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Alliterationen - Vaterpflichten
Zauberhafter Zoo, denke ich, während ich meine Tochter am Kartenhäuschen vorbei schiebe. Er schafft es immer wieder, mich zu fesseln, genauso wie sie. Es nieselt, der Tiergarten ist fast leer. Ich wäre lieber an einem sonnigen Tag gegangen, aber mir bleibt ja keine Wahl.
„Sieh nur das Yak, Yvonne!“, versuche ich, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Vergeblich. Sie stürmt schon in Richtung Aquarium. Immer das Gleiche mit dem Kind.
„Xolot!“ X-mal habe ich sie schon verbessert, doch sie kann das fremde Wort noch immer nicht aussprechen. Ihre Hände hinterlassen Fettflecken an der Scheibe des Beckens mit dem kaulquappenähnlichen Tier.
„Axolotl“, korrigiere ich sie und hebe sie hoch. Ihr weicher warmer Körper drückt sich an mich, ihr Haar kitzelt meine Nase. Vor vier Monaten habe ich sie das erste Mal wieder gesehen, sie ist so gewachsen, in den Jahren. Wie alt ist sie jetzt, fünf? Ich kanns mir einfach nicht merken. Sie musste sich erst wieder an mich gewöhnen. Ich hatte solche Angst gehabt, dass sie mich unter Umständen sogar hassen könnte, weil ich so lange fort war. „Sie mag fremde Leute nicht besonders“, sagte Maria.
Doch inzwischen kennt sie mich gut genug, um mir zu vertrauen. Treu trottet sie hinter mir her zu dem großen Becken im Zentrum des Aquariums.
„Süß!“ Seehunde tummeln sich im extra für sie gekühlten Wasser. Auf der Plattform rechts reckt sich eine Robbe nach dem Fisch in der Hand des Tierpflegers. Weit beugt sich Yvonne über den Beckenrand, ich erwische sie gerade noch am Kragen, bevor sie ins Wasser plumpst. Maria würde mich umbringen, wenn ihr etwas passiert. Sie ist sowieso immer misstrauisch, wenn ich sie auf einen Ausflug mitnehme.
„Du kannst doch nicht mal auf dich selber aufpassen“, sagte sie heute morgen. Wir standen in ihrer kleinen Küche. Die ganze Wohnung duftete nach Quarkkuchen.
„Quatsch“, entgegnete ich. „Ich bin vorsichtig, versprochen!“ Yvonne unterbrach den Streit, der sich anbahnte. Mit einem fröhlichen „Papa“ preschte sie in die Küche und warf sich in meine Arme.
Ich betrachte meine Tochter zärtlich. Natürlich kann ich auf sie aufpassen. Ich bin doch nicht zurückgeblieben. Sie starrt immer noch auf die Seehunde. Mein Blick wandert durch das Aquarium.
Auf der Galerie entdecke ich eine junge Frau mit eine blonden Haarmähne. Sie hat einen Jungen dabei, etwa in Yvonnes Alter. Die beiden stehen vor einem Becken mit Ohrenquallen. Ohne nachzudenken greife ich nach der Hand meiner Tochter und ziehe sie von den Seehunden fort. Die Frau dort oben wirkt freundlich, und bestimmt macht ein Zoobesuch auch Yvonne mehr Spaß, wenn sie Gesellschaft hat, sie ist doch immer so alleine, das hat Maria mir erzählt.
„Komm, lass uns nach oben gehen. Sieh mal, der Junge, sieht der nicht nett aus?“
„Ich mag nicht, ich will noch bei den Robben bleiben!“ Sie zieht ihre Hand aus meiner und läuft zum Becken zurück.
„Ach, zier dich doch nicht so!“ ich werde ärgerlich, weil meine Tochter solche Angst vor Fremden hat. Wieder greife ich nach ihrer Hand, wieder reißt sie sich los.
„Mama!“
Maria, denke ich, immer ruft sie nach Maria. Als gäbe es mich gar nicht in ihrem Leben.
„Lass das!“, fauche ich sie an. Sofort beginnt sie zu heulen. Hilflos stehe ich da und sehe zu, wie ihr Tränen über die Wangen kullern. Kinderschmerz, es fällt mir schwer, ihn zu verstehen.
„Was ist denn los jetzt? Jedes andere Kind wäre froh über etwas Gesellschaft“, herrsche ich sie an. Sie weint nur noch lauter. Der Tierpfleger sieht zu mir hinüber. Die Frau auch. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Ich möchte gehen, bevor noch einer von denen denkt, dass ich meine Tochter misshandele.
„Immer ich“, brumme ich und stapfe Richtung Ausgang. Sie wird mir schon nachlaufen.
Nach der Dämmerung im Aquarium erscheint mir die Umgebung draußen ungewöhnlich hell. Hände in den Taschen schlendere ich zum nächsten Gehege und warte, dass meine Tochter endlich nachkommt. Gelbbraune Giraffen rupfen Heu aus einem Korb. Ein paar freche Finken hüpfen zwischen ihnen am Boden herum.
Ein erschütternder Schrei zerreißt die Luft. Er kommt aus dem Aquarium. Yvonne! Ich fahre herum und renne zurück ins Gebäude. Weitere Schreie und verzweifeltes Platschen empfängt mich. Meine Tochter muss durch die Gitterstäbe geschlüpft sein, die das Seehundsbecken absperren. Jetzt zappelt sie in dem eisigen Wasser, schreit, geht unter, kommt wieder hoch und schreit weiter. Man kann nicht erkennen, was Tränen auf ihrem Gesicht sind, und was Salzwasser.
Ich haste zum Becken. Meine Tochter, mein kleines Mädchen. Der Tierpfleger steht wie gebannt, bewegt sich nicht und murmelt immer nur „Jesus Christ.“ Centstücke auf dem Beckengrund springen mir ins Auge, während ich mich durch die Absperrung schlängele. Seltsam, was für Details einem auffallen.
Ich beuge mich weit vor und strecke die Arme nach meiner Tochter aus. Das Eiswasser brennt, beißt sich in meine Haut, als ich die Hände hineintauche. Sie schreit nicht mehr und strampelt nur noch schwach. Endlich bekomme ich ihren Jackenkragen zu fassen und ziehe sie an Land. Sie bewegt sich nicht, als ich sie in meine abgestorbenen Arme schließe.
„Hol einen Arzt!“, schreie ich den Tierpfleger an und muss im gleichen Moment daran denken, dass mich Maria nie wieder mit Yvonne allein lassen wird.