- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Alltag
Herablassende Blicke mustern mich. Unwillig gebe ich mich ihnen hin und stelle eine Beute dar. Die Beute derer, die mich zerfleischen werden, jeder einzelne will ein Stückchen von mir, von meiner Kraft, um ihr Ego zufrieden zu stellen. Oft werden die Blicke zu Schlägen, führen körperliche und seelische Schäden herbei, prägen dich. Der Boden ist braun. So braun wie all die Böden zuvor, die ich anstarren musste um nicht in diese Augen zu blicken. Augen, die mich einfach nur ansehen und ich weiß im selben Moment was jener, dem diese hämisch grinsenden Augen gehören denkt. Grinsend? Ja. Diese Augen grinsen. Sie wollen hypnotisieren und dir alles nehmen, bis du nur noch wie ein Schatten da stehst, der niemandem gehört und auf den sie irgendwann treten werden ohne es zu merken.
Die Schulglocke läutet. Ich weiß was das bedeutet. Es war von Anfang an so und es wird so lange andauern, bis ich dieses letzte Scheißjahr in der Schule durchgestanden habe. So wie jeden Tag, strecke ich Vincent ein paar Münzen hin, die er daraufhin an sich nimmt. „Brav so, Annabelle“, sagt er zu mir und trottet mit seinen Kumpanen davon. Er gibt mir immer Mädchennamen, da ich „Madl“ mit Nachnamen heiße. Langsam sollte ich mich an die dreiste Rücksichtslosigkeit meiner Klassenkameraden gewöhnt haben, jedoch habe ich schon seit langem diese Wut in mir. Sie lässt mich nicht los und zerrt so lange an mir, bis ich mir vornehme Vincent am nächsten Tag die Meinung zu sagen, nur um am folgenden Morgen dieses Vorhaben wieder zu verschieben. Jedes Mal ist es so. Wahrscheinlich sollte ich endlich einsehen, dass ich ein Loser bin. Ein blasser, kleiner, unmuskulöser Volltrottel, der es den Menschen auf dieser Welt nur erleichtert an Macht zu kommen.
Es gibt viele wie mich an der Schule. Anna. In der Zahnspange, die an ihren hellgelben Zähnen befestigt ist, findet man alles Mögliche. Von ihrem gestrigen Abendessen bis hin zu der Milchschnitte, die sie jeden Tag nach dem Klingeln unappetitlich verputzt.
Martin. Es ist unmöglich in seiner Kleidergröße etwas Passendes zu finden. Von seinem kugelrunden Bauch ist bei jedem seiner T-Shirts etwas zu sehen. Das Gerücht einer Scheinschwangerschaft ist im Umlauf und lässt Tussen kichern und die Herzen der Mobbing – Täter höher schlagen.
Beide wissen sie, dass sie keineswegs einen Teil der Gesellschaft darstellen, jedoch lassen sie es sich nicht anmerken. Sie sitzen allein an ihren Tischen, verspeisen ihr Jausenbrot und tun so, als merkten sie nicht, was sich hinter ihren Rücken abspielt. Was rede ich da eigentlich? Ich bin der Letzte, der sich trauen würde „den Stärkeren“ die Stirn zu bieten. Sie würden mich zermalmen und wenn sie mit mir fertig wären, würden sie mich wie einen geschmacklosen Kaugummi ausspucken. Der Zorn von drei Jahren Unterdrückung kommt in mit hoch. Wie oft habe ich Geld aus der Handtasche meiner Mutter nehmen müssen um es Vincent auszuhändigen? Wie viele Male wurde ich mit diesen Blicken gepeinigt? Wie kann man das bloß zulassen? Meine Fäuste liegen geballt auf dem Pult vor mir. Ich blicke Vincent und seinen Freunden nach. Plötzlich rufe ich: „Hey Vincent, weißt du was? Du bist nichts weiter als ein Angeber! Was wärst du denn ohne deine große Klappe und deine Kumpels, die für dich die Drecksarbeit machen?“ Von diesem Schritt war ich selbst ganz erstaunt. Hatte ich das wirklich gesagt? Binnen weniger Sekunden begreife ich, dass ich es wirklich gesagt hatte und, dass dies ein gewaltiger Fehler war. Vincent und sein Gefolge bleiben stehen. Langsam dreht er sich um und setzt sein fiesestes Grinsen auf. Gelassen geht er einen Schritt näher zu mir und bleibt eine Sekunde lang reglos stehen. Auf einmal spricht er. Er brüllt nicht, wie ich es erwartet hätte, doch er spricht mit einem gehässigen Unterton, der mir zu verstehen gibt, wie er es meint: „Wer glaubst du denn, wer du bist, Lisa? Du bist nur ein kleines Schulmädchen, das mir brav, genauso wie die anderen, Geld gibt. Im Gegenzug zerstöre ich nicht dein hübsches kleines Gesichtchen…“ Er lächelt bitter-süß, geht einen Schritt auf mich zu und fasst mir mit einer Hand fest an die Schulter. Seine Fingernägel bohren sich in meine Haut und er sieht mich mit seinem schmutzigen Gesicht an. Als er meinen verschreckten Gesichtsausdruck bemerkt, redet er weiter: „Na, Emma? Bist du nun doch nicht mehr so stark, wie du geglaubt hast?“ Sein Griff wird fester und ich verziehe vor Schmerzen mein Gesicht, gebe aber keinen Ton von mir. „Du bist bloß ein Häufchen Dreck, Andreas!“ Ich glaube das war das erste Mal, dass er mich mit meinem richtigen Namen ansprach. Mit diesem Satz stößt er mich weg und wendet sich seinen Freunden zu. Sie gehen.
Ich bleibe sitzen und reibe mir meine Schulter, die vor Schmerzen pocht. Vielleicht ist es doch besser, als geschmackloser Kaugummi in einer Ecke zu kleben und den letzten Geschmack, der an dir haftet, den Starken zu geben.