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Als Herr Lorenzo sprang
Als Herr Lorenzo sprang, schlug die Kirchturmuhr die Zehn. Er hatte kräftig gefrühstückt, der Herr Lorenzo, nichts sollte doch verkommen. Wie es halt geschieht, ja vielleicht sogar so üblich ist, war es mehr die Feuchtigkeit der Traufe als der eigene entschlossene Wille gewesen, die Herrn Lorenzo in den freien Fall befördert hatte. Dreizehn Stockwerke trug der Wohnkomplex, von dem Herr Lorenzo stürzte.
Sie huschte noch an seinem Augenwinkel vorbei, das Fräulein Schmidtchen, wie sie gerade ihre Sonnenblumen goss, die auf der Fensterbank verwelkten, und nur einen roten BH trug, und die Vermutung des Herrn Lorenzo war durchaus angebracht, dass auch untenrum nicht viel diesen astralen Körper versteckte. Sie sah etwas durchfeiert aus, noch nicht abgeschminkt. Diese Studenten, dachte sich Herr Lorenzo mit Ausrufezeichen, können schön ausschlafen, während sich unsereins schon Hals über Kopf in den Freitod schmeißt. Aber es war ja nicht so, dass er der jungen Frau ihre bewegte Zeit nicht gegönnt hätte. Oft hatte er sie im Treppenhaus mit jungen Männern eingehakt angetroffen. Aber sie hatte ihn immer nett gegrüßt, immer. Vielleicht hätte er sich doch einmal mit ihr unterhalten sollen, vielleicht hätte man ja ein Thema gefunden, wenn auch ein so junges und hübsches Mädchen auf ihn nicht viel geben würde, wie es sich Herr Lorenzo im Vorbeistürzen dachte, aber ein morgendliches Lächeln von ihr hatte ihm doch immerhin oft den ach so grauen Alltag erfrischt. Wie belebend wäre da ein fröhliches Gespräch erst gewesen?
Noch im Nachträumen wurde Herr Lorenzo bereits in den festen Griff des Blickes der Frau Abermal gerissen. Hier wohnte sie also, diese alte Schreckschraube. Sie hatte die Lamellen in Beobachtungsposition gedreht, schräg nach unten gesenkt also, sodass sie einen sauberen Blick in den Innenhof genoss. Einen scharfen Blick oder ein Fernglas musste sie besitzen, die Alte, denn sie war stets überinformiert gewesen. Wie hatte sie nur von hier oben die Krawattenfarbe des Herrn Lorenzo erspähen können, um ihm dann, wenn man sich bei gutem Wetter einmal unter der Laube begegnete, zu berichten, er hätte ja immer dienstags und mittwochs die einheitliche Kombination an. Sie wusste durchaus, dass es dem Herrn Lorenzo nahelag, in seinem Job auf die Kombination zu achten. Mitunter hatte es sich zugetragen, dass die Frau Abermal Zettelchen mit Hinweisen, wie zum Beispiel dem, dass Herr Lorenzo es ja schon wieder versäumt habe, die Mülltonne an die Straße zu schieben, es stinke doch bestialisch, über die Türspione der Mitmieter geklebt hatte. Die wird er nicht vermissen, dachte Herr Lorenzo und schraubte seinen Blick schon mal zum folgenden Fenster.
Zu seiner Enttäuschung jedoch verbarrikadierten Rollladen den Blick in die Wohnung. Wer hier gelebt hat, hatte sich Herr Lorenzo schon immer gefragt. Vielleicht stand es einfach leer.
Umso mehr freute er sich, auf Etage zehn den Alexander anzutreffen, der, da er, ähnlich des Fräulein Schmidtchens, sich gerade erst in seine Klamotten arbeitete und sehr verschlafen dreinblickte. Alexander hatte Herrn Lorenzo einmal bei einem Computerproblem geholfen und man war ins Gespräch gekommen. Gerade noch erblickte Herr Lorenzo, und dies durchaus zu seiner Verwunderung, das Fräulein Schmidtchen. Angezogen wohlgemerkt. Immer schon hatte sich Herr Lorenzo gedacht, dass der lebensfähige Alexander und das promiskuitive Fräulein Schmidtchen ein, wenn auch nicht auf den ersten Blick, hübsches Paar abgeben würden. Sie schienen sich zu streiten, zumindest gestikulierten die beiden wie Taubstumme.
Nur einen flüchtigen Blick warf Herr Lorenzo in die Wohnstube des Herrn Ubermann. Sie hatten sich stets mit mangelnder Wertschätzung betrachtet, waren mehr gequält als freundlich grüßend aneinander vorbeigelaufen. Es war durchaus dieselbe Branche, dasselbe Geschäft, indem sich die beiden bewegten. Man hatte es mal versucht, ein Gespräch, einen Plausch, einen Smalltalk zu finden, aber vergebens. Nur einmal, sie schienen dieselbe Eigenart zu haben, die Mülltonne zu missachten und dadurch die Missgunst der Schreckschraube zu ernten, hatte man sich zusammen beklagen können. Vielleicht ist es das Parallele, das mich an ihm so anwidert, grübelte Herr Lorenzo, der schon oft vermutet hatte, sich selbst im Herrn Ubermann wiedererkennen zu können, und so den Hass schürte, denn alles andere als zufrieden war Herr Lorenzo ja mit seinem Leben. Nicht grundlos fiel er zielstrebig auf die Rasenfläche des Innenhofes zu. So war er froh, dass der flüchtige Blick nicht mehr als ein Nichtvorhandensein des Herrn Ubermann verriet und er so getrost weiterstürzen konnte.
Da erfreute es den Herrn Lorenzo doch umso mehr, die Familie Dreimann, bei der er schon des Öfteren einen netten Abend bei Wein und Essen genossen hatte, beim Weihnachtsfestmal zu erblicken. Sie hatten nie nach seiner verstorbenen Frau gefragt, man hatte ihm nie eine glückliche Familie unter die Nase reiben müssen. Gerne hatte er mit den Kindern gespielt, hatte sie auch das ein oder andere Mal übernommen, wenn die Eltern einmal im Arbeitsstress unterzugehen vermochten. Unentgeltlich, freilich. So waren auch die Essen, zu denen er ab und an geladen war, ein Dankeschön, eine Aufmerksamkeit dafür. Auch das Weihnachtsfest hatte er schon die letzten drei Jahre bei ihnen verbracht. Die Kinder hatten sich immer gefreut und er war, wenn auch nur an diesem einen Tag, ein Teil der großen und lebhaften Familienbande der Dreimanns gewesen. Umso zorniger wurde er, desto länger er diese schöne Erinnerung schmelzen ließ, und dabei den Herrn Ubermann am Truhthahntisch erzählen sah. Er hatte diesen unmöglichen Menschen schon länger im Fokus, wollte es aber nicht für wahr haben wollen, es einfach nicht glauben können. Da hatte man ihn einfach ausgetauscht, ersetzt, ausgewechselt, substituiert! Und wie er da saß und gestikulierte, als würde er von fernen Welten berichten, pah, nahezu widerlich! Anmaßend, anmaßend war das! Jawohl: anmaßend! Er hatte nie so ausgiebig das Tischgespräch an sich gerissen. Er hatte es immer etwas höflicher und zuvorkommender gehalten, schließlich sei man Gast.
Die Überlegung schließlich, warum es plötzlich Winter, Weihnachten sogar, geworden war, wie das überhaupt sein konnte und überhaupt, kam Herrn Lorenzo erst in den Sinn, als Schneeflocken in seinen Mund strömten und auf seiner Zunge verstarben.
Im siebenten Stock fand er nichts weiter als das Ehepaar Hubsch. Sie saß im Wachslicht zu guter Literatur, er verfolgte das nächtliche Fernsehgeschehen, etwas tiefer in der Wohnung im Sofa gebettet. Wie langweilig!
Aber schätzenswerte Übermieter wahren sie, das Glück musste sich Herr Lorenzo ja einräumen. Laut waren die nie!
Seine Wohnung war kahl, war ausgeräumt, war möbellos. Ein Polizist stand in der Mitte, über ihm baumelte eine Glühbirne, und Magdalena führte mit ihren Tränenworten die Stiftlinien des Polizisten auf dessen Notizzettel. Magdalena wohnte unter ihm, hatte sich bei gegebenem Anlass nach dem Rechten erkundigt, wenn es über ihr gerumpelt hatte, dem Herrn Lorenzo sein Saxofon aus den alkoholschwitzigen Händen gerutscht und auf den Boden geknallt war. Der Rechte ist nicht hier, aber der Linke müsste gleich nachhause kommen, hatte er immer geantwortet. In abgeänderter Form und verschiedenen Varianten, versteht sich. Oft rutschte dem Herrn Lorenzo sein Instrument aus den Händen, oft wartete er vergeblich, trank dann doch, selten kam sie unmittelbar hochgestürmt, polterte an der Tür und Herr Lorenzo konnte eine neu überlegte Variante des Rechten und des Linken zum Besten geben, die er sich auf der Arbeit ausgedacht hatte. Ihr beruhigtes Lachen war es ihm wert gewesen. Dann hatte er noch gesagt, dass er einmal für sie spielen wolle, aber stets sagte Magdalena, es sei dafür jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt, woraufhin Herr Lorenzo ihr immer noch in den Rücken rief, dass er ja auch Wein habe, woraufhin wiederum keine Antwort durchs Treppenhaus hallte. Zuletzt war es ihr wohl einfach zu blöd geworden, denn sie kam nicht mehr, egal wie oft und stark Herr Lorenzo sein Saxofon auf den Boden schmetterte, wie intensiv und lange er stampfte und trampelte, sie kam nicht mehr, sondern Sirenen erfüllten den Innenhof und wenig später standen Schutzmänner vor seiner Tür und wollten sich nach dem Rechten erkundigen. Leider verstanden die Polizisten nicht einen seiner extra für Magdalena ergrübelten Scherze. Ob er denn ein so grausiger Saxofonist sei, fragte Herr Lorenzo dann immer. Ihr Instrument ist ja auch nicht schlecht verbeult, bekam er als Antwort.
Magdalenas Stube war für Herrn Lorenzo ein Erlebnis gewesen. Oft hatte er, mit dem Vorwandt Salz, Pfeffer oder Tischtücher zu benötigen, versucht, einen Blick in ihre Wohnung erhaschen zu können. Aber stets war die Türkette auf dem Posten und hereingebeten wurde Herr Lorenzo nie. Magdalenas Wohnung war zierlich, war zerbrechlich; schon durch einen falschen Blick, so hatte Herr Lorenzo das Gefühl, hätte eine dieser reichlich verzierten Vasen zu Bruch gehen können. Beinahe alles in dieser Wohnung schien aus Porzellan oder Glas zu bestehen, egal obs zur Zirde oder zum tatsächlichen Gebrauch benötigt wurde, und geschützt wurde es durch Glas und nicht gerade stabil aussehende Schränke.
Ein Stockwerk tiefer saß Paulchen auf einem Stuhl frei im Raum und blies mit der Oktavklappe noch genauso fürchterlich, wie in seiner letzten Sitzung mit dem Herrn Lorenzo. Wie oft hatte dieser ihm gesagt, er sollte das Saxofon horizontaler, gerader halten, gerade sitzen. Aber jetzt war es eh zuspäht, bei dem Jungen war Hopfen und Malz verloren.
Beinahe erschrocken hatte sich Herr Lorenzo, als er hinter der nächsten Fensterscheibe in die Augen eines kleinen Jungen blickte, welcher ihm gänzlich unbekannt war. Er trug schon seinen Schlafanzug und einen Teddy hatte er im Arm, nuckelte am Finger der anderen Hand. Etwas entgeistert schaute er, als würde er nicht jeden Tag einen Mann an seinem Fenster vorbeistürzen sehen. Für einen kurzen Moment dachte Herr Lorenzo, den Jungen noch winken zu sehen.
Die Toruglus waren durchaus eine sehr nette Familie. Eine Menge waren sie, ein ganzes Dutzend. Herrn Lorenzo war es immer etwas peinlich, wenn er einen der Bande mit einem anderen verwechselte, wobei er, was ihm manchmal noch etwas peinlicher war, keinen der Namen auch nur annähernd hätte korrekt aussprechen können. Er sah sie alle beisammen am Frühstückstisch, der Vater, ein wirklich eleganter Mann, mit dem Herr Lorenzo schon viele gute und kluge Worte gewechselt hatte, schimpfte und fluchte einmal durch die Bank. Ein drolliger Anblick.
Es war im Erdgeschoss, indem ich in die vorbeifliegenden Augen des Herrn Lorenzo blicken konnte, und er in meine. Ich schrieb gerade an einer Geschichte, Gott was weiß ich war die langweilig, als ich die Geschichte des Gustavo Lorenzo, so nach Auskunft seines Türschildes, in seinen Augen deutlich vor mir erkennen konnte. Und so schrieb ich sie nieder und hörte nur wenig später das Patschen des Gustavo Lorenzo auf den Rasen des Innenhofes.