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Alles, worauf wir hoffen dürfen
"Ist ja ein cooles Tattoo, das Sie da haben", sagte Bremer und starrte mir auf die Titten. Mein Blick streifte die schwarzblaue Tänzerin, die sich über meinen Unterarm schlängelte.
"Das ist Kali", sagte ich. "Sie schneidet Wichsern den Schwanz ab und stopft ihnen damit das Maul."
Bremer zuckte zusammen, rückte seine Brille zurecht und wandte sich zur Tür. Beim Rausgehen murmelte er: "Die Test-Animation muss bis Dienstschluss fertig sein. Der Chef wartet ... "
Steven drehte sich zu mir herum und grinste. "Bist ja in Hochform heute."
Ich zuckte mit den Schultern und beschäftigte mich wieder mit der Kamera, die den Landschaftsgarten überfliegen sollte, an dem die Planer unseres Büros zur Zeit arbeiteten.
"Bist du nervös wegen heute Abend?", fragte Steven.
"Bull! Bin nicht mehr siebzehn."
Steven lehnte sich zurück, schaute aus dem Fenster und sagte: "Naja, wenn ich ein Date habe, fühl´ ich mich wie siebzehn."
"Hab kein Date", erwiderte ich.
"Also, du triffst den Typen doch heute. Für mich ist das ein Date."
Ich wusste, Steven würde es nicht dabei belassen. Das tat er nie.
"Oh Mann, was würde ich für einen richtig guten Fick geben", sagte er.
Als er zu mir herüberblickte und meinen Mittelfinger sah, winkte er ab. "Nee, ernsthaft, Sarah. Wenn du so alt bist wie ich, wirst du sehen, dass son bisschen Glück alles ist, worauf wir hoffen dürfen."
Kurz nach acht saß ich mit Jane in der Straßenbahn.
"Ist ne Riesenchance für die Jungs", sagte sie und spuckte auf ihre DocMartens. "Der Laden wird dicht sein, wegen First Blood."
"Ja, aber viele werden erst zu den Hauptacts kommen."
"Nah, die haben so viel Promo gemacht", beharrte Jane. Sie wischte mit einem Taschentuch über die Stahlkappen. Nachdem sie fertig war, betrachtete sie mich und sagte mit einem fiesen Lächeln: "Und lässt du ihn gleich ran?"
"Jetzt gehst du mir damit auch auf den Sack." Ich schaute aus dem Fenster. "Und du?"
"Also, falls Mike heute will ... "
Wie könnte er nicht wollen. Jane war unwiderstehlich.
Im Asylum roch es nach Bier, Schweiß und Kotze. Die Zeiten des Straight Edge waren lange vorbei, auch wenn es hier immer noch ein paar Kids geben mochte, die die Ideale von Minor Threat und Youth of Today hochhielten.
"Lass uns nach hinten gehen", schrie Jane gegen den wüsten Sound, der aus den Bühnenboxen stampfte und zwängte sich durch die wartende Menge. Ich folgte ihr.
Auch Backstage war es brechend voll. Musiker fummelten an ihren Instrumenten, und Leute von der Technik schleppten Equipment hin und her. Jane zog mich zu einer Tür, auf die jemand - scheinbar ironiefrei – mit einem Edding VIP geschrieben hatte. Als Jane die Tür öffnete, brandete uns eine Wand aus Dope-Smog entgegen.
Wir betraten die VIP-Räume und sahen uns um. Auf einem Sofa hingen die beiden Typen herum, wegen denen wir hier waren.
"Hey Mike", rief Jane und setzte sich gleich in Bewegung. Mike stemmte sich hoch und umarmte Jane. Sie küssten sich, als könnten sie das Ende der Show nicht abwarten. Vom Sofa her winkte Christian mir zu. Ich schob mich an Mike und Jane vorbei und ließ mich neben ihm in die Polster fallen.
"Hey Mann", sagte ich. "Wie geht´s?"
"Mir ist ein bisschen schlecht", antwortete er.
"Lampenfieber?"
Christian nickte und lächelte verlegen. "Verdammt viele Leute hier, heute Abend."
Als Christian eine Stunde später im Donnern der Doublebass die Bühne betrat, war von dieser Schüchternheit nichts mehr zu spüren. Eine Flasche Bier in der Hand stand ich an der Bar in der Nähe des Ausgangs und beobachtete, wie er das Mikro vor die Lippen hob, nachdem das Dröhnen der Gitarren auch den Leuten draußen auf der Straße signalisiert hatte, dass die Show jetzt losging. Janes rotes Kopftuch flackerte weiter vorn auf dem Seitenrang im Strobolicht, und ich lachte bei dem Gedanken, wie begierig sie jetzt zweifellos Mikes einsamen Kampf hinter dem Schlagzeug verfolgte.
Die ersten Worte, die Christian der Menge vor der Stage entgegenbrüllte waren: No hands to touch - ein Schauer lief zwischen meinen Schulterblättern empor, und ich sah, wie eine Gruppe von etwa zwanzig Leuten augenblicklich mit dem Fight begann. Ein Cover am Anfang des Gigs war keine schlechte Idee.
Auch wenn ich es Jane oder sonst jemandem gegenüber nie zugegeben hätte, hielt ich mich seit vielen Jahren an den Grundsatz, nie beim ersten Song den Moshpit zu betreten. Wer noch nicht einmal sechzig Kilo wog, musste mit den Wölfen heulen. Wir waren nicht mehr in den Achtzigern. Auf den Hardcore-Konzerten begnügten sich die Jungs nicht mehr damit, einander ein wenig herum zu schubsen.
Ich nahm ein Schluck von meinem Bier und genoss den Sound, der sich schwer, rau und erdig aus den Boxen wälzte. Als das Tempo beim dritten oder vierten Song anzog, stellte ich die Flasche auf den Tresen und bahnte mir meinen Weg nach vorn.
Mittlerweile hatte alle Leute vor der Stage der Wahnsinn gepackt. Ich hob die Hände und stürzte mich in die Prügelei. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mehrere Typen auf die Bühne geklettert waren und nun mit Anlauf in die Menge sprangen. Neben mir ging ein Punk zu Boden, als ihm ein Stagediver mit angezogenen Knien in die Seite krachte. Ich schlug mit dem Ellbogen nach einem Fettwanst der von außen in den Moshpit trat und erwischte ihn gleich übel. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht schrie mir durch das Getümmel etwas zu. In dem Moment, als er mich an den Schultern packte, ging eine Stoßwelle durch den Mob, und zwanzig oder mehr Leute wälzten sich am Boden. Ich kam gerade rechtzeitig auf die Beine, um einem Jumper auszuweichen, der einen Satz vom Seitenrang machte.
Ich sah ein Mädchen, das sich einige Meter entfernt in die Schlägerei mischte, und ich versuchte, mich mit Stoßen und Treten zu ihr durchzukämpfen, aber es war zwecklos, denn ich flog wie eine Puppe hin und her. Oben auf der Bühne stand Christian. Sein Gebrülle war über mir, vor und hinter mir, in mir. Ich biss die Zähne zusammen und warf mich in eine Gruppe von halbnackten Typen, die wütend das Zentrum des Moshpits verteidigten. Aufpassen! Lass dir nicht direkt auf die Fresse schlagen. Die fehlende Ecke vom Schneidezahn, die du deinem Scheißvater verdankst, reicht. Die Arme heben. Die Titten schützen. Schlag zu!
Ich prallte gegen einen schweißnassen Oberkörper und stieß mit dem Knie zu, so kräftig wie ich konnte. Eine Hand traf mich am Hals, und eine Sekunde später lag ich erneut am Boden. Ich zog die Beine an und schützte meinen Kopf mit den Armen. Über mir wogte die Masse prügelnder Gestalten, und wie aus großer Höhe stürzten mehrere Stagediver herab. Irgendein Typ packte mich am Arm, riss mich hoch und versetzte mir einen harten Stoß. Ich stolperte ein paar Schritte orientierungslos herum und rettete mich schließlich mit ein paar Faustschlägen aus dem Mob.
Ich beugte mich über die Kloschüssel, strich mein Haar zurück und kotzte ausgiebig. Dann spuckte ich noch einmal und drückte die Spültaste. Kurz darauf spritzte ich mir über dem Waschbecken Wasser ins Gesicht. Ich hörte, dass auf der Bühne First Blood loslegten. Selbst hier in den Toiletten bebte der Boden. Als ich mir den Mund spülte, sah ich, dass Blut auf die Keramik tropfte. Gut, dass es hier keinen Spiegel gab.
In diesem Moment griff jemand von hinten unter meinen Armen durch und presste sich an mich. Ich stieß mit dem Ellbogen zu, fuhr herum und sah gerade noch, wie Mike ausholte. Der Hieb traf mich mit solcher Wucht, dass ich gegen die Wand prallte. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte Mike mich in eine Kabine gestoßen. Er presste eine Hand auf meinen Mund und versetzte mir einen Schlag in den Bauch, der mir die Luft nahm. Ein weiterer Schlag donnerte dumpf gegen meine Schläfe.
Als ich wieder zu mir kam, wusste ich sofort, was los war. Meine Jeans hing mir in den Kniekehlen, und Mike drückte mich, die Hand auf meinem Mund, an die Wand. In diesem Moment tauchte der schwachsinnige Gedanke auf: Christian wird dich retten!
Doch Christian rettete mich nicht. Verzweifelt schlug ich ein letztes Mal zu. Mein Ellbogen traf Mike so heftig am Kinn, dass ich hörte, wie seine Zähne knirschten. Ich zwängte mich an ihm vorbei, riss die Tür der Kabine auf, taumelte hinaus und schlug der Länge nach hin.
Mike hatte sich wieder hochgerappelt. Er stürzte sich auf mich, und eine Sekunde später kniete er über mir. In diesem Moment stand Jane in der Tür.
"Was ... " Sie brauchte nur einen Augenblick, um zu verstehen, was vor sich ging. Ich sah, wie sie Mike ihre roten Boots ins Gesicht schmetterte. Er kippte seitlich von mir herunter und blieb liegen.
Am nächsten Tag steckte Bremer seinen Kopf durch die Tür. Er schaute zu mir herüber und schien unschlüssig, ob er herein kommen sollte.
"Gute Arbeit", sagte er schließlich. "Soll ich vom Chef bestellen. Die Probe-Animation ist klasse. Können wir so machen."
Ich nickte und wandte mich dann wieder meiner Kamera zu, die im Tiefflug über Kastanienbäume strich.
all sympathy has been forgotten all affection denied
I perceive nothing I perceive no one darkness is peace
silence brings me peace my heart is closed no one has the key
recluse, unbroken