Alpha und Omega
Dunkelheit. Warmes Wasser umspülte sanft meinen Körper. Leise Geräusche
schienen von überall her zukommen. Tiere schrien, Wellen brachen sich und Wind
wehte sacht über mich hinweg. Ich öffnete die Augen. Die Welt blendete mich so
sehr, ich mußte die Augen sofort wieder vor der leuchtenden Pracht der Natur
verschließen. Lange lag ich so da, auf dem Strand in der Brandung und ich
gewöhnte mich langsam an die herrliche Vielfalt um mich herum.
Schließlich war ich bereit, den ersten Schritt in meine vielversprechende Zukunft zu
wagen. Ich mußte meine gesamte Kraft aufbringen, um meinen jungen, bisher
unbenutzten Körper langsam an die Fortbewegung an Land zu gewöhnen. Die ersten Schritte auf zwei Beinen fielen mir schwer, und ich fiel einige Male auf den weichen sandigen Untergrund. Aber ich gab nicht auf. Denn wollte ich überleben, mußte ich frühzeitig alle notwendigen Fähigkeiten erwerben. Das wußte ich instinktiv. Die herrliche, warme Sonne hatte schon den Großteil ihrer Himmelsbahn hinter sich gelassen, als ich müde und erschöpft mit langsamen und unsicheren Schritten den Strand verließ und auf den Wald zuging. Die erste Nacht stand mir bevor, und ich hatte Hunger. Die Blätter der Pflanzen am Waldrand schmeckten mir nicht, voller Ekel spuckte ich sie im hohen Bogen aus. Die großen roten Früchte hingegen waren mir wie ein Festmahl und ich aß bis weit in den Abend hinein. Der herrliche Sonnenuntergang brachte eine Kühle, die meinen ungeschützten Körper zittern ließ. Gesättigt, aber frierend, suchte ich Schutz in einem Busch und ich fand lange keinen Schlaf. Die unbekannten Geräusche aus dem Wald und die Eindrücke des ersten Tages ließen mich nicht zu Ruhe kommen. Erst in der Morgendämmerung erwies mir der ersehnte Schlaf seine erholsame Gnade.
Am nächsten Tag erwachte ich gegen Mittag und fühlte mich ausgeruht und bereit zu weiteren Taten. Der Strand bot mir nun keine Geheimnisse mehr und ich betrat den geheimnisvollen Wald. Ich benutzte dazu einen anscheinend von Tieren angelegten Pfad. Er führte mich durch den dichten Dschungel an einen kleinen, leicht dahin plätschernden Fluß. Voller Freude ließ ich mich auf die Knie fallen und trank in vollen Zügen das Wasser. Hin und wieder sah ich darin Fische hin- und herschwimmen. Mit plötzlichem Entschluß packte ich einen mit der Hand und zog ihn auf das Ufer. Der Fisch zappelte wie wild und ich hatte Mühe, ihn festzuhalten. Doch schließlich starb er und ich biß in ihm hinein. Er schmeckte mir nicht, doch ich beschloß, den Rest des Fisches aufzubewahren. Am anderen Ufer des Flusses erblickte ich eine kleine Lichtung, auf der ein einziger, riesiger Baum stand. Dieser Baum mußte uralt sein. Der Stamm war von Rissen und Furchen durchzogen und er war mindestens zehnmal so dick wie ich. Die mächtig ausladende Krone verlieh dem Baum etwas majestätisches und ich fühlte mich von ihm magisch angezogen. Ich durchwatete den Fluß und ging auf den Königsbaum zu. Ich berührte die Rinde leicht mit meinen Fingerspitzen und fuhr langsam eine besonders große Furche entlang. Auf den anderen Seite des Baumes erlebte ich eine freudige Überraschung. Der Baum war innen hohl, und bot so genug Platz, daß er mir als Lagerstatt dienen konnte. Diese freudige Entdeckung hob meine Stimmung noch um ein Vielfaches und ich begann sofort, Blätter und Gräser zur Polsterung meines neuen Domizils zu suchen. Außerdem hielt ich nach Nahrung Ausschau und lernte bald, Eßbares von nicht Eßbarem zu unterscheiden. Gegen Abend ging ich wieder zurück an das Meer, um mir den Sonnenuntergang anzusehen. Ich war nun besser gegen die Widrigkeiten der Natur gewappnet und konnte dennoch ihre Schönheit in vollen Zügen genießen.
In den folgenden Tagen erlernte ich weiterhin viele nützlich Fähigkeiten, zum Beispiel gewann ich Informationen über die mit mir im Wald lebenden Tiere durch
Beobachtung. Ich fing an, Bögen um gefährliche Raubtiere wie Panther und
Leoparden zu machen, auch Schlangen erschienen mir hinterlistig und gefährlich. Ich fand einen großen Stock, mit dem ich aufdringliche, aber harmlose Affen vertreiben konnte, außerdem erlegte ich mit dieser Waffe mehrere andere Tiere, darunter ein Faultier. Doch all das Fleisch schmeckte mir nicht, und ich hielt mich an Früchte und bestimmte Wurzeln. Ich machte tagsüber ausgedehnte Streifzüge durch den Dschungel und erkundete so Stück für Stück die Umgebung.
So gelangte ich auch in ein Gebiet, wo die Erde und die Bäume schwarz waren. Die Luft stank nach Angst und Gefahr, kein Tier war zu sehen. Die Natur kämpfte um ihr Überleben, daß spürte ich. Langsam und vorsichtig ging ich weiter, der Ursache dicht auf der Spur. Und dann sah ich es. Feuer. Es loderte heiß und hoch in den Himmel. Beißender Qualm wehte mir entgegen und ich bekam kaum noch Luft. Hastig versuchte ich, Den Flammen zu entrinnen und es gelang mir, den Abstand zwischen mir und dem Feuer zu vergrößern. In sicherer Entfernung fand ich etwas Glut, welche ich mitnehmen wollte, denn ich hatte eine Idee. In sicherem Abstand zu dem Königsbaum errichtete ich meine erste Feuerstelle und es gelang mir, mit Hilfe der Glut ein Feuer zu entzünden. Nun hatte ich Wärme auch in der Nacht und ich mußte nur dafür sorgen, daß das Feuer nicht ausging.
Bald darauf bemerkte ich, daß Fleisch, über dem Feuer zubereitet, genießbar war. Ich legte mir ein kleines Arsenal von Waffen für die Jagd zu. Der Fortschritt meiner Entwicklung ermöglichte mir, meine Speisekarte zu bereichern, und der Komfort meiner Behausung stieg. Doch ich vergaß niemals meinen allabendlichen Weg ans Meer, um den Sonnenuntergang zu genießen.
Eines Abends ging ich den vertrauten Weg ans Meer und da lag sie. Ich fühlte mich
instinktiv zu ihr hingezogen, denn ich erkannte in ihr eine Angehörige meiner
Spezies. Ein weiblicher Mensch, eine Frau. Sie war das erste andere menschliche
Wesen, das ich je zu Gesicht bekommen hatte und sie war wunderschön. Sie lag mit geschlossenen Augen im Sand in der Brandung, und ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen. Ich beobachtete sie eine ganze Weile und schlich mich schließlich leise an sie heran. Sie atmete leise, bewegte sich aber sonst nicht. Ich hob sie auf und brachte sie zu meinem Königsbaum. Ich bettete sie in die wärmsten Blätter und Moose und beobachtete sie, bis der Schlaf auch mich übermannte. Am nächsten Morgen, während ich für Nachschub an Brennholz sorgte, wurde sie wach und kroch auf allen Vieren aus dem Unterschlupf. Als ich sie sah, ließ ich das Holz fallen und rannte ein Paar Schritte auf sie zu. Doch sie erschrak und wich zurück, diese Reaktion ließ mich meinen Schritt verlangsamen und vorsichtig näherte ich mich ihr. Ihre anfängliche Angst wich langsam einem Anflug von Neugierde. Sie versuchte, genau so zu gehen wie ich, doch sie stürzte bei dem ersten Versuch und ich fing sie auf und half ihr, die ersten Schritte zu machen.
Dank meiner Hilfe lernte sie am ersten Tag fast alles, wofür ich viel Zeit benötigt
hatte. Wir verständigten uns mit Hilfe von Händen, Füßen und Gegenständen. Sie
sorgte dafür, daß uns das Feuer nicht ausging, und ich verwendete meine Zeit für die Jagd. Meine Technik hatte ich durch die Kunst des Fallenstellens erweitern können, und ich brachte reiche Beute heim. An diesem Tag ging ich nicht zum Meer, sondern ich kümmerte mich um meine Frau und der Abend verging wie im Flug. Als wir uns niederlegten, betrachtete ich ihren schönen Körper im Licht des flackernden Feuers und der Trieb forderte sein Recht. Ich berührte sie, wollte nach ihr greifen um den Geschlechtsakt zu vollziehen, aber sie stieß nach mir und schob mich zur Seite. Ich wollte mich auf sie legen, um mein Recht mit Gewalt einzufordern, aber sie schaffte es, sich unter mir hervor zu winden und sich zu befreien. Sie stand auf und wollte gehen, doch ich sprang erregt und wütend auf und griff nach ihr. Sie schlug mich und wollte sich aus meinem Griff befreien. In blinder Wut griff ich nach einer von mir aus einem Stein und einem Stock gefertigten Axt und schlug sie nieder. Sie fiel und stand nicht wieder auf, Blut sickerte aus einer Wunde am Kopf. Ich hatte sie erschlagen.
Die ganze restliche Nacht lief ich ziellos umher und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schuldgefühle plagten mich und ich konnte den toten Körper mit dem Blut nicht mehr sehen. Schließlich, in der Stunde der größten Qual, faßte ich einen Entschluß. Ich grub eine tiefe Grube, in der ich ihre Leiche zur ewigen Ruhe bettete.
Dann nutzte ich die restliche Glut, die mir noch geblieben war, um meinen
besudelten Königsbaum einzuäschern. Ich stand lange vor dem Grab und dem
brennenden Baum, bis gegen Abend nur noch ein verkohlter Stamm als Mahnmal in den Himmel ragte. Und als die Sonne den Horizont berührte, ging ich zum Strand.
Ich sah zum letzten Mal den feurigen, roten Ball am Himmel versinken und ich dachte noch ein letztes Mal an sie. Dann schloß ich die Augen und ging langsam in das Wasser hinein. Die Geräusche um mich herum wurden leiser. Tiere verstummten, Wellen verschwanden und der Wind legte sich. Kaltes Wasser umspülte sanft meinen Körper. Dunkelheit.
[Beitrag editiert von: Chronos am 15.11.2001 um 14:02]