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Als das Blut gefror
Drüben in der Hölle ging die Sonne unter.
Am Strand wurden die Schatten immer länger. Sie lösten sich vom Hintergrund und wanderten über den Schnee. Sie huschten aufeinander zu, verschmolzen und trennten sich, liefen wieder über das Eis bis zum Wasser und zurück.
Bald verschluckte sie die Nacht.
„Was machen wir, wenn es ganz zufriert?", fragte Silke, die mit Holger vom Strand der kleinen Insel aus das nahe Festland beobachtete.
„Nix wie weg", sagte er und umklammerte sein Sturmgewehr noch ein wenig fester.
„Hoffentlich merken wir rechtzeitig, wenn sie rüber kommen."
Er sah sie an. Ihr Atem kam in kleinen Wölkchen aus der Nase und bildete Reif auf ein paar braunen Haaren, die unter ihrer Mütze hervor schauten. Heute war es wieder kälter geworden. Seit Tagen schon sank die Temperatur.
Er blickte aufs Meer. Die Hölle fror zu und er war mitten drin.
Seit Tagen wartete er auf eine Gelegenheit, mit Silke zu sprechen, aber nun wusste er nicht, wie er anfangen sollte. Er dachte an die Monate, in denen sie allein unterwegs waren. Sie hatte ihn gerettet.
Eine Woche war er damals draußen und schon saß er wieder in der Scheiße. Seine alten Kumpel hatten ihn auf den Kiez geschleift und richtig abgefüllt. Natürlich gab es noch vor zwölf die erste Schlägerei. In einem Club gingen die Einrichtung und ein paar Gäste zu Bruch und er, zu betrunken zum Weglaufen, landete bei der Polizei.
Glücklicherweise versank am nächsten Morgen die Welt im Chaos und man vergaß ihn in der Ausnüchterungszelle.
Irgendwann kam Silke auf der Suche nach einer Waffe vorbei und ließ ihn frei. Er war kurz vorm Verdursten und sah in ihr so etwas wie einen persönlichen Engel.
Seitdem passte er auf sie auf.
„Du weißt, dass Björn dich nur runter zieht", sagte er schließlich.
„Fang nicht wieder damit an! Er hat versprochen, dass er sich ändert."
„Da wär er der erste!"
„Ist alles nicht so einfach. Er hat viel durchgemacht", sie sah auf ihre Wanderstiefel.
„Haben wir alle.“
Er sah sie jetzt wieder an. In ihren grünen Augen spiegelte sich der Sonnenuntergang.
„Ich will nur nicht, dass du vor die Hunde gehst!"
„Ich kann jetzt nicht Schluss machen! Das kriegt er nicht auf die Reihe!"
Darauf sagte er nichts mehr. Es hatte keinen Sinn, das kannte er schon. Sie schauten noch auf die schmale Wasserfläche im Packeis bis die Sonne ganz verschwunden war und machten sich auf den Rückweg zum Haus.
Thorsten drehte am Funkgerät die Kanäle durch: „Hallo, kann mich jemand hören?"
Wie jeden Abend rief er seine Frage in das weiße Rauschen. Wie jeden Abend erhielt er keine Antwort.
Als Silke und Holger herein kamen und sich den Schnee von den Füßen stampften, legte er das Mikro weg und schaute auf: „Wie sieht's aus?"
„Es werden mehr."
Holger zog sich die Mütze von den Haarstoppeln, stellte sein Gewehr neben die Tür und machte sich daran, die Stiefel auszuziehen.
„Und bei dir?"
„Wieder nichts, langsam glaube ich, wir sind wirklich die einzigen", antwortete Thorsten.
Holger machte sich Sorgen um ihn. Als sie im Herbst hier ankamen, war er schon lange da. Seine Frau und er hatten in der Gegend ihre Flitterwochen verbracht. Sie starb gleich am Anfang und er verschanzte sich seitdem hier. Deshalb fühlte er sich für alle anderen hier verantwortlich.
„Ach was", sagte Silke, „kann doch gar nicht sein. Wahrscheinlich hat das kleine Mistding nur nicht genug Saft."
„Haben sich bestimmt alle irgendwo versteckt", meinte Holger auf dem Weg in die Küche.
„Bring mir'n Snickers mit!", rief Silke. „Ich hab Hunger wie Sau."
In dem Moment kamen Björn und Sandra die Treppe herunter. Als Sandra Silke sah, schluckte sie ihr Kichern herunter und senkte den Kopf. Björn grinste nur und schlenderte auf seine Freundin zu. Als sie sich wegdrehen wollte, hielt er sie an der Hüfte fest: „Was denn Baby? Nun guck nich so! Wir haben nur'n bisschen Quatsch gemacht."
„Quatsch! Du kannst mich mal! Kaum bin ich aus dem Haus, fängst du an, an der Schlampe rum zu baggern!"
„Hey!", nörgelte Sandra, die sich auf dem Sofa zusammenrollte.
„Halt du dein Maul!"
Silke drehte sich weg und lief die Treppe rauf.
Björn wandte sich an Sandra und verdrehte die Augen, bevor er Silke hinterher lief: „Nun komm schon Baby... Is doch gar nix gewesen!"
„Das Meer friert zu“, sagte Holger, als er aus der Küche kam.
„Wie lange noch?“, fragte Thorsten, ohne vom Funkgerät aufzusehen.
„Eine Woche oder so.“ Er ließ sich in einen der beiden braunen Ledersessel vor dem Holzofen fallen. „Wenn es weiter so kalt bleibt.“
Thorsten lehnte sich zurück und überlegte kurz.
„Ich werde morgen früh als erstes nach dem Boot sehen.“
„Ich komme mit.“
„Nein, lass mal gut sein. Ich lauf ganz gerne mal allein durch den Schnee.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Und dann packen wir alles zusammen.“
„Ich will hier nicht weg“, meldete sich Sandra. Sie saß nun auf dem Sofa, die Beine auf dem Tisch und krauelte sich die langen roten Haare. Konnte glatt noch als Teenager durchgehen.
„Glaub nicht, dass das jemanden interessiert“, entgegnete Holger zwischen zwei Bissen seines Schokoriegels.
„Wir haben hier Essen, Wasser und Die lassen uns auch in Ruhe“, schmollte sie nun. „Warum sollte ich hier weg?“
Die beiden anderen sahen sich an. Thorsten seufzte.
„Weißt du was?“, sagte Holger. „Du hast Recht! Du bleibst einfach hier und wir fahren aufs Festland, einkaufen.“
„Reg dich nicht auf“, ging Thorsten dazwischen, „hat sowieso keinen Sinn.“
Holger sah Thorsten an, schüttelte den Kopf und ging zur Treppe.
„Ich hau mich aufs Ohr.“
„Warum ist er immer so gemein zu mir?“, fragte Sandra, als Holger weg war.
„Das hat nichts mit dir zu tun sondern eher mit Björn.“ Thorsten schaltete das Funkgerät aus. „Für mich wird's auch Zeit.“
Sandra saß noch eine Weile allein auf dem Sofa und starrte den toten Fernseher an. Mit seiner Zimmerantenne sah er aus wie ein grinsender Marsmensch. Schließlich stand sie auf und ging nach oben.
„Machen eh alle, was sie wollen.“
Am nächsten Morgen, Thorsten war bereits aus dem Haus, saßen alle gerade beim Frühstück, als es an der Tür klopfte.
Silke und Holger sahen sich an. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Dabei deutete er Björn, mitzukommen. Er nahm seine Waffe und stellte sich hinter den Türrahmen mit Blick auf den Eingang.
Es klopfte erneut.
„Mach auf!“, forderte er Björn auf.
„Warum machst du nicht auf?“
„Weil ich das Gewehr hab.“
Björn schlich durch die kleine Diele zur Tür und legte seine Hand auf die Klinke. Er sah Holger an.
„Und wenn das einer von Denen ist?“
„Glaubst du, die klopfen?“, zischte Holger.
Björn holte noch einmal Luft, dann drückte er den Griff herunter und zog die Tür auf. Überrascht stieß er die Luft wieder aus und machte einen Schritt rückwärts. Sofort war Holger mit dem Gewehr neben ihm.
Draußen stand ein bärtiger Mann in einer Wanderjacke. Er trug eine Wollmütze mit Schneeflockenmuster und hatte einen riesigen Rucksack auf dem Rücken.
„Hallo“, sagte er nun und starrte dabei auf das Gewehr, das Holger auf ihn richtete.
„Darf ich rein kommen?“
Die Kälte floss an ihm vorbei ins Haus.
„Wer bist du?“, schnappte Björn. „Was willst du hier?“
Der Fremde sah Holger an.
„Achim. Ich bin allein“. Er versuchte, an den beiden vorbei ins Haus zu sehen.
Holger sah nacheinander Björn und den Mann an.
„Moment.“
Er machte die Tür zu.
„Was denkt ihr?“, fragte er ins Wohnzimmer.
Björn sagte: „Aber wir können den nicht so einfach rein lassen.“
Silke antwortete: „Warum nicht?“
„Was, wenn der uns ausplündern will?“
„Was, wenn nicht?“
„Vielleicht sollten wir ihn erschießen“, sagte Björn.
Silke starrte ihn an: „Hast du sie noch alle?“
„Wenn der erst drin ist, wird das schwierig. Wahrscheinlich ist er bewaffnet.“
„Das bist du auch!“, sagte Holger.
Er hielt seine Waffe immer noch schussbereit, wusste aber nicht, wen er vor wem schützen wollte.
„Wenn es einer von den schlauen ist?“ machte Björn weiter, „Ihr wisst schon, wie der eine auf dem Schrottplatz!“
Er sah Sandra an, deren Gesicht blass wurde. Wie konnte er sie nur daran erinnern.
„Vielleicht ist er ja ganz nett“, murmelte sie und drehte sich weg, als ihre Augen zu tränen begannen.
Erneutes Klopfen unterbrach die Debatte.
Alle sahen stumm zur Tür. Sie brauchten eine Entscheidung.
„Ich bin's, Thorsten“, hörten sie die Stimme ihres Freundes. „Macht endlich auf, es ist saukalt hier draußen!“
Sofort öffnete Björn die Tür, um gleich erstaunt den Unterkiefer herunter zu klappen. Neben Thorsten stand der Fremde und neben dem ein Mädchen. Sie trug, wie der Mann, eine rote Trecking-Jacke. Unter ihrer bunten Mütze lugten ein paar blonde Haare hervor. Sie lenkten nicht davon ab, dass ihre Lippen schon blau waren.
„Die beiden wollen uns erzählen, wer sie sind und was sie hier machen“, sagte Thorsten. „Aber dazu sollten wir erst mal rein kommen.“
Achim hatte, bevor alles zum Teufel ging, als Lehrer gearbeitet. Nun unterrichtete er nur noch seine Tochter Anna. Sie wäre jetzt in der sechsten Klasse.
Die beiden waren am Vorabend am Ufer entlang gefahren und hatten in der Dämmerung Rauch über der Insel aufsteigen sehen. So hatten sie sich am Morgen ein Boot gesucht und waren herüber gerudert.
Jetzt saßen sie alle im Wohnzimmer des Hauses, als Achim ihre Geschichte erzählte. Sie suchten schon Wochen ohne Erfolg nach anderen Menschen.
„Wie habt ihr das geschafft?“, fragte Sandra. „Habt ihr keine von den Anderen getroffen?“
Anna setzte zur Antwort an, aber Achim kam ihr zuvor: „Glück, glaube ich.“
„Wo ist denn deine Mutter?“, fragte Holger das Mädchen. Er hatte ihre Reaktion bemerkt.
„Sie ist...“, Achim drückte ihre Hand, „tot“.
„Oh Gott! Was ist denn passiert?“, fragte Sandra.
Wieder wollte Anna antworten, wieder war ihr Vater schneller: „Blinddarmentzündung. Das war vor zwei Wochen. Korinna hatte ganz plötzlich Bauchschmerzen. Dann kam noch Fieber dazu. Und dann...“
Er hielt sich die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
Thorsten runzelte die Stirn und sah Holger an. Anna malte mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand Muster auf die Tischplatte.
Silke legte einen Arm um sie und sagte: „Komm Anna, wir Mädels zeigen dir, wo ihr schlafen könnt.“
Die drei gingen die Treppe hinauf. Die Kleine sah dabei ihren Vater an.
„Was habt ihr gemacht, bevor ihr losgefahren seid?“, fragte Thorsten.
„Wir hatten uns vorher in unserem Haus verbarrikadiert. Ich wollte auch da bleiben, aber-“, er stockte, trank einen Schluck Wasser und erzählte weiter: „Korinna wollte raus. Sie meinte, es musste noch andere geben und sie wollte nicht mehr eingesperrt sein.“
Seine Stimme verwandelte sich in ein Schluchzen.
„Da haben wir das echt viel besser“, bemerkte Björn.
Thorsten sagte: „Hier können wir auch nicht mehr lange bleiben.“
Achim sah ihn an: “ Warum denn nicht? Die Insel können sie nicht erreichen.“
„Ihr konntet es nicht sehen, weil ihr von der anderen Seite gekommen seid, aber drüben hinter der Landzunge ist das Wasser schon fast bis zum Festland zugefroren.“
„Aber...“
Achim sah abwechselnd die drei anderen Männer an. „Aber vielleicht kommen sie ja gar nicht herüber! Vielleicht wissen sie gar nicht, dass wir hier sind!“
Björn fing an zu lachen. „Vielleicht wussten sie's nicht, aber seit sie euch her rudern gesehen haben, bestimmt.“
Achim sog Luft ein und sah Björn an.
„Geh mal rauf und sieh nach den anderen“, sagte Holger.
„Geh doch selber!“
Die beiden sahen sich einen Moment in die Augen, dann stand Björn auf.
„Euer Gelaber bringt sowieso nichts.“
Mit rotem Kopf trampelte er die Treppe hinauf.
Achim wandte sich wieder an Thorsten: „Wir könnten das Haus verbarrikadieren! Wenn wir alle Fenster und Türen vernageln, kommen die nicht herein!“
„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele von denen da draußen rum schleichen?“, fragte Holger. Achim konnte nicht so naiv sein! Wie konnte er glauben, sie könnten sich zu siebt in diesem Haus einigeln. Irgendwann mussten sie raus.
„Wir haben auch nicht genug zu Essen für uns alle“, sagte Thorsten. „Oder habt ihr was mitgebracht?“
Achim schüttelte den Kopf.
„Nein, daran hatte ich nicht gedacht. Wir sollten trotzdem hier bleiben“, sagte er bestimmt. „Hier sind wir sicher!“
„Wir sind nirgends sicher!“, sagte Holger.
„Sobald abzusehen ist, dass sich das Wasser schließt, packen wir zusammen und verschwinden mit eurem Boot“, stellte Thorsten fest.
Von ihrem eigenen Motorboot auf der anderen Seite der Insel erwähnte er nichts.
So ging ihre Diskussion weiter bis in die Nacht. Die drei drehten sich im Kreis, ohne dass Holger und Thorsten den älteren überzeugen konnten.
Irgendwann kamen Silke und Björn Arm in Arm herunter und gingen gemeinsam auf Kontrollgang zur Küste.
Einige Zeit später kamen sie zurück und verschwanden auf ihr Zimmer.
Achim griff noch stundenlang Gründe aus der Luft, warum sie im Haus sicher wären.
Holger und Thorsten ließen ihn reden.
Die ruhige Zeit war vorbei.
In den folgenden Tagen sank die Temperatur immer weiter, so dass bald niemand mehr freiwillig vor die Tür ging. Die Kontrollgänge zum Ufer wurden die einzigen Gelegenheiten, überhaupt aus dem Haus zu kommen. Unaufhaltsam schloss sich die Lücke zum Festland und wie das Wasser, fror auch die Stimmung im Haus ein.
Thorsten und Holger saßen, wie oft in letzter Zeit, allein im Wohnzimmer und unterhielten sich über die neue Welt und ihre Zukunft darin.
Oben knallte eine Tür und Silke kam die Treppe herunter.
„Baby warte! War doch gar nichts!“, rief Björn und kam hinterher.
„Natürlich nicht! Du fummelst mit der Schlampe rum, aber es war ja nichts!“
„Hey, Sandy wollte mir nur bei was helfen.“
„Wobei? Die Erde neu bevölkern?“
Er war inzwischen bei ihr angekommen und griff nach ihrem Oberarm.
„Aua, das tut weh!“
„Jetzt hör auf, so rumzuzicken!“
Holger hatte genug und stand auf: „Lass sie los!“
„Was mischst du dich denn da ein? Bist wohl scharf auf meine Freundin?“
„Ich will dich nicht mehr sehen! Geh Sandra vögeln, wenn du willst!“, schrie Silke mit Tränen in den Augen.
Björn schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
„Halt jetzt dein dummes Maul!“
Sofort stand Holger neben ihm, riss ihn von Silke weg und rammte ihm seine Stirn gegen die Nase.
Björn hielt sich die Hand vors Gesicht und sah ihn mit geweiteten Augen an. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch.
„Das zahl ich dir heim!“, zischte er. Tränen sammelten sich in seinen Augen.
„So, nun beruhigen wir uns erst einmal wieder“, sagte Achim, der in der Küchentür stand und die ganze Szene aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.
Björn machte einen Schritt auf ihn zu und schrie: „Halt dich da raus!“
Holger wollte dazwischen gehen, aber Björn funkelte ihn nur noch einmal an und stampfte die Treppe hinauf.
„Wär vielleicht am besten, wenn wir morgen früh aufbrechen und eine Insel suchen, die weiter vom Festland weg ist“, sagte Thorsten zu Holger, nachdem sie sich wieder gesetzt hatten.
„Wir müssen dicht an der Küste bleiben“, sagte Holger. „Das Boot ist nicht hochseetauglich.“
Er hatte sich einen Becher Kaffee eingegossen und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Sein Gesicht spiegelte sich in der schwarzen Oberfläche. Kaum zu glauben, dass das Zeug flüssig war.
„Ich denke, dass das keine gute Idee ist“, mischte sich Achim mal wieder ein.
„Dich hat aber keiner gefragt“, zischte Holger.
Thorsten legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Hast du nen besseren Vorschlag?“, fragte er Achim.
„Ihr wollt das ja sowieso nicht wissen!“
„Genau“, murmelte Holger.
„Jetzt erzähl schon“, munterte Thorsten ihn wieder auf.
„Wir sollten aufs Festland zurück gehen. Irgendwo muss es noch jemanden geben, der uns helfen kann.“
Achim sah die beiden an.
„Die Regierung unternimmt bestimmt etwas. Wir müssen nur die nächste Polizeiwache finden, da gibt es sicher eine Möglichkeit, die Behörden zu unterrichten!“
„Die nächste Polizeiwache? Ich war erst in einer, die Bullen hatten ziemlichen Hunger! Meinst du, wenn es noch Behörden gäbe, wüssten die nicht, was hier los ist?“
„Er hat recht, Achim“, sagte Thorsten. „Es ist niemand mehr da.“
„Nein, es gibt da bestimmt noch jemanden!“, bockte Achim. „Im Süden! Ihr wisst nicht, was im Süden ist. Vielleicht hat man schon längst ein Heilmittel gefunden.“
„Ein Heilmittel?“ Holger dachte, jetzt war Achim völlig im freien Fall.
„Ja! Man muss all diesen armen Menschen irgendwie helfen. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie von dieser Tollwut befallen sind.“
„Tollwut?“, als Kranke hatte Holger Sie noch nie betrachtet.
„Hast du dir die Dinger mal angesehen?“, fragte Thorsten. „Das sind keine Menschen mehr!“
„Deine Kranken sind von den Toten zurück gekehrt“, sagte Holger.
„Ach was! Das gibt es doch gar nicht. Es ist unsere Christenpflicht, ihnen zu helfen!“
„Das letzte Mal, als du einem von Denen helfen wolltest, hat es Mama gebissen“, sagte Anna.
Niemand hatte während des Streits auf Anna geachtet. Nun stand sie in der Tür und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
„Was war mit deiner Mutter?“, fragte Thorsten.
„Das gehört hier nicht her“, sagte Achim und stand auf.
„Mach den Kopf zu!“, sagte Holger etwas zu laut.
Achim sah ihn mit großen Augen an. So redete man wohl selten mit ihm.
„Erzähl ruhig weiter“, forderte Thorsten Anna auf und winkte sie zum Tisch herüber.
„Mama wollte nicht, dass wir anhalten“, Annas Stimme zitterte, als sie anfing zu sprechen, „aber Papa meinte, dass er nach dem Rechten sehen musste.“
Holger zog eine Augenbraue hoch und sah Achim an.
„Es war gerade dunkel geworden und da lag der Mann neben der Straße und dann ist Papa ausgestiegen und zu ihm hingegangen. Mama hat nach ihm gerufen, dass er wieder kommen soll, aber er hat gar nicht gehört und dann ist Mama auch ausgestiegen und...“
Ihre Stimme versagte.
„Du musst nichts erzählen, Schatz“, mischte sich Achim wieder ein.
Thorsten legte ihr eine Hand auf die Schulter und warnte Achim mit seinem Blick.
„Was ist noch passiert Anna?“
„Es war ganz plötzlich da und warf Mama gegen das Auto. Und da war überall Blut.“
Anna blickte auf die Tischplatte und schluckte, bevor sie weiter erzählte: „Es ging alles so schnell. Plötzlich lag Mama auf dem Rücksitz und wir fuhren weiter. Papa hat kein Wort mehr gesagt und Mama hat nur noch gestöhnt. Fast die ganze Nacht. Dann war sie still.“
Holger hatte die ganze Zeit Achim beobachtet und ließ ihn auch jetzt nicht aus den Augen, als er fragte: „Wann ist das alles passiert?“
„In der Nacht bevor wir hierher gekommen sind. Wir sind gefahren, bis ich den Rauch gesehen hab.“
„Achim, wo ist deine Frau jetzt?“, fragte Holger. Er zwang sich, ruhig zu bleiben.
„Ich weiß nicht, was das alles soll! Ich habe nichts getan!“
„Beantworte bitte die Frage“, sagte Thorsten.
Achim richtete sich auf seinem Stuhl auf. Er machte ein Gesicht, als wäre er dabei erwischt worden, Pfandflaschen in den Glascontainer zu werfen.
„Ich konnte Korinna nicht beerdigen! Der Boden ist doch gefroren.
„Vielleicht schafft sie es bis auf die Insel, wenn er sie nahe genug ins Wasser geworfen hat“, sagte Thorsten.
Holger steckte sich eine Zigarette an. Einer der Vorteile, wenn man zu den Überlebenden gehörte: Genug Zigaretten.
„Ja, Scheiße passiert eben. Da können wir jetzt auch nichts mehr machen.“
Die beiden standen am Anleger und sahen in die Dunkelheit. Sie waren heute Abend gemeinsam auf den Kontrollgang aufgebrochen, um in Ruhe die Lage zu besprechen.
„Am liebsten würde ich ihn hinterher schmeißen“, sagte Holger. Dabei kam Rauch aus seinem Mund wie bei einem zornigen Drachen.
„Das würde auch nichts ändern.“
„Und ob. Den Spinner wären wir los.“
Thorsten grinste: „Hat einen gewissen Reiz, aber wir kommen bestimmt auch anders klar.“
„Sicher“, er schnippte den Zigarettenstummel weg. „Wir kommen klar.“
„So und jetzt...“
Weiter kam Thorsten nicht, denn ein Schuss zerriss die Stille und beide wussten, dass damit alle ihre Pläne überflüssig wurden.
Als sie am Haus ankamen, standen Silke, Achim und Anna bereits in ihren Jacken und Mützen in der Diele. Silke hielt ihr Gewehr in den Händen.
Achim, der seine Tochter an sich drückte, fragte: „Habt ihr geschossen?“
„Nein. Ihr auch nicht?“, Thorsten sah sich um. „Wo sind Björn und Sandra?“
Silke schnaufte: „Hab sie nicht gesehen.“
„OK, Holger und ich gehen nachsehen.“
„Die Schüsse kamen von hinten“, Silke deutete zur Küche, hinter der der Garten und der Geräteschuppen lagen.
„Ich bleibe besser hier und passe auf“, meinte Achim.
Silke rollte mit den Augen. Holger las darin seine eigenen Gedanken.
Plötzlich flog die Haustür auf und Björn kam herein gestürmt. Seine sonst frisierten dunklen Haare hingen ihm in die Stirn. Er trug keine Jacke und Blutspritzer klebten ihm im Gesicht.
Ohne darüber nachzudenken, hob Holger sein Gewehr.
Björn warf sich von innen gegen die Eingangstür und drückte sie zu, bevor er davor zu Boden sank.
Thorsten lief zu ihm: „Was ist passiert?“
Björn rührte sich nicht, vergrub nur sein Gesicht in den Händen. Irgendwie kaufte Holger es ihm nicht ab.
Als Thorsten seine Frage noch einmal wiederholte, stammelte er schließlich los: „Wir waren am Schuppen, wollten Holz holen... da kam plötzlich dieses Ding! Es war ganz plötzlich da!“ Er fing an zu schluchzen.
„Wo ist Sandra?“, fragte Silke.
Björn schaute auf, als wäre es ihm erst jetzt wieder eingefallen.
„Es hat sie erwischt. Ich habe noch geschossen, aber es war schon wieder weg und ich konnte fliehen.“
„Du hast sie da draußen gelassen?“, schrie Silke ihn an.
„Was sollte ich denn machen?“
Thorsten packte Björn an den Schultern: „Komm runter! Es war nur eins? Bist du sicher?“
„Ja“, er zog die Beine an und klammerte seine Arme darum, „eine Frau mit so ner rot-schwarzen Jacke.“
Er zeigte auf Anna und Achim, die in ihren Wanderjacken im Flur standen.
„Mama!“, rief Anna.
Björn starrte Achim an.
„Ich denke, du hast sie ins Meer geworfen. Was läuft hier eigentlich?“
„Das ist doch jetzt nicht so wichtig“, erwiderte Achim. „Ihr müsst sie einfangen!“
Er sah Thorsten an wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose fest hing.
„Nein!“, sagte Thorsten. „Im Dunkeln geht hier keiner mehr raus! Wir sehen morgen weiter.“
Er half Björn auf die Beine. Er zitterte immer noch und sein Gesicht war feucht von Tränen.
„Achim, wir beide halten als erstes Wache. In vier Stunden übernehmen Holger und Silke.“
Holger sah Achim an und wünschte sich eine andere Aufteilung.
Der Morgen kam. In aller Ruhe lugte die Sonne über den Horizont und tauchte die Insel auch an diesem letzten Tag in diffuses Weiß. Sie hatten sich auf der Suche nach dem Ding in zwei Gruppen geteilt. Während Thorsten mit Björn zum Schuppen gegangen war, hatten Holger und Silke die Gegenrichtung eingeschlagen. Die Anderen brauchten bei Tag ein Versteck, denn im Sonnenschein waren sie langsam.
Als sie zur Küste gingen, beobachtete Holger seine Freundin. Hatte sie die Geschichte letzte Nacht wirklich verkraftet? Sie war mit Björn zusammen, seit sie ihn im Sommer aufgegabelt hatten. Fast gleichzeitig hatte er sich auch an Sandra herangemacht.
Wenn sie nun tot war? Oder eine von Denen?
„Ich hätte auf dich hören sollen.“
Silke riss ihn aus seinen Gedanken.
„Was?“
„Naja, wegen Björn.“
Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu.
„Ist ja wohl klar, was er und Sandra da im Schuppen gemacht haben.“
Holger zog die Nase hoch und warf seine Zigarette in den Schnee.
„Du bist eben hartnäckig.“
„Scheiß auf hartnäckig! Dumm trifft's wohl eher.“
„Na gut, dann bist du eben dumm.“
Holger versuchte ein Grinsen und dachte an einen alten Insider-Witz zwischen ihnen.
„Ich werde dafür sorgen, dass dich von nun an alle nur noch Toastbrot nennen.“
Silke lächelte. „Vollkorn?“
„Mindestens!“
Beide lachten und Holger nahm sie in den Arm.
Eine Weile standen sie so da. Irgendwann erinnerten ihre Füße sie daran, dass der Boden noch viel kälter war als die Luft und sie gingen weiter. Als sie um einen Knick herum kamen, hielt Silke plötzlich an und zeigte auf ein kleines Häuschen ein paar Meter weiter.
„Was ist?“, fragte Holger.
„War jemand hier in letzter Zeit?“
„Nee, wieso?“
„Vor der Tür liegt kein Schnee.“
„Du hast ihr in den Kopf geschossen“, stellte Thorsten fest. Er kniete neben Sandras Leiche, die hinter dem Schuppen im Schnee lag. Ihre Kehle war ein einziges Rot und die rechte Seite ihrer Stirn fehlte.
„Ich hab überall hin geschossen!“
Björn zeigte auf den Schuppen, in dessen Wand mehrere Löcher waren. Der vom Blut verfärbte Schnee war inzwischen gefroren. So sah Grönland zur Robben-Saison aus.
„Was sollte ich auch sonst machen.“
„Du hättest ja zuerst einmal nur auf das Ding schießen können.“
„Es ging alles so schnell. Überall war Blut, bevor ich überhaupt reagieren konnte!“
„Oder, bevor du deine Hose wieder zu hattest?“
Thorsten stand auf und sah sich die Spuren im Schnee an.
„Die Spuren führen zum Haus. Es hat wohl nach dem Eingang gesucht.“
Er folgte der Fährte und nach kurzem Zögern ging Björn ihm nach.
„Wir können Sandra doch da nicht so liegen lassen!“, rief er Thorsten hinterher.
„Es gibt grad Wichtigeres. Hättest dich gestern um sie kümmern sollen.“
„Mann! Ich hab alles versucht! Ich konnte nichts machen!“
„Ach ja?“
Thorsten drehte sich um und schrie Björn an: „Erklär mir doch mal, wieso deine Freundin da drüben mit nem Loch im Kopf in ihrem Blut liegt und das Ding, das euch angegriffen hat, keinen einzigen Tropfen verloren hat!“ Er zeigte auf die Spuren des Dings, denen jedes Rot fehlte.
Björn ging einen Schritt zurück, aber Thorsten war noch nicht fertig: „Bist du sicher, dass du auch in die richtige Richtung geschossen hast?“
Björn sah nach unten und presste seine Lippen zusammen. Er holte Luft, um Thorsten seine Antwort ins Gesicht zu schreien, doch das Geräusch von Gewehrfeuer kam ihm zuvor.
Holger legte die Hand an die Tür der Hütte. Sie war nicht verschlossen, wie bei den meisten Häusern, die sie inzwischen betreten hatten.
„Warte hier“, sagte er und stieß die Holztür auf.
Noch ehe Silke protestieren konnte, war er im Innern verschwunden.
Direkt hinter dem Eingang führte eine Holztreppe nach oben. Nur wenig Licht drang in die Behausung. Links und rechts der Treppe befand sich jeweils eine Tür. Da die linke offen war, durchsuchte Holger zuerst diesen Raum. Wie in einem Fernsehkrimi lugte er erst mit seinem Gewehr um den Türrahmen, bevor er in den Raum ging.
An der einen Wand schimmelte eine Küchenzeile. Das Fenster über der Spüle ließ das Tageslicht durch seine Schmutzschicht nur erahnen. Gegenüber kauerten die Statussymbole des Wirtschaftswunders, eine Eckbank und ein Tisch mit PVC-Decke.
Auf dem Tisch lagen ein halb voller Aschenbecher und eine alte Tageszeitung. In rot-schwarzer Aufmachung kündete sie vom Ende der Welt und gratulierte weiter unten auf der Seite Frau Margarethe F. aus L. zum Bingo-Gewinn.
Eine kurze Durchsicht der Schränke führte nur die übliche Ansammlung ehemaliger Lebensmittel, Konserven und Rattendreck zu Tage.
Als nächstes kam die geschlossene Tür an die Reihe.
Als Holger sie mit dem Gewehr im Anschlag aufdrückte, rief Silke von draußen: „Alles OK bei dir?“
Holger sprang einen Schritt zurück.
„Mädel, willst du, dass ich nen Herzkasper krieg?“
„Jammer nicht!“, lachte Silke. „Und lass hin und wieder was von dir hören.“
Holger wandte sich wieder der halb offenen Tür zu.
Er ging hindurch und versuchte dabei, den ganzen Raum im Blick zu behalten. Durch die dicken Vorhänge drang kaum Licht. Mit einem Ruck riss er eine Gardine samt Stange herunter. Die Fenster waren nicht sauberer als in der Küche, aber immerhin konnte er nun erkennen, dass er im Wohnzimmer stand. Die Einrichtung sah aus wie die Seite eines Möbelkatalogs aus den Sechzigern. Einzige Möglichkeit sich zu verbergen, war das Sofa gegenüber dem Fernseher.
Dahinter konnte sich ein Pferd verstecken.
Holger trat mit aller Kraft dagegen und es schlitterte auf seinen Holzbeinchen gegen die Wand.
Nichts rührte sich.
Also das Dachgeschoss.
Als er die Treppe hinauf stieg, rief er nach Silke und meldete, dass er nichts gefunden hatte. Die Klappe unter dem ausgetretenen Läufer direkt vor der Treppe hatte er nicht gesehen.
Von draußen kam die Antwort, sie wolle sich mal hinter der Hütte umsehen.
Jeder Schritt auf der Treppe wurde von dem Geräusch eines sich öffnenden Sargdeckels begleitet. Die Dachkammer reichte nicht an die Eleganz des Erdgeschosses heran. Die Einrichtung bestand lediglich aus einem Kleiderschrank, dessen Türen weit offen standen und einem französischen Kordbett. Die Liegefläche hatte so viele Flecken, das es aussah, wie eine Tarnjacke.
Der gesamte Fußboden war von Kleidungsstücken und bunten Magazinen bedeckt.
Er musste wohl oder übel im Bettkasten nachsehen. Das gefiel ihm nicht.
Er dachte an Horrorfilme. Und an letzten Sommer, als er das Geräusch aus dem Kühlschrank gehört hatte.
Nachdem Holger die Treppe rauf verschwunden war, entschloss sich Silke, nicht länger untätig vor der Tür herumzustehen. Sie ging ein paar Schritte zurück.
Vor der gesamten Front der Hütte war der Schnee zertrampelt. Wer sich auch immer hier herum getrieben hatte, hatte sich dabei gründlich umgesehen. Sowohl links als auch rechts verschwanden die Fußspuren um die Hausecken. Spontan entschied sie, rechts entlang zu gehen.
Hinter dem Gebäude fand sie eine Müllkippe. Zwei Boote mit Löchern so groß wie Kinderköpfe, alte Fernseher, Herde und anderer Schrott ragten aus der Schneekruste. Als sie weiter ging, stolperte sie über einen Autoreifen. Dabei gab es auf der ganzen Insel keine Autos, nur ein paar Traktoren.
Hinter der nächsten Ecke fand sie einen Kellereingang.
Eine Steintreppe, gerade breit genug für eine Person, führte an der Hauswand in einem ummauerten Schacht in die Erde. Auch hier war der Schnee platt getreten. Nur an den Seiten der Stufen türmte er sich noch zu seiner ursprünglichen Höhe.
Das musste das Versteck sein! Sie machte kehrt und ging zum Eingang zurück, um Holger Bescheid zu geben. Gerade, als sie wieder zur Vorderseite kam, knallten im Haus Schüsse. Ohne nachzudenken, stürmte Silke hinein und die Treppe hinauf.
Als sie auf dem Dachboden ankam, stand Holger vor dem Bett, dessen Liegefläche er hoch geklappt hatte. Seine Waffe deutete auf den Inhalt.
„Hast du's erwischt?“, fragte Silke.
Holger nickte. „Mehr oder weniger.“
Sie schaute in den Bettkasten. Darin lag etwas, das wohl mal ein Mensch gewesen war. Holgers Kugeln hatten nichts mehr zerstören können. Die Leiche war bereits halb verwest gewesen, als der Winter kam und sie in ihrem Polster-Sarkophag einfror.
An Hals, Händen und Füßen fehlten Stücke, als wären sie heraus gebissen worden. Ratten fühlten sich wohl in dieser neuen Welt .
„Lass uns gehen“, sagte Holger, „hier können wir nix machen.“
„Ich hab draußen eine Kellertreppe gefunden.“
Sie gingen hinunter ins Erdgeschoss.
Die Klappe vor der Treppe stand offen. Ein schwarzes Rechteck, wie ein Zugang zur Nacht. Der Teppich lag zerknüllt an der Wand.
„Scheiße!“, sagte Holger. „Raus hier! Ins Licht!“
Als Silke in das Halbdunkel des Flurs trat, kam der Angriff. Das Ding sprang aus der Küche und riss sie zu Boden. Ihr Gewehr schlitterte über das Linoleum und die beiden Gestalten rollten über den Boden.
Holger drehte sein Gewehr um und schmetterte es dem Angreifer gegen den Kopf. Plötzlich ließ das Ding von ihr ab und fauchte ihn an. Als er seine Waffe wieder umdrehte, rannte es die Treppe hinauf auf den Dachboden. Holger schickte ein paar Kugeln hinterher und folgte nach.
Oben hatte es sich in einer Ecke zusammen gekauert. Holger zielte auf den Kopf. Das Ding wirkte verloren, ein bisschen als hätte es Angst.
In dem Moment kam Silke, ihre Waffe im Anschlag, herein und begann zu feuern. Sie hörte erst auf, als das Magazin leer war. In der folgenden Stille fühlten sie sich taub.
Das Ding lehnte in einer Blutlache an der Wand.
Nur der rote Stoff der Jacke ließ erahnen, wer es einmal gewesen war.
Holger drehte sich zu Silke um: „Alles in Ordnung?“
„Nein.“
Als Thorsten und Björn bei der Hütte ankamen, standen Silke und Holger vor der Tür. Holger untersuchte ihren Nacken. Das Ding hatte die Schlagader verfehlt, aber trotzdem sickerte noch immer Blut aus der Wunde.
„Wie geht es dir?“, fragte Thorsten.
„Vergiss es!“, antwortete Silke.
„Scheiße, sie ist gebissen!“, sagte Björn, dessen Augen immer größer wurden, je besser er ihren Hals sehen konnte.
„Sie wird genau so wie die anderen!“, rief er. „Am Besten, wir erschießen sie gleich!“
Thorsten setzte an, etwas zu sagen, aber Holger war schneller.
„Du blöder Pisser! Ich hab langsam die Schnauze voll.“
Damit ging er auf Björn los. Seine rechte Faust traf mitten ins Gesicht. Björn taumelte zurück und versuchte die Arme hoch zu bringen, da schlug Holger noch mal zu und er ging in die Knie.
Thorsten sprang zwischen sie und hielt Holger zurück als er gerade mit dem Fuß ausholte.
„Geh aus dem Weg, der ist jetzt fällig“, zischte Holger.
„Lass es sein!“, beschwor ihn Thorsten. „Hat doch keinen Sinn, wenn wir gegenseitig auf einander losgehen!“
„Hast du nicht gehört, was der Arsch gesagt hat? Er will sie erschießen!“
„Und das wäre auch das einzig Richtige“, nuschelte Björn, der am Boden kauerte und sich eine Hand voll Schnee auf die Nase drückte.
„Halts Maul!“, fuhr Thorsten ihn an.
„Ich wüsste schon, wen man hier erschießen könnte“, sagte Holger und hob sein Gewehr.
„Hört auf“, sagte Silke da. „Ist eh egal.“
Sie hatte sich gegen die Hauswand gelehnt und drückte sich ihren Schal gegen den Nacken.
Auf dem Weg zurück schwiegen die vier. Silke und Holger gingen voran, In einem Sicherheitsabstand folgte Björn, der, immer noch sein Gesicht betastend, vor sich hin grummelte. Das Schlusslicht bildete Thorsten. So behielt er die Umgebung und vor allem auch Björn im Auge.
Nach ihrer Ankunft im Haus war es mit der Schweigsamkeit jedoch wieder vorbei. Kaum war Holger mit Silke im Obergeschoss verschwunden, begann Björn, auf Achim einzureden.
„Wir sollten sie in den Keller sperren!“
„Niemand wird in den Keller gesperrt“, sagte Thorsten, „nicht mal du.“
„Ich weiß nicht“, meinte Achim, „es dauert immer eine Weile, bis die gefährlich werden.“
„Ach ja, Herr Lehrer? Woher bist du so schlau?“, fragte Björn.
„Bei Mama war es so“, sagte Anna.
Alle sahen sie an.
„Scheiße“, sagte Björn und presste sich einen Eisbeutel ins Gesicht.
Achim nahm seine Tochter in den Arm.
„Aber bei Silke ist es anders. Korinna war schwer verletzt. Ihr ganzer Hals war-“, er schluckte, „-war gar nicht mehr da.“
Thorsten legte eine Hand auf seine Schulter.
„Wir behalten Silke im Auge. Wenn es ihr schlechter geht, sehen wir weiter.“
„Was ist das?“, fragte Anna. Sie hatte den Kopf schief gelegt und schien die Decke anzusehen.
„Was meinst du?“, fragte Thorsten. „Ich-“
Da hörte er es auch. Draußen heulte etwas. Es wurde lauter und unterschied sich deutlich vom Rauschen des Windes.
Holger kam die Treppe herunter gepoltert.
„Hat jemand das Eis kontrolliert?“
Sie kamen.
Sie konnten Dutzende Gestalten auf dem Eis erkennen. Noch bewegten sie sich langsam, als fürchteten sie, der Untergrund könnte jederzeit wieder auf brechen. Vielleicht stimmte das. Holger wusste nicht, wie intelligent sie waren, nur dass sie jede Menschlichkeit verloren hatten.
Er und Thorsten waren gleich zum Strand gelaufen, als sie das Heulen hörten. Die anderen sollten in der Zwischenzeit die Sachen zusammenpacken.
Dichte Wolken zogen auf und so wurde es früh dunkel. Auf dem Rückweg zum Haus begann es zu schneien. Die Flocken dämpften das Geheul vom Eis. Dies alles schien so unwirklich, dass Holger das Bedürfnis hatte, sich einfach irgendwo hinzusetzen und die ganze Geschichte mit einem lauten „Stopp!“ zu beenden.
Im Haus erwartete Silke sie schon:
„Björn ist weg!“
„Was? Wo ist er?“, fragte Thorsten.
„Keine Ahnung. Als ich mit meinem Rucksack nach unten kam, war er nirgends zu finden.“
Thorsten presste die Lippen aufeinander und schloss kurz die Augen.
„OK, bring Anna und Achim zum Boot! Wir packen unsere Sachen und kommen nach.“
„Aber sollten wir nicht besser zusammen bleiben?“, fragte Achim, der gerade mit Anna im Schlepp die Treppe herunter kam.
„Sie sind noch nicht über das Eis“, sagte Holger, „kann aber nicht mehr lange dauern. Ihr lasst schon mal den Motor an und bindet die Taue los.“
In der Tür drehte Silke sich um und sah Holger an: „Beeilt euch!“
Als Holger und Thorsten voll gepackt wie zwei Infanteristen vor die Tür traten, hatte der Wind aufgefrischt. Der Schnee kam jetzt mehr von vorn als von oben und Sichtweite war kaum noch vorhanden.
Mit gesenkten Köpfen stampften sie durch die Nacht.
Wenn sie jetzt angegriffen wurden, rechnete sich Holger keine Chancen aus.
Als vor ihnen drei Umrisse aus den wirbelnden Schneemassen auftauchten, ahnte er Schlimmes.
Björn war es egal, was aus den anderen wurde. Er wollte nicht auf dieser mickrigen Insel verrecken. Er zerrte an der Leine, mit der das Motorboot am Anleger vertäut war.
Sollten die doch drauf gehen. Holger, der Schläger und Thorsten mit seinem Chef-Getue.
Er sprang an Bord und ließ den Motor an. Nach ein paar gequälten Umdrehungen hustete der Auspuff blauen Qualm und nach einem letzten Blick in Richtung des Hauses drückte Björn den Gashebel nach vorn. Als er sich vorstellte, wie Silke die anderen biss, musste er grinsen.
Plötzlich ging ein Ruck durch das Boot und warf ihn mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Benommen vergrub er sein Gesicht in den Händen.
„Scheiße!“
Er hatte es geschafft, das Boot auf der Packeisgrenze aufzusetzen.
Fluchend stolperte er im Schneegestöber zum Bug. Der Rumpf steckte zwischen zwei Eisplatten fest.
Vor sich hin knurrend kletterte er zurück und versuchte noch eine Weile, das Boot mittels Gashebel und Steuerrad frei zu bekommen, aber es saß fest wie in einer Klebstoffwerbung. Schließlich gab er auf, schnallte sich seinen Rucksack um und sprang auf das Eis.
„Dann lauf ich eben“, schimpfte er und trat gegen den Bug. „Blödes Mistding!“
Als er sich vom Boot weg drehte, war ihm, als hätte sich in der Dunkelheit etwas bewegt. Er schüttelte den Kopf und etwas Schweres riss ihn zu Boden.
Das Ding lag mit seinem ganzen Gewicht auf Björn und atmete ihm den Geruch von verdorbenem Fleisch ins Gesicht. Er tastete noch nach seinem Gewehr, doch das war beim Aufprall weggeflogen.
In dem Moment bevor sich die Fänge des Angreifers in seinen Hals senkten, bemerkte er noch das Blut, das den ganzen Kopf des Dings verkrustet hatte. Früher war es einmal ein Mann gewesen und die Überreste einer Brille steckten in seinem linken Auge.
„Seltsam“, murmelte Björn und starb.
„Was sollen wir denn jetzt bloß machen?“, fragte Achim, nachdem sie sich wieder ins Haus zurückgezogen hatten.
Thorsten starrte auf die Haustür. Eine Garderobe und eine kleine Kommode bildeten davor eine halbherzige Barrikade.
„Wie wär's mit eurem Boot?“, fragte er Achim.
„Das liegt oben am Steg“, sagte Holger, „da ist längst alles zu gefroren.“
Anna saß bei Silke auf dem Sofa. Sie sah zwischen den drei Männern hin und her.
„Ich hab Angst Papa.“
Silke nahm sie in ihren Arm, obwohl sie eigentlich selbst Trost brauchen konnte.
„Uns wird schon nichts passieren“, sagte Achim und ging ebenfalls zum Sofa. „Wir müssen uns eben bis morgen früh verbarrikadieren. Wenn die Sonne aufgeht, machen wir das Boot flott und verschwinden.“
Holger stimmte zu. Es gefiel ihm nicht, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig.
„Los, lasst uns Fenster und Türen verrammeln!“, sagte Thorsten. Wie immer ergriff er das Kommando und wie immer sprangen alle auf und folgten. Nur Silke blieb diesmal sitzen. Es ging ihr schlecht. Der Blutverlust und die Anstrengungen machten sich bemerkbar.
Holger ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Stirn.
„Du bist ganz heiß. Leg dich hin, ich hol dir ne Decke.“
Silke griff nach seiner Hand.
„Bleib hier!“
Da explodierte das Fenster.
Zwischen Scherben und Schneeflocken fiel der Vorhang zu Boden und zappelte herum. Ein Kopf wühlte sich aus dem Stoffknäuel. Er zuckte herum, suchte nach Beute.
Thorsten überwand den Schreck zuerst und eröffnete das Feuer. Das Rattern seines Gewehrs riss den Eindringling in Stücke und Achim aus seiner Starre. Er griff nach seiner Waffe und deckte das Fenster.
In dem Moment ging auch das zweite Fenster zu Bruch. Das Ding, das herein sprang, war kaum noch als Mensch zu erkennen. Blut und Erde bedeckten den ganzen Körper und verklebten die langen Haare. Ohne zu zögern, fiel es Anna an, die dem Fenster am nächsten stand.
„Nein!“
Achim rannte sofort zu ihr hinüber und warf sich auf den Gegner. Schon kam ein weiterer durch die Öffnung und packte ihn von hinten. Er bohrte seine Krallen in seine Schultern.
Anna schrie und hielt sich die Hände vors Gesicht.
„Los! Nach oben!“, kommandierte Thorsten und riss Anna gerade noch rechtzeitig am Arm zurück, als ein dritter Feind herein kam.
Holger warf sich Silke über die Schulter und stolperte als erster die Treppe hinauf, Thorsten, der Anna hinter sich her zog, folgte.
Aus den Augenwinkeln sah Holger noch, wie sich die drei Gestalten im Wohnraum auf einen Haufen warfen. Von Achim war nichts mehr zu sehen. Oben angekommen, schaffte er Silke ins große Schlafzimmer, das sie zuvor mit Björn geteilt hatte und lief zurück zur Treppe.
Thorsten hatte Schwierigkeiten mit Anna. Das Mädchen klammerte sich ans Geländer und schrie. Holger glaubte, die Worte „Mama“ und „Papa“ zu erkennen. Thorsten redete auf sie ein. Sie sollte mit nach oben kommen, aber sie schien ihn gar nicht zu hören.
Als plötzlich einer der Feinde unten an den Stufen auftauchte, ließ er sie los und feuerte mit seiner Waffe auf die Gestalt. Anna nutzte die Gelegenheit und lief hinunter.
„Papa!“, rief sie immer wieder. Schnell war sie unten und an dem Körper vorbei, der unten an der Treppe zusammensank. Sofort schwoll das Fauchen im Wohnzimmer an und die Schreie des Mädchens gingen im Lärm unter. Wie in Harz gegossen, stand Thorsten da. Das Gewehr in der rechten Hand sank herunter. Er war noch nie so dicht daran, aufzugeben.
Silke, Holger und Thorsten saßen im Schlafzimmer an der Wand und schnauften. Sie hatten den Kleiderschrank und das Doppelbett vor die Tür geschoben. Pausenlos krachte auf der anderen Seite etwas dagegen. Jedesmal zuckten sie zusammen.
Schließlich brach Silke das Schweigen: „Wir müssen was tun.“
„Was denn? Sollten wir nicht bis zum Morgen warten?“, fragte Thorsten. Er schien seine Entschlossenheit verloren zu haben.
„Die kommen hier garantiert rein“, sagte Holger. „Früher oder später.“
Seine Hand krallte sich in Silkes Schulter.
„Wir müssen hier raus“, stellte sie fest. „Am besten gleich.“
Sie sahen zum Fenster.
Thorsten stand auf.
„Ich geh als erster.“ Er ging hinüber und öffnete es. Sofort presste sich eiskalte Luft in den Raum. Auf dem Flur hörte man lautes Geschrei.
Holger half Silke auf, als Thorsten mit dem Gewehr voran auf das Dach hinaus stieg. Die beiden folgten, immer den Blick auf ihre Füße gerichtet, um nicht auszurutschen.
„Da lang“, rief Thorsten gegen den Wind und deutete die Kante entlang.
In einer Reihe tasteten sich die drei auf dem vereisten Dach vorwärts. Als sie am hinteren Ende des Hauses ankamen, ließ sich zuerst Holger am Fallrohr herab. Er half Silke bei der Landung. Thorsten stand während dessen oben an der Kante und gab ihnen Deckung.
Plötzlich sprang ihn aus dem Dunkel ein Schatten an. Noch ehe jemand reagieren konnte, stürzten beide vom Dach. Holger schrie und riss sein Gewehr hoch, doch Silke griff nach dem Lauf.
„Nicht! Du triffst Thorsten!“
Er sah sie kurz an, drehte das Gewehr und schlug mit dem Kolben auf den Angreifer ein. Als der von Thorsten abließ, schoss ihm Silke in den Kopf.
Sofort knieten sich beide in den Schnee. Ihr Freund lag ganz ruhig da.
„Bist du OK?“, fragte Holger.
„Ich glaube nicht“, flüsterte er.
Sie hörten das Gewehrfeuer noch kurz bevor sie Achims Boot erreichten. Thorsten hatte sie weg geschickt, nachdem klar war, dass er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Natürlich wollten sie nicht ohne ihn gehen, aber als die Meute ums Haus herum kam, hatten sie keine andere Wahl gehabt.
Am Boot angekommen, half Holger Silke hinein und schob es über den Schnee zum Wasser. Das kleine Ruderboot war gerade ausreichend, zwei oder drei Leute über einen Fluss zu tragen.
Und er schob es zum Meer.
Er schaffte ein paar Meter, bevor die ersten angerannt kamen. Silke feuerte erst mit ihrem eigenen, danach mit seinem Gewehr. Schließlich stürzten sich zwei Angreifer auf ihn und begruben ihn unter sich. Silke hielt das Gewehr auf die kämpfenden Körper. Sie traute sich nicht zu schießen und drückte nur aus Verzweiflung ab.
Besser so, als abzuwarten.
Kurz lagen die drei still. Eine der Gestalten machte sich frei und sah sie an.
„Danke“, sagte Holger und stemmte sich wieder gegen das Boot.
Als bereits das Geheul der nächsten Angreifer zu hören war, erreichten sie endlich das Wasser.
Die Sonne kroch langsam über das Meer. Wie bei einem Polaroid-Foto wurde die Welt Stück für Stück sichtbar.
Holger saß zusammengesunken im Bug des Ruderbootes, Silke kauerte ihm gegenüber.
Um sie herum lag das Wasser ruhig da, wie in einem Tümpel. Das Ufer war eine ferne, weiße Linie. Nur in der Luft bewegten sich ein paar kleine schwarze Punkte. Krähen auf dem Weg zum Frühstück.
Silke sah Holger an. Er presste seine Hände auf den Bauch. Zwischen den Fingern glänzte es dunkel. Sie kroch zu ihm hinüber und nahm ihn in ihre Arme.
„Ich hab dich getroffen.“
„Ist nicht so schlimm.“
„Was machen wir jetzt?“
Eine Träne lief ihre linke Wange herab.
„Weißt du“, flüsterte er, „ich kann dich echt gut leiden.“
Silke sah ihm in die Augen, da war nichts mehr. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und ließ Tränen in das Blut auf seinen Händen tropfen.
Einige Krähen hatten sich am Strand niedergelassen und inspizierten die im Schnee liegenden Körper. Sie stolzierten herum und stritten sich laut um die besten Plätze.
Ein einzelner, ferner Knall ließ sie kurz auffliegen, aber nach und nach landeten sie wieder und setzten ihren seltsamen Tanz fort.
Und mit der Zeit wurden es immer mehr.