denn insgesamt gefällt mir die Geschichte sehr gut. Sehr subjektiv :) also: Ich hätte auf die Handlung hinter der Tür (um nicht zu viel für die nächsten Leser zu verraten) verzichtet. Auch so wäre die Geschichte stark ... und inhaltlich vielleicht weniger aufdringlich, gleichzeitig vielleicht nachhaltiger in der Wirkung, denn: Altbekanntes vergisst man gern!

2 Bilder, die mir nicht so zugesagt haben:

Das Trällern der Tochter verstummt. Das Springseil erstarrt. Gekrümmt. Zusammengerollt. Eine bewegungslose, geduldig auf Beute lauernde Giftschlange. Todbringend.

Warum das Springseil auf einmal zur Metapher für Gefahr gemacht wird, verstehe ich nicht. Die Gefahr kommt dann nämlich von der falschen Seite - der Blick des Lesers wird vom Eigentlichen weggelenkt. Man erwartet, dass die Tochter wegspringt oder so. Dagegen ist der folgende Satz "Unsichtbar fallen irgendwo die Vögel vom Himmel" ein schöner Effekt, weil er etwas ungreifbares erzeugt - eine Stimmung! (Kenn ich dieses Bild aber nicht schon irgendwoher?:hmm:)

Der dampfende Raum, in dem die Tapeten Blasen schlagen und die dunklen Vorhänge gesotten tropfen,
Dampfender Raum? Denke schon, ich weiß, was du sagen willst, aber das Bild erschließt sich nicht sofort und kämpft erstmal mit der Vorstellung vom bürgerlichen Arbeitszimmer. Genauso verhält es sich mit den tropfenden Vorhängen.

Die Figuren sind sehr gut gezeichnet - die Tochter bleibt ein wenig blass, aber der rechte Mann und die Ehefrau ... unheimlich diese Bilder der Versteinerung, der Gewalt, der Rollen, die sie spielen.
Hat sich für mich gelohnt, jetzt noch was zu lesen!

Gruß
Kasimir

 
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Hallo falky!

Mir gefällt die Geschichte auch sehr gut, trotz und auch zum Teil gerade wegen deiner expressionistischen Metaphorik, die jedoch Gefahr läuft, zu dick aufgetragen zu werden. Zum Beispiel:

Der dampfende Raum, in dem die Tapeten Blasen schlagen und die dunklen Vorhänge gesotten tropfen

Einen Picasso würde es vielleicht reizen, es zu malen, aber in einem Wortkunstwerk ist es mir zu grell.

Das gilt zum Teil auch für diese Stelle:

Das Springseil erstarrt. Gekrümmt. Zusammengerollt. Eine bewegungslose, geduldig auf Beute lauernde Giftschlange. Todbringend. Unsichtbar fallen irgendwo die Vögel vom Himmel.

Die Vögel, die vom Himmel fallen, finde ich übertrieben. Auch das "Todbringend" würde ich weglassen. Die Giftschlange, Verkörperung wohl des Vaters und seiner sexuellen Gier, bringt ja Leid, aber nicht den Tod, und "auf Beute lauernde Giftschlange" ist schon stark genug, so dass die Verstärkung durch "todbringend" zuviel des Guten ist.

Treffend finde ich aber den Rest des Zitierten:

Das Springseil erstarrt. Gekrümmt. Zusammengerollt. Eine bewegungslose, geduldig auf Beute lauernde Giftschlange

Zuerst ist es eine Idylle, der Garten, in dem die Tochter unbeschwert spielt. Eine Idylle mit Anklängen an das biblische Paradies ("Paradies" leitet sich etymologisch übrigens von griechisch paradeisos "eingezäunter Park" also "größerer Garten" her - es ist wohl ein Archetypus, eine allen Menschen angeborene Vorstellung: Garten = eingehegte, bergende Idylle)

Denkt man ans biblische Paradies, so tritt natürlich die Schlange auf, und da hast du aus dem Springseil eine tolle Metapher gemacht: Erst als Spielzeug Teil der paradiesischen Kinderidylle wandelt es sich mit der Ankunft des Vaters in ein Phallussymbol, das den geplanten sexuellen Missbrauch ankündigt und das Paradies ist keines mehr.

gerne gelesen
gerthans

 

Hallo falky,

eine von den Geschichten, die mir ein ungutes Gefühl verschaffen. KLingt paradox, aber es spricht für deine Geschichte. Denn es bedeutet, dass es dir gelungen ist, die bedrohliche Atmosphäre spürbar rüber zu bringen.
Ich bin sogar etwas erstaunt, dass die Geschicte so gut funktioniert, da sie doch arg komprimiert ist. Aber auch das spricht für deinen Text. Du schaffst es, dich wirklich nur mit dem wichtigsten zu beschäftigen. Keine Schnörkel, die von dem eigentlichen Drama wegweisen. Gleichzeitig in meinen Augen nicht gegeizt mit den Dingen, die wichtig sind, um das Unheimliche in reifem Ausmaß entstehen zu lassen.
Dennoch kann ich den EInwand von Kasimir verstehen. In gewisser Weise raubt der letzte Absatz etwas die Kraft, die in dem Text schlummert. Ich denke, ein jeder weiß, was sich nun hinter der Tür abpielen wird, da ist der Absatz nicht nötig. Aber eben nur etwas. Glücklicherweise bleibst du vage genug, und hältst dich mit dem zeigefinger zurück.
Was ich irritierend fand, war das leise Summen der Mutter.
Klar, es läuft Mozart, dazu kann man schön Summen. Für mich ist Summen aber zu sehr mit etwas positivem und beruhigenden Assoziiert, als dass ich es an dieser Stelle passend finde. Man kann jetzt sagen, dass sie sich selbst damit beruhigen möchte, aber das funktioniert in meinen Augen nicht. Dafür sind die kräftigen Schockerlebnisse, die ihr bei jedem Gedanken an den Mann duchzucken zu mächtig.
Da müsste schon ein anderes Adjektiv als leise hingesezt werden, finde ich. Eines, das die Harmonie des Summens konterkarriert.
Aber das sind nur Kleinigkeiten, im Gesamten hat mich die kg überzeugt.

grüßlichst
weltenläufer

 

hallo falky,

da sieht man schon an 3 Kritiken wie unterschiedlich die Wahrnehmungen der Leser sein kann - zwar auf Details bezogen, aber deswegen nicht weniger ausschlaggebend.

gerthans hat das mit der schlange gedeutet und es macht sinn, wirkt für mich aber nach wie vor ablenkend - vielleicht tatsächlich wegen "todbringend"

weltenläufer sieht den letzten absatz als abschwächend - den fand ich gut, mich hat jedoch das "Wimmern und Stöhnen" gestört. Zu direkt!

"leise summen" ist tatsächlich komisch, weil doppelt gemoppelt - wie laut kann man summen? wiederum kann ich das schon als verdrängungshandlung verstehen und als unheimlich empfinden.

in der summe gefällt der text bis jetzt - das ist das wichtigste!:)

Gruß
kasimir

 

Hallo Kasimir, gerthans und Weltenläufer,

erst einmal vielen Dank fürs gutfinden und die positiven Anmerkungen.
Tatsächlich finde ich, dass ihr mit Eurer Kritik völlig recht habt. Die beiden Bilder (Schlange, todbringend usw. und der triefende Raum) sind wohl tatsächlich ein wenig übertrieben geraten. Das werde ich ändern.

Kasimir, kennst du das Bild mit den Vögeln? Wenn ja, woher? Das wäre ein Grund, das Bild herauszunehmen.

Mit der Szene hinter der Tür hadere ich ein wenig. Einerseits denke ich, man kann darauf ganz darauf verzichten, andererseits gefällt mir Kasimirs Vorschlag, das Stöhnen und Wimmer rauszunehmen, ganz gut.
Ich werd mal drauf rumdenken und dann ändern.

Weltenläufer, das Summen der Mutter ist tatsächlich als da kann man halt nichts machen gemeint. Sie rechtfertigt den Mann am Schluss sogar. Leider wie oft im richtigen Leben.

Euch allen herzlichen Dank für die Mühe
Falky

 
Zuletzt bearbeitet:

Der dunkle, dampfende Raum, in dem die Tapeten Blasen schlagen, verschluckt Papa und Papas Liebling.
Versteinert bleibt die Mutter am Tisch zurück. Festgezurrt im Geschirr der Ehe, starrt sie auf die geschlossene Tür. Obwohl kein Ton in den Raum hinein oder hinausdringen kann, ist es laut in ihrem Kopf. So laut, dass der Beton in ihr zu Staub zerfällt und die Beweglichkeit zurückkehrt
Ich finde hier wird (wieder einmal)Kindesmissbrauch und dazu noch plakativ umgesetzt angedeutet.

 

Hallo falky,

eine sprachlich saubere Geschichte präsentierst Du da.

Soweit ich weiß, fährt in Gerichten kein Hammer nieder, so was gibt es bei Versteigerungen. Müssen die Vögel unbedingt 'aufmunternd' zwitschern und muss der Wind die Vorhänge ausgerechnet 'vornehm' tänzeln lassen?

Für meinen Geschmack malst Du mit einem gar zu dicken Pinsel, der Leser soll auf jeden Fall ganz genau wissen, worum es geht und keinen Raum für Zweifel haben. Ich denke, Andeutungen hätten viel stärker gewirkt. So habe ich früh geahnt, wo es hin gehen soll und dann auch nicht mehr als ein Klischee bekommen - vom Summen der Mutter vielleicht abgesehen.

Viele Grüße vom
gox

 

Dies könnte eine starke Geschichte sein, falky,

denn sie hat alle Attribute einer solchen.

Auch ich ahnte schon früh, wohin die Reise gehen würde. Aber das ist kein Nachteil, jedenfalls nicht in dieser Geschichte, denn du entwickelst sie langsam, bist sparsam mit Worten. Die Bilder beeindrucken, wenn auch sie dir ein wenig plakativ, d.h. symbolhaft geraten – da gebe ich der Goldenen Dame recht. Besser wäre es vielleicht, alles bei Sonnenschein, Frühlingslüften und zwitschernden Vögeln stattfinden zu lassen, will sagen, alles geht seinen gewohnten Gang – bei der Frau ist das sicher jetzt schon der Fall -, und im Arbeitszimmer geschieht Ungeheuerliches.

Das große Manko jedoch ist, daß das Schweigen der Frau nicht begründet wird, denn ein Wort von ihr würde alles zusammen brechen lassen. Warum also spricht sie dieses eine Wort nicht aus? Warum summt sie mit Mozart, statt zu schreien?

Du lieferst zwar eine Andeutung davon -„Wer sich Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr aufopfert und Recht sprechen muss, immer wieder und wieder Recht sprechen muss, hat doch auch ein Recht auf Unrecht, denkt sie, steht auf und räumt leise summend den Tisch ab.“ -, aber die ist so schwach, daß es besser wäre, sie (eingebildetes Recht auf Unrecht) wäre nicht da.

Ich fürchte, ohne einer sinnvollen Begründung für das Verhalten der Frau, wird die Geschichte nur eine Anklage gegen die Männer bleiben, und davon, falky, gibt es wie Sand im Meer, wenn auch nicht alle so gut erzählt wie deine.

Dion

 
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Ich finde hier wird (wieder einmal)Kindesmissbrauch und dazu noch plakativ umgesetzt angedeutet.

Sorry, aber den Satz verstehe ich nicht. Natürlich wird der Missbrauch angedeutet. Das war meine Absicht. Aber plakativ???
Beste Grüße
falky

Hallo falky,


Soweit ich weiß, fährt in Gerichten kein Hammer nieder, so was gibt es bei Versteigerungen. Müssen die Vögel unbedingt 'aufmunternd' zwitschern und muss der Wind die Vorhänge ausgerechnet 'vornehm' tänzeln lassen?

gox


Der Hammer ist symbolisch gemeint. Und was 'aufmunternd und 'vornehm' betrifft, da hast du völlig recht - überflüssig. Kommt weg.
Was den dicken Pinsel betrifft, ich fürchte, das ist Geschmackssache.

Ich denke, Andeutungen hätten viel stärker gewirkt.
Guter Tipp, da denke ich noch mal drauf rum.

Danke gox und beste Grüße
falky

Das große Manko jedoch ist, daß das Schweigen der Frau nicht begründet wird, denn ein Wort von ihr würde alles zusammen brechen lassen. Warum also spricht sie dieses eine Wort nicht aus? Warum summt sie mit Mozart, statt zu schreien?
Dion

Gute Frage Dion. Warum schweigen so viele und billigen Misshandlungen? Da gibt es sicherlich viele Antworten. Angst, Hilflosigkeit, Abhängigkeit, psychische Krankheit usw. Jedoch war es in diesem Fall nicht meine Absicht, die Frage zu beantworten. Oder besser gesagt, die Antwort liegt im Schweigen selbst. 'festgezurrt im Geschirr der Ehe' war und ist mir da Aussage genug.
Die Geschichte ist nicht mehr und nicht weniger, als eine Draufsicht und so gesehen tatsächlich plakativ, aber gewollt.

Beste Grüße
falky

 

Alles was recht ist. Der Hammer fährt nieder. Im Namen des Volkes fährt er nieder. Zum letzten Mal wurde in dieser Woche verwarnt, verurteilt, eingekerkert, Recht gesprochen. Das Böse weggeschlossen und bestraft. Mit der Robe wird der Beruf abgestreift und in den Spind gehängt. Ebenso die Vernunft und die Verantwortung. Jetzt kommt der Ehemann zum Vorscheinen, der sich die freie Zeit schwer verdient hat, der Vater, der sich nun auf den Weg macht in die private Welt, wo andere Gesetze herrschen. Das Gerechtigkeitsgebäude und die Akten hinter sich lassend schiebt sich das Wochenendgesicht auf sein Antlitz.
Mein Empfinden beim Lesen: die gewählten Stilmittel bewirken, dass der Text
aufdringlich, auffallend, demonstrativ, plakathaft, plakatmäßig, schlagwortartig, stark akzentuiert, stark betont, stark pointiert
= plakativ ist

 

Da ich derjenige war, der den Text empfohlen hat, und mittlerweile doch starke Zweifel an der Textqualität geäußert wurden, fühle ich mich motiviert, hier meine Empfehlung genauer zu erläutern.

Missbrauch ist ein breitgetretenes Thema und hätte bei Weitem für mich nicht gereicht, den Text zu empfehlen. Das Besondere des Textes ist für mich also nicht inhaltlicher Art, sondern im Formalen zu begründen.
Der Text ist eindringlich geschrieben, sodass, obwohl man das Thema mittlerweile schon hasst, sich die Bilder in das Bewusstsein des Lesers einprägen. Insofern vielleicht plakativ, aber in einem guten Sinne! Kunst ist nicht zuletzt, das Alte zu Neuem zu erwecken. Und wer wünscht sich nicht, dass seine Kunst wirkt! Diese Geschichte tut es nämlich.

@Goldene Dame
Mich würde es interessieren, welche Stilmittel es genau sind, die auf dich auf(und nicht ein)dringlich wirken.


Gruß
Kasimir

 

@ Kasimir

Mich würde es interessieren, welche Stilmittel es genau sind, die auf dich auf(und nicht ein)dringlich wirken.
Alles was Recht ist. Der Hammer fährt nieder. Im Namen des Volkes fährt er nieder. Zum letzten Mal wurde in dieser Woche verwarnt, verurteilt, eingekerkert, Recht gesprochen. Das Böse weggeschlossen und bestraft. Mit der Robe wird der Beruf abgestreift und in den Spind gehängt.
Der erste und zweite Satz impliziert, dass der Hammer Recht spricht. Mit dieser Personifikation soll erreicht werden, dass der Leser einen geistigen Tritt in den Hintern bekommt, einen Denkanstoß erhält, demnächst betroffen zu sein, was nichts anderes ist, als schmerzlich überrascht, innerlich bewegt zu werden. Im Grunde genommen ein super Einstieg, wenn hier nicht auf eine abgedroschene Schablone (Hammer fährt nieder) zurückgegriffen worden wäre und die Geschichte inhaltlich keinen Betroffenheitsvorsprung (Kindesmissbrauch) thematisiert hätte. Der dritte Satz wiederholt inhaltlich den zweiten und ersten Satz (Metonymie) und steigert dadurch die Aussage/Betroffenheit. Der vierte Satz ist eine Passivkonstruktion, weil nicht der Hammer, sondern die Person, die durch den Hammer personifiziert ist handelt. Auch die Wirkung der Verben wird gesteigert indem der Reihe nach das höhere Strafmaß aufgezählt wird und inhaltlich wiederholt wird, dass Recht gesprochen wird. Der fünfte Satz wiederholt mit einem abstrakten Substantiv die vier ersten Sätze.
Das ist wie eine Keule, die dem Leser um die Ohren geschlagen wird. Das nennt man plakativ.
Erst mit dem sechsten Satz ändert sich der Inhalt. Und wieder wird stilistisch die Robe personifiziert und es wird auf eine abgedroschene Schablone zurückgegriffen.

Ebenso die Vernunft und die Verantwortung. Jetzt kommt der Ehemann zum Vorscheinen, der sich die freie Zeit schwer verdient hat, der Vater, der sich nun auf den Weg macht in die private Welt, wo andere Gesetze herrschen. Das Gerechtigkeitsgebäude und die Akten hinter sich lassend schiebt sich das Wochenendgesicht auf sein Antlitz.
Hier wird es für mich unerträglich ... :( Bildleere Substantive werden angehäuft in der Hoffnung eine großartige Denkleistung komplex wiedergegeben zu haben. Wenn man dazu ein paar bildhaftere Schablonen und ein unschönes Partizip mixt, ist das für mich ein Ärgernis. Hier wird textlich aufgebläht: der Richter ist Vater und er hat schwer geschuftet und sich ein freies Wochenende verdient.
Da, wo er jetzt hingeht, sind die Fenster noch weit geöffnet. Noch fällt Licht in die Zimmer. Der Wind lässt die Vorhänge tänzeln, er trägt den Frühlingsduft herein, das Zwitschern der Vögel und das Trällern der Tochter, die sich im Garten mit dem Springseil vergnügt. Die Mutter blickt auf die Uhr, probiert ein letztes Lächeln, deckt den Tisch. Akkurat. Ein perfektes Arrangement, auf dem Reißbrett entworfene Stadtteile. Millimeterarbeit.

Sehr schön dagegen diese Passage bis auf die unterstrichenen Wörter Der Erzähler wertet, greift dem Geschehen vor und stülpt so dem Leser über, was er zu denken habe. Das nennt man plakativ.

Und so weiter und so fort ...

Bis denn

Goldene Dame

 

Die Goldene Dame beanstandet u.a. diese Passage:

Alles was recht ist. Der Hammer fährt nieder. Im Namen des Volkes fährt er nieder. Zum letzten Mal wurde in dieser Woche verwarnt, verurteilt, eingekerkert, Recht gesprochen. Das Böse weggeschlossen und bestraft.

Für mich ist es eindringlich, nicht aufdringlich. Um mein Urteil zu begründen, möchte ich einen Begriff von C.G.Jung benutzen: Persona.

Persona, von dem sich unser Fremdwort Person ableitet, bedeutet ursprünglich die Maske des Schauspielers. Was meint C.G.Jung damit? Ich zitiere eine Definition aus Rattners Kritischem Wörterbuch der Tiefenpsychologie:

C.G.Jung verwendet diesen Begriff zur Bezeichnung der Berufs- und Konventionsmaske, die sich jeder Mensch im Alltag zulegen muss. Durch unseren Beruf ergeben sich z.B. gewisse Erwartungsvorstellungen, die die Umwelt an uns heranträgt. Ihnen müssen wir entsprechen, wenn wir hinsichtlich unserer beruflichen Funktion Vertrauen erwecken wollen. So haben etwa Ärzte, Juristen, Beamte, Politiker, Lehrer usw. eine ganz spezifische "Persona", die sie im Laufe der Berufsjahre ausbilden müssen.

Ein Beispiel: Ein schwuler Fußballstar kann seine Homosexualität öffentlich nicht ausleben, weil sie unvereinbar mit seiner "Persona" ist, denn seine Fans würden einen schwulen Helden nicht akzeptieren. Also muss er es im Geheimen ausleben oder sogar - wenn er selbst aus Eitelkeit dieser männliche Held sein und bleiben will - ganz verdrängen. Aber Verdrängen ist nie gut.

Der Richter in falkys Text ist ein fanatischer Kämpfer für Gerechtigkeit. So erwartet es die Öffentlichkeit von ihm, das ist seine Persona. Aber eine einseitige, überspitzte Persona verlangt nach Kompensation: dafür muss die Tochter herhalten. Frau und Tochter wirken so an der Aufrechterhaltung der Persona mit, deren Überspitztheit mit den "plakativen" Stilmitteln angemessen geschildert ist.

 

@gerthans

So haben etwa Ärzte, Juristen, Beamte, Politiker, Lehrer usw. eine ganz spezifische "Persona", die sie im Laufe der Berufsjahre ausbilden müssen.
Ich habe den Text nicht tiefenpsychologisch selektiert, sonder stilistisch.
Eine Personifikation ist vorhanden, wenn abstrakten Begriffen, unbelebten Erscheinungen (hier der Hammer) Pflanzen und Tieren Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeordnet werden, die nur Menschen (Personen) können.

Nicht der Hammer verurteilt, sondern der Mensch der den Hammer führt und das hat wirklich nichts mit Jungs Begriffsdefinition Persona zu tun. Abgesehen davon kannst du den Text ruhig eindringlich empfinden. Vielleicht bin ich sensibler und finde das was andere eindringlich finden aufdringlich. Da ich aber die sprachliche Keule nicht mit meiner Sensibilität begründet habe ,sonderen mit der Wahl der Stilmittel, halte ich mich am Text und nicht an mein Empfinden.

 

Hm, der Hammer. Er fährt nieder. Das können nicht nur Menschen (oder Engel)

Ein Blitz fährt nieder, zerstörerisch, Feuersbrunst stiftend.

Ein Adler fährt nieder, auf ein Häschen.

Der Hammer, Attribut des Richters, taucht im Text ja noch einmal auf...

Analysiert man in einem literarischen Kunstwerk die Sprache, die Stilmittel, muss man vom Inhalt, auch vom unbewussten Inhalt (denn ein guter Text hat wie auch die Seele eines Menschen ein Unterbewusstsein) ausgehen - und der Hammer könnte ein Phallus-Symbol sein...

 

Hallo zusammen!
Ich bin überrascht, was sich hier für eine Diskussion entwickelt hat und wie unterschiedlich dieser Text empfunden werden kann.
Dass er jedoch als "sprachliche Keule" bezeichnet wird, ist neu und wird hoffentlich ein Einzelfall bleiben.

Hier wird es für mich unerträglich ... Bildleere Substantive werden angehäuft in der Hoffnung eine großartige Denkleistung komplex wiedergegeben zu haben. Wenn man dazu ein paar bildhaftere Schablonen und ein unschönes Partizip mixt, ist das für mich ein Ärgernis.

So etwas nennt man bei Literaturbesprechungen "Verriss".
Nun weiß ich nicht, ob ich froh sein soll, dass die Goldene Dame meine Bücher bisher in der Presse nicht besprochen hat. Denn solche Verrisse sind ja häufig recht verkaufsfördernd.

Da, wo er jetzt hingeht, sind die Fenster noch weit geöffnet. Noch fällt Licht in die Zimmer.

Hier wurde ich ungewollt auf eine unschöne Wiederholung aufmerksam gemacht. Ein "noch" fliegt natürlich raus.

Ich habe den Text häufig an Schulen gelesen und war jedesmal hocherfreut darüber, dass sich hinterher oft eine rege Diskussion zwischen Schülern und Lehrkräften über das Thema Kindesmissbrauch entwickelte. Es ist toll mit einem kurzen Text so etwas auszulösen.
Natürlich ist es etwas anderes, ob ein Text gelesen oder vorgelesen wird. Deshalb hab ich ihn hier reingestellt. Und einige Tipps zur Verbesserung habe ich von Euch bekommen.
Dafür vielen Dank.
Ich wünsche Euch allen ein schönes Wochenende.

falky

 

Der Text wird empfohlen, kritisiert, verteidigt, verrissen und wieder verteidigt, um zuletzt von dem/der Autor/in Solches zu lesen zu bekommen:

Ich bin überrascht, was sich hier für eine Diskussion entwickelt hat und wie unterschiedlich dieser Text empfunden werden kann.
[…]
So etwas nennt man bei Literaturbesprechungen "Verriss".
Nun weiß ich nicht, ob ich froh sein soll, dass die Goldene Dame meine Bücher bisher in der Presse nicht besprochen hat.
[…]
Ich habe den Text häufig an Schulen gelesen und war jedesmal hocherfreut darüber, dass sich hinterher oft eine rege Diskussion zwischen Schülern und Lehrkräften über das Thema Kindesmissbrauch entwickelte. Es ist toll mit einem kurzen Text so etwas auszulösen.
Du widersprichst dich hier, falky, wahrscheinlich unbewußt und übrigens nicht zum ersten Mal: Du bist angeblich hocherfreut, wenn dein Text rege Diskussionen auslöst, aber diese hier paßt dir wohl nicht, warum sonst würdest du mit deinen Büchern prallen?

Nachdem Kasimir Antworten von Goldene Damen verlangt und bekommen hat, meldet er sich nicht mehr – ich vermute, er denkt jetzt über das Zurückziehen seiner Empfehlung nach. :D

Aber es gibt ja noch gerthans, der schwere Geschütze in Form von C.G.Jung auffährt und den Text tiefenpsychologisch deutet, ohne auf die Argumente von Goldener Dame einzugehen, wohl weil das etwas schwieriger sein dürfte als sich über die spezifische Persona des Richters in dieser Geschichte auszulassen, womit er übrigens sogar Recht haben dürfte.

Jeder wie er kann.

Dion

 

Du widersprichst dich hier, falky, wahrscheinlich unbewußt und übrigens nicht zum ersten Mal: Du bist angeblich hocherfreut, wenn dein Text rege Diskussionen auslöst, aber diese hier paßt dir wohl nicht, warum sonst würdest du mit deinen Büchern prallen?
Dion

Ich sehe keinen Widerspruch. Natürlich bin ich erfreut, wenn in den Schulen über den Text diskutiert wird. Natürlich ist es erfreulich, dass über ein Thema diskutiert wird, das vielerorts tabuisiert wird.
Und, liebe/r Dion, ich bin auch sehr angenehm überrascht über die hier stattfindende Disukssion. Das heißt ja nicht, dass ich jeden Beitrag oder jeden Satz, der hier gesagt wird toll finden muss.
Wie zum Besispiel deinen Vorwurf der Prahlerei. Darunter verstehe ich nun wirklich etwas anderes. Es gibt schließlich etliche hier in diesem Forum, die Bücher schreiben ...

Mit besten Grüßen
falky

 
Zuletzt bearbeitet:

@ falky
Nenne mir doch einige Titel deiner Bücher. Ich bin sehr gespannt darauf.

Ich habe den Text häufig an Schulen gelesen und war jedesmal hocherfreut darüber, dass sich hinterher oft eine rege Diskussion zwischen Schülern und Lehrkräften über das Thema Kindesmissbrauch entwickelte.

Eine Diskussion hier und die dort kann man wohl nicht vergleichen. Und wenn diese Geschichte in der Schule meiner Tochter vorgetragen worden wäre, hätte ich den Lehrer aufgefordert, dass deine Geschichte stilistisch untersucht wird und ich hätte ihn gefragt ob das Thema Kindesmissbrauch nicht sensibler, statt plakativ angegangen werden könnte. Vielleicht ist unter den Schülern sogar ein missbrauchtes Kind ... Du hast selbst gesagt, dass viel geschwiegen wird. Auch die Opfer schweigen, aus Gründen, die in deiner Geschichte nicht vorkommen. Neben der stilistischen Kritik kommen inhaltliche Fragen dazu und ich habe keine Lust einen Autoren als gesellschaftsreinigend zu huldigen, nur weil er Bücher schreibt, denn wer weiß welche literarischen Ergüsse vom Autoren noch authentisch und nicht lektoriert sind? Warum wurde denn diese Geschichte noch nicht veröffentlicht? Nach deinem Profil tauchst du hier lieber Falky dann und wann auf ... Aber ob du ein begnadeter Schrifststeller bist, kann ich anhand deiner Geschichte nicht festmachen. Nur Mut oute dich ... :)

 

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