Mitglied
- Beitritt
- 13.06.2006
- Beiträge
- 16
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Als Kinder mich retteten
Als Kinder mich retteten.
Es ist lange her, dass ich in einer Nachsorgestation arbeitete, in der Kinder mit schweren psychischen Problemen untergebracht waren. Die Einrichtung hatte einen guten Ruf.
Die Mitarbeiter waren nicht weniger problematisch als die Kinder.
Hier herrscht eisige Kälte, dachte als ich den ersten Tag dort anfing und dieser erste Eindruck blieb, solange ich in diesem Hause arbeitete.
Der Einrichtung war eine private Ersatzschule angegliedert und 12 Lehrer taten hier ihren Dienst. Sie arbeiteten, wie sie es für gut hielten, denn sie waren wie ich, nicht dem Heimleiter unterstellt, also frei. Das war ein ewiger Streitpunkt. Die übergeordnete Stelle erreichte irgendwann, dass die Schule den Status einer Förderschule E erhielt und staatlich wurde. Eine Schulleiterin begann ihren Dienst. Die Lehrer sabotierten die Schulleitung und instrumentalisierten die Kinder zum Kampf gegen die Leiterin.
In der Therapie berichteten die Kinder über Heldentaten, die mir gelegentlich die Zornesröte ins Gesicht trieben. Doch ändern konnte ich nichts. Ich war freiberuflich tätig, es war mir nicht erlaubt, mich in die Belange des Hauses einzumischen. Irgendwann drohte der Schule der Kollaps und ich war in großer Sorge um die Kinder.
Es war üblich, besonders schwierige Patienten aus dem Unterricht zu holen und die Therapie während der Unterrichtsstunden abzuhalten. Besonders dann, wenn ein Kind noch nicht integriert werden konnte, holte ich es aus der Schulstunde. Manchmal fragte ich mich in dieser Zeit, ob Kinder in dieser Atmosphäre überhaupt integrierbar seien.
Eines Tages ging ich an einem Klassenzimmer vorbei, aus dem Gepolter und entsetzliches Kindergeschrei erklang. Ohne lange zu überlegen, betrat ich den Raum. Was ich vorfand, war so entsetzlich, dass ich keine Zeit zur Überlegung hatte. Vorn stand die Lehrerin und wurde von den Kindern mit allem beworfen, was greifbar war. Sie duckte sich um den härtesten Wurfgeschossen auszuweichen. Da flog kein Papier, sondern alles was so ein Schulranzen fasste. Bücher, offene Füller, Kugelschreiber und ähnliche Dinge.
Ich schnappte einen Papierkorb und warf ihn gegen die Wand. Die Kinder, welche mir bislang keine Beachtung geschenkt hatten, hielten einen Moment inne. Den nützte ich zu einem lauten Schrei: „Ihr hört sofort auf, wollt ihr, dass es hier Verletzte gibt!“ „Ja“, riefen die Kinder und warfen weiter auf die Lehrerin, es war die Schulleiterin. Ohne zu überlegen packte ich einen Blumentopf, hob ihn hoch und warf ihn mit Karacho auf den Fußboden. Wieder eine kurze Pause. Jetzt wendete sich das Blatt. Die Blicke der Kinder richteten sich wutentbrannt auf mich und nun war ich an der Reihe, den auf mich fliegenden Gegenständen auszuweichen. Trotzdem gelang es mir, einige Sachen aufzuheben und gegen die Wand zu werfen. Die Lehrerin konnte aus dem Raum gehen. „Die bringen mich um“, dachte ich und war wild entschlossen nicht aufzugeben. Ein Buch traf mich gegen die Schulter. Der Schmerz verlieh mir Flügel. Ich warf in einer Heftigkeit, die ich von mir bisher nicht kannte, das Buch hinter mich und traf die Wandtafel, die wohl nur noch an einem Nagel gehangen hatte. Sie fiel mit lautem Krach herunter. Einige Kinder wollten sich darauf stürzen. Da hörte ich einen durchdringenden Schrei: „Sofort aufhören, sofort:“ Einer der Buben die zu mir zur Therapie kamen, stellte sich auf die heruntergefallene Tafel und ein zweiter folgte. Am Ende standen von zehn Kindern fünf auf der Tafel. Markus, der Anführer, stellte sich hin und brüllte den Rest der Kinder an: „Ihr verletzt meine Therapeutin nicht.“ Die Buben standen wie festgenagelt auf der Wandtafel, entschlossen, mich zu schützen. Eine völlig neue Situation: Ich war aus der Schusslinie. Sie starrten sich wütend an und keiner unternahm etwas. Langsam ließen sie ihre Arme sinken, sahen ihre Schulkameraden an und dann mich. Einer sagte: Oh, wir haben nicht die Lehrerin beworfen, das ist die Therapeutin.
Michael ein kräftiger Junge, durchbrach das betretene Schweigen und sagte: „Jetzt können wir wohl aufhören. Ein Junge nach dem anderen schickte sich an, schnell das Klassenzimmer zu verlassen. Nur Markus und Michael blieben. Wir räumten so gut es ging zusammen auf und verließen danach gemeinsam den Raum.
Die Schulleiterin stand unter Schock und musste nach Hause gebracht werden. Ich ging zurück in mein Zimmer und beschloss an diesem Tag nicht zu arbeiten, denn auch ich war geschockt.
In den nächsten Tagen herrschte betretenes Schweigen unter den Lehrern. Das hatten sie nicht gewollt. Die Schulleiterin meldete sich krank und kam nicht wieder. Hatten die Lehrer ihr Ziel erreicht?
Ich wusste es nicht. Noch lange war ich damit beschäftigt, das, was in mir zerbrochen war zu kitten. Was hatte mich in der Not denn gerettet?
Eine hauchdünne Decke von ein paar Kindern, auf deren Solidarität mehr Verlass gewesen war, als auf die Erwachsenen. Kinder mit schwersten Problemen hatten die Aggression ihrer Erzieher gelebt und jetzt mussten wir gemeinsam nicht nur deren oft entsetzliche Vergangenheit aufarbeiten, sondern auch das, was da geschehen war. Ich ging eher betroffen als therapeutisch mit der Situation um. Auch wenn ich niemand verletzt hatte, ich war in den Kampf hineingegangen und musste dieses Chaos aus meiner eigenen Betroffenheit heraus ordnen. Zusammen haben wir es geschafft, weil wir gemeinsam Grund hatten uns gegenseitig zu verzeihen.
Meine Achtung vor Markus und Michael ist bis heute ungebrochen.