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Als mein Vater schön wurde

Bas

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16.09.2018
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Als mein Vater schön wurde

Ich erinnere mich an unsere zwei letzten Begegnungen. Nummer eins, ich sitze in der Bahn und spüre seinen Blick in meinem Nacken, ich starre aus dem Fenster und draußen zieht die Nacht vorbei, ich spiegele mich in der Scheibe und sehe: Ihn. Ich steige aus, gehe den Weg entlang, vorbei an den Lagerhallen der Fabrik, im orangeroten Licht der Laternen, und er holt mich ein: Bleib doch stehen, er legt mir die Hand auf die Schulter: Was habe ich dir getan, warum hasst du mich, und in seinen versoffenen Augen stehen Tränen.

Nummer zwei, wie erhängt man sich hier, frage ich mich, ich kenne die Wohnungen in der Siedlung, ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, dass hier keiner in die Decken bohrt und ich weiß noch, wie mein Vater es doch getan und dann geflucht hat: Wie aus Pappe, was ein Scheiß, und ich kann mir deshalb auch nicht vorstellen, dass er da hängt, mein Bruder, aber wie soll er sich sonst umgebracht haben, ich kenne niemanden, der eine Knarre hat und er sicher auch nicht und während ich dort in der Nacht stehe und ich auf meinen Vater mit dem Schlüssel warte, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: Erhängen oder erschießen und jetzt stehe ich hier und warte auf meinen Vater und vor allem auf den Schlüssel, um in die Wohnung von meinem Bruder zu kommen, der nur geschrieben hat: Es tut mir leid, und dazu eine schwarze Taube, die in den Himmel fliegt, auf Instagram, und das hat mir gereicht und ich bin in dieselbe Bahn gestiegen wie beim letzten Mal und habe gedacht: Auf Instagram, was ein Scheiß, wie dumm kann man sein, und ich glaub's nicht, und trotzdem, und bei den Lagerhallen habe ich dann meinem Vater geschrieben: Hast du’s gelesen, ich bin gleich da, und da kommt er schon auf mich zu, hat nicht lange gedauert, die Siedlung ist ja nicht groß, er trägt seinen Jogginganzug und die Mütze und sieht fast aus wie immer, ist nur kleiner, aber vom Krebs schrumpft man ja nicht und vom Saufen auch nicht, also liegt es wohl einfach daran, dass ich selbst mittlerweile größer bin, erwachsen, über zwanzig, und das letzte Mal ist schon was her, bestimmt drei Jahre, und jetzt kommt er auf mich zu in seinem Jogginganzug und seiner Mütze, wie ein Dieb in der Nacht, und grinst ein bisschen, wenn ich mich nicht versehe, und schüttelt den Kopf: Der Kerl macht mich fertig, sagt er bloß und schüttelt weiter seinen Kopf und kramt in der Tasche und er sieht müde aus, merke ich jetzt, kein Wunder: Es ist spät, drei Uhr nachts, wahrscheinlich hat er geschlafen, aber er arbeitet ja immer noch Schicht, vermutlich, und da ticken die Uhren anders, da kommt man schon mal morgens um sechs von der Arbeit und trinkt sich einen an, wenn die Mama die Kinder für die Schule fertig macht, und wird laut, und wird dumm, und vielleicht war er also noch wach, vielleicht ist ist es also doch der Krebs, der ihn so müde wirken lässt, als er den Schlüssel aus der Jogginghose kramt und den Kopf schüttelt, den kleinen Kopf, der von der Mütze fast verschluckt wird, obwohl er sie zwei mal umgekrempelt hat und trägt wie ein Seefahrer, und ich sage nichts, in meiner Erinnerung, stehe nur da mit den Händen in der Tasche und warte, dass er die Haustür aufschließt und wir hoch können und ich gehe hinter ihm die Treppen hinauf und frage mich, warum er nicht den Aufzug geholt hat, denn jetzt muss ich hinter ihm hergehen, die Hand am Geländer und die Augen auf seinen Rücken gerichtet, der immer noch so breit ist unter der Adidasjacke, darauf war er ja immer so stolz, auf seine Muskeln, auf seinen Bizeps, meiner war ja nur Pudding und seiner steinhart und das habe ich immer dann zu spüren bekommen, wenn wir miteinander gekämpft haben, zum Spaß, dann hat er es genossen, der Stärkere zu sein und für mich war es okay, ich war ja schon froh, dass es diesmal nur Spaß war und ich war ja auch stolz, so einen Vater zu haben, die anderen Väter saßen im Büro und trugen Brillen und hatten Muskeln wie aus Pudding, aber meiner, meiner trug Holzlatten und Stahlplatten und zog Schrauben fest, aber jetzt schnauft mein Vater im dunklen Treppenhaus und ich frage mich, warum er nicht das Licht einschaltet und warum er nicht einfach den Aufzug nimmt, ob er vielleicht keine Schwäche zeigen will oder nicht mit mir in dem kleinen, hell erleuchteten Raum stehen mag, mitten in der Nacht, ob er Sorge hat, dass ich dann seine Falten sehe und wie alt er geworden ist, vielleicht will er nicht, dass ich ihm in die Augen sehe, vielleicht hat er nämlich gar nicht geschlafen, als ich angerufen habe, sondern war noch wach und am Saufen, wer weiß, und ich bin froh, als wir endlich oben sind und ich nicht mehr seinen Rücken vor mir habe, aber gleichzeitig habe ich Angst, als er gegen die Tür hämmert und niemand aufmacht, und er sagt: Hallo, Paul, bist du da, Paul, wir sind’s, und ich höre, wie seine Stimme zittert, als er das sagt: Paul, hallo, hallo, Paul, wie ein Echo, das immer leiser wird, und fast tut er mir leid, wie er da im Dunkeln steht und jetzt sicher Angst hat, dass er Paul überlebt hat, seinen Jüngsten, trotz Krebs, auch weil Paul ihn ja immer noch geliebt hat, trotz allem, und er dann nur noch mich hat, der ihn hasst, und er steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn und er zittert und fast finde ich ihn schön in seinem Jogginganzug und mit seiner Mütze, merke ich da, fast will ich ihn umarmen und seine Muskeln spüren und ihm sagen, egal, was mal war, jetzt sind wir hier, aber es ist wohl vor allem die Angst, die da spricht, die Angst vor dem, was gleich kommt, wenn mein Vater das Licht anmacht, und wohl auch, dass ich jetzt keine mehr haben muss, vor ihm, und dass er säuft und aggressiv wird und laut und mich jagt, und später Paul, durch die Wohnung, mit seinem Blick, wie ein Tier, und dann zupackt, und was soll’s, soll er doch schön sein, wo er jetzt ist, soll er doch schön sein, wo er liegt, tut mir nicht weh, niemals mehr.

 

Was habe ich dir getan, warum hasst du mich, und in seinen versoffenen Augen stehen Tränen.
Moin,

ab hier weiß ich, was im Text geschieht.

Ich tue mich schwer mit solchen Texten an sich, weil ich ein schwieriges Verhältnis (oder eher: Nicht-Verhältnis) zu meinem Vater habe. Deswegen sehe ich da wahrscheinlich anders hin, als andere Leser. Take it with a grain of salt!

Nummer zwei, wie erhängt man sich hier, frage ich mich, ich kenne die Wohnungen in der Siedlung, ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, dass hier keiner in die Decken bohrt und ich weiß noch, wie mein Vater es doch getan und dann geflucht hat: Wie aus Pappe, was ein Scheiß, und ich kann mir deshalb auch nicht vorstellen, dass er da hängt, mein Bruder, aber wie soll er sich sonst umgebracht haben, ich kenne niemanden, der eine Knarre hat und er sicher auch nicht und während ich dort in der Nacht stehe und ich auf meinen Vater mit dem Schlüssel warte, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: Erhängen oder erschießen, keine Tabletten, zum Beispiel, auf Tabletten komme ich nicht, obwohl ich's ja selbst schon versucht habe, mir war's zu viel, ich wollte sterben, ich hatte gegooglet und dachte Atemlähmung, okay, aber ich bin nur eingeschlafen und lange nicht aufgewacht
Der suizidäre Bruder. Gordon Lish sagt ja, man soll sich das aussuchen, was man in seinem eigenen Leben am meisten vermisst, die eigene Leerstelle, in dieser Echokammer entstehen die besten, schmerzhaftesten Texte. Fragt er sich wirklich, wie der Bruder da hängt? Wie das vonstatten geht? Das ist so ein Detail, ich weiß nicht. Einer meiner ältesten Freunde hat seinen älteren Bruder tatsächlich erhangen im Dachgeschoss gefunden, und ihm ist in Erinnerung geblieben, dass es ein Schalke-Fanschal gewesen ist. Er war selbst noch ein Kind, und da prägen sich einem sicher andere Details ein. Hier erscheint es mir aber eher so, dass sich der Erzähler weniger um seinen toten Bruder, als um sich selbst kümmert: am Ende geht es um seinen eigenen Suizidversuch. Das wirkt so untergeschoben, so lapidar, auch dass der Erzähler mit so einer Art Witz beginnt, diese Decken?, haha, wie soll das denn gehen?
Auf Instagram, was ein Scheiß, wie dumm kann man sein, und ich glaub's nicht, und trotzdem, und bei den Lagerhallen habe ich dann meinem Vater geschrieben: Hast du’s gelesen, ich bin gleich da, und da kommt er schon auf mich zu, hat nicht lange gedauert, die Siedlung ist ja nicht groß, er trägt seinen Jogginganzug und die Mütze und sieht fast aus wie immer, ist nur kleiner, aber vom Krebs schrumpft man ja nicht und vom Saufen auch nicht, also liegt es wohl einfach daran, dass ich selbst mittlerweile größer bin, erwachsen, über zwanzig, und das letzte Mal ist schon was her, bestimmt drei Jahre, und jetzt kommt er auf mich zu in seinem Jogginganzug und seiner Mütze, wie ein Dieb in der Nacht, und grinst ein bisschen, wenn ich mich nicht versehe, und schüttelt den Kopf: Der Kerl macht mich fertig,
Lagerhallen, Schichtarbeit, Suizid, Krebs, Saufen, schwieriges Verhältnis. So ein wenig das 1 x 1 der großen Dramatik, und das auf dem kleinen Raum ... warum? Ist das wirklich so passiert? Wenn da Autobiografisches drin ist, könnte ich das nachvollziehen irgendwie, aber so nimmt es doch nichts von der Wucht, wenn es ausschließlich um den Bruder geht, oder? Das Verhältnis zum Vater ist doch ein wichtiger Parameter in der ganzen Konstellation, und auch hier ist der Text auf der Kürze unentschlossen, was will er, um wen geht es, Vater, Bruder, den Erzähler, das Verhältnis der Dreien?
Es ist spät, drei Uhr nachts, wahrscheinlich hat er geschlafen, aber er arbeitet ja immer noch Schicht, vermutlich, und da ticken die Uhren anders, da kommt man schon mal morgens um sechs von der Arbeit und trinkt sich einen an, wenn die Mama die Kinder für die Schule fertig macht,
Auch so ein Topos: der saufende Schichtarbeiter. Ich denke, heutzutage dauert es nicht mehr lang, bis das bemerkt wird, und wenn du schwere und teure Maschinen besoffen bedienst, dann machst du das in der Regel nur einmal. Wir arbeiten viel für große Industriebtriebe, Mannstädt, Reifenhäuser, Walterscheid, die arbeiten im Drei-Schicht-System, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so eine Arbeit angetrunken durchzieht, ohne dass das bemerkt wird. Auch hier: welche Kinder? Oder ist das ein Rückgriff? Liest sich wie Präsens, als habe der Vater mittlerweile eine andere Frau mit schulpflichten Kindern, kommt so nicht eindeutig heraus, wenn es so gedacht ist.
in meiner Erinnerung,
Welche Erinnerung? Oder ist das Ganze unzuverlässig erzählt?

wenn mein Vater das Licht anmacht, und wohl auch, dass ich jetzt keine mehr haben muss, vor ihm, und dass er säuft und aggressiv wird und laut und mich jagt, und später Paul, durch die Wohnung, mit seinem Blick, wie ein Tier, und dann zupackt, und was soll’s, soll er doch schön sein, wo er jetzt ist, soll er doch schön sein, wo er liegt, tut mir nicht weh, niemals mehr.
Geht es denn um Angst? Nein, es geht doch eher darum, was ihm, dem Erzähler, und wohl auch Paul, angetan wurde, oder nicht? Jetzt ist der Vater schwach, der Erzähler hat keine Angst, aber sein Bruder hat sich umgebracht, oder wahrscheinlich umgebracht - denkt er da wirklich die ganze Zeit an seinen Vater? Wie war eigentlich das Verhältnis zu seinem Bruder, da wird kaum ein Wort drüber verloren. Nur kurz: Paul liebt den Vater noch, der Erzähler hasst ihn. Aber warum genau? Ist Paul nicht verdroschen worden, und wenn nicht, warum nicht? Oder warum liebt Paul den Vater trotz der Gewalt? Warum ist der Erzähler überhaupt da? Kann der Vater das nicht alleine regeln? Oder hat er das zuerst auf Instagram erfahren und warum ruft er dann den verhassten Vater zuerst an? Hat Paul keine Freundin, Freunde, sind da keine anderen Bezugspersonen?


Die Idee, die beiden bei diesem speziellen Ereignis aufeinandertreffen, kollidieren zu lassen, finde ich gut, aber in der jetztigen Form liest sich das für mich unausgewogen, unausgegoren, sehr schnell drübergehuscht, ich bekomme das komplexe Verhältnis, das es ja geben muss, das Schweigen über die Vergangenheit, das Verschwiegene, wie der Vater darauf reagiert, das fein Verästelte, der Schmerz, das wird verschluckt. Nicht zuletzt auch von diesem Kulissenhaften.

fast finde ich ihn schön in seinem Jogginganzug und mit seiner Mütze, merke ich da, fast will ich ihn umarmen und seine Muskeln spüren und ihm sagen, egal, was mal war, jetzt sind wir hier,
Das ist der Punkt, das Vergeben, ohne zu vergessen. Aber bis das möglich ist, muss doch etwas in einem vorgehen, warum denkt er das jetzt, im Angesicht des Suizids seines Bruders? Würde sich da nicht eher die Tendenz der Schuld verstärken, ist der Vater nicht auch mitschuldig, mitverantwortlich? Hat der Erzähler ein so großes Sühnerherz, dass er überhaupt diesen Gedanken in sich aufkeimen lässt? Hat etwas Christliches, so die Randfiguren müssen ja doch auch irgendwie erlöst werden, auch wenn sie Schuld auf sich geladen haben. Und findet er ihn wirklich schön? Ist schön hier der korrekte Begriff? Ich weiß nicht.

Mir kommt die Gewichtung nicht richtig vor. Der Suizid wirkt wie ein Aufhänger für den Rest, und das macht ihn zum Gimmick, obwohl sich daran alles an Narrative entzünden könnte. Ich denke, du willst das mit deiner dir eigenen Stilistik lösen, das Fließende, aber hier würde ich für schlichte, reduzierte Prosa werben, die auch mit mehr Dialog arbeitet, die auch Zeit mit Schweigen verstreichen lassen kann, die dieses Kollidieren wirken lässt im Angesicht der nahenden oder schon geschehenen Tragödie.


Gruss, Jimmy

 

Hallo @Bas,

eigentlich wollte ich es fürs Wochenende gut sein lassen mit WK, aber dann habe ich deine Story gelesen. Und da ich ein Fan erster Eindrücke und Impulse bin, kommentiere ich doch noch schnell.

Generell hast du ein Themenspektrum, das mich sehr anspricht. Es trifft einen Nerv bei mir, wie damals auch dein Text "Stacheln", den ich ja recht umfangreich kommentiert hatte. Dieser Text hier erinnert mich übrigens auch noch sehr stark an einen Text von einem User namens @hell, nämlich diesen hier: https://www.wortkrieger.de/threads/...l-mein-vater-das-so-wollte.67821/#post-757789. Das ist einer der Texte, die mir von allen hier im Forum mit am stärksten in Erinnerung geblieben sind.

Also noch einmal: Deine Texte treffen meistens einen Nerv bei mir, auch sprachlich. Aber sie biegen dann alle auch irgendwo ab und verlieren mich wieder ein Stück weit. Ich glaube, das liegt einerseits daran, dass du – wie soll man es sagen? ... recht lyrisch schreibst. Deine Texte sind immer sehr feinsinnig und fast schon zärtlich auf ihre Weise. Das macht sie phasenweise super stark, aber in der Summe wird mir das dann zu viel des Guten. Es rutscht für mich dann ein wenig ins Pathetische ab, nicht direkt ins Schwülstige, aber ins Unscharfe, so will es mal nennen. Der Plot tritt immer mehr in den Hintergrund, es wird immer assoziativer, dadurch irgendwann auch beliebig(er), die Worte nehmen sich gegenseitig die Wucht.

Neuerdings hast du dir darüber hinaus noch diesen kommalastigen, fiebrigen Endlossatzstil zu eigen gemacht, der voll in dieselbe emotionale Kerbe stößt wie die Wortwahl und die offenherzigen Gefühlsäußerungen der Figuren. Summa summarum: Drama pur, da stimme ich mit @jimmysalaryman überein, und das nutzt sich eben schnell ab beim Lesen.

Hier sei kurz Schopenhauer vorgeschoben: "Jedes überflüssige Wort wirkt seinem Zweck gerade entgegen", hat er gesagt und das ist einer meiner persönlichen Richtschnüre beim Schreiben. Oder besser gesagt: beim Überarbeiten, denn ich neige von Natur aus zur Geschwätzigkeit, wie man vielleicht merkt :lol: Da muss ich immer bewusst gegen anarbeiten und ich denke, das könnte auch ein Rat für dich sein, weniger weil du abschweifst, sondern im Gegenteil, weil du zu eng und zu explizit um die Kernthemen kreist.

Beispiel dieser Text hier: Der Erzähler offenbart im Grunde alles. Klar, man kann wie @jimmysalaryman ganz tief graben und noch Fragezeichen finden, aber liest man den Text einmal naiv durch, so hat man erzählt bekommen, dass sich der Bruder des Erzählers aufgehangen hat, dass der Vater ein prügelnder Alkoholiker, also vermutlich schuld ist, und dass der Erzähler diesen Vater hasst, wobei dieses Gefühl erwartungsgemäß ambivalent ist, denn es bleibt ja sein Vater. All das ist Schwarz auf Weiß ausbuchstabiert, es formt sich nicht durch die Handlung und die Dialoge im Leser.

In der Hedda war es ähnlich, auf den zweiten Blick allerdings: Der Text ist zwar mysteriös und voller Leerstellen, aber mir schien es so, als würde er das, was er offenbaren soll, ebenfalls sehr direkt offenbaren. Habe ihn gerade noch einmal überflogen und es steht auch dort alles Schwarz auf Weiß drin, was man in die Deutung mitnimmt. Zum Beispiel sagt Hedda selbst, dass sie schwach ist und vieles nicht mehr kann, dass sie Schmerzen hat. Aber auch, dass das Kind Schutz sucht und dass "die Männer Narben reißen" und anderes.

Indirekter erzählt wäre (rein fiktiv und aus der Luft gegriffen), wenn Hedda dem Vater des Kindes begegnen würde und dann eine Reaktion zeigte, die darauf schließen lässt, dass sie sich sehr unwohl und bedroht fühlt. Dann wäre nämlich erst die Deutung des Textes, dass sie traumatische Erfahrungen mit Männern oder sogar ihrem Vater gemacht hat, es wäre nicht der unmittelbare, von der Figur geäußerte Inhalt. Weniger indirekt, aber immer noch indirekter als momentan wäre, wenn Andeutungen in einem Dialog gemacht würden.

Weißt du, was ich meine? Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig rüberbringe. Ich meine einfach, dass deine Texte generell etwas mehr Plot, Handlung und Dialog vertragen würden, um ihre Aussagen zu treffen und Stimmungen zu erzeugen. Ich glaube, davon würden sie stark profitieren und es würde ihnen auch etwas vom teils gehetzten Tempo nehmen, denn diese Dinge fordern automatisch mehr Raum ein.

Soweit mal. Schaue vielleicht in ein paar Tagen noch mal hier vorbei, aber das waren so meine unmittelbaren Gedanken.

Freundliche Grüße

 

Hallo @jimmysalaryman,

tut mir leid, dass die Antwort so lange gedauert hat, aber nach einer krankheitsbedingten Auszeit hat der Alltag mich wieder eingeholt und ich finde derzeit keine Lücke, um zu schreiben oder auch nur darüber nachzudenken. Doch, jetzt gerade mal kurz, deshalb bin ich hier :)

Hier erscheint es mir aber eher so, dass sich der Erzähler weniger um seinen toten Bruder, als um sich selbst kümmert: am Ende geht es um seinen eigenen Suizidversuch. Das wirkt so untergeschoben, so lapidar, auch dass der Erzähler mit so einer Art Witz beginnt, diese Decken?, haha, wie soll das denn gehen?

Das war genau die Richtung, die ich einschlagen wollte: Der Erzähler nähert sich hier vor allem sich selbst an. Vielleicht sehr zaghaft, irgendwie distanziert, wie ein scheuer, entlaufener Hund (vor meinem Fenster gab es heute morgen lautes Krähengekrächz, weil ein herrenloser Chihuahua durch die Büsche gehuscht ist) und vielleicht glückt es auch gar nicht. Und ich weiß auch, dass das unsympathisch wirken könnte: Der Bruder begeht möglicherweise Suizid, der Vater stirbt und der Erzähler kreist um sich selbst, warum soll man so einem Erzähler zuhören?
Aber das wollte ich hier in Kauf nehmen. Ich habe den Text ein Stück weit als Experiment betrachtet, ein recht persönliches, wie du selbst vermutest, und eines, das auch "scheitern" darf. Aber natürlich habe ich auch bei einem Experiment die Ambition, Literatur zu fabrizieren, deshalb helfen mir deine Eindrücke sehr.

Auch so ein Topos: der saufende Schichtarbeiter. Ich denke, heutzutage dauert es nicht mehr lang, bis das bemerkt wird, und wenn du schwere und teure Maschinen besoffen bedienst, dann machst du das in der Regel nur einmal. Wir arbeiten viel für große Industriebtriebe, Mannstädt, Reifenhäuser, Walterscheid, die arbeiten im Drei-Schicht-System, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so eine Arbeit angetrunken durchzieht, ohne dass das bemerkt wird. Auch hier: welche Kinder? Oder ist das ein Rückgriff? Liest sich wie Präsens, als habe der Vater mittlerweile eine andere Frau mit schulpflichten Kindern, kommt so nicht eindeutig heraus, wenn es so gedacht ist.

Welche Erinnerung? Oder ist das Ganze unzuverlässig erzählt?

Da steht ja nirgendwo, dass er besoffen arbeitet, er kommt heim und säuft. Und schon im Einstieg wird doch deutlich erwähnt, dass er sich erinnert, dass das alles eine Erinnerung ist, deshalb überlagern sich hier und da auch die Zeiten, wie das beim Erinnnern halt so ist, der Text ist absichtlich so gestaltet. Das klingt vielleicht paradox, aber wenn du sagst: unausgewogen, unausgegoren, sehr schnell drübergehuscht, ich bekomme das komplexe Verhältnis, das es ja geben muss, das Schweigen über die Vergangenheit, das Verschwiegene, wie der Vater darauf reagiert, das fein Verästelte, der Schmerz, das wird verschluckt, dann ist das genau der Effekt, den ich erzielen wollte in dieser Annäherung. Lose Enden, die auch lose bleiben dürfen.

Gleichzeitig verstehe ich aber, dass dich das als Leser nicht befriedigt und vielleicht - höchstwahrscheinlich sogar - ist die Ausführung meines "Plans" da auch einfach missglückt, vielleicht müsste hier Vieles umgewichtet werden, damit dieses Unausgegorene auch irgendwie mitreißt und nicht zu belanglosen Erinnerungsfetzen verkommt. Und vielleicht müsste ich mich auf der Kürze auch auf ein Drama konzentrieren.

Hat der Erzähler ein so großes Sühnerherz, dass er überhaupt diesen Gedanken in sich aufkeimen lässt? Hat etwas Christliches, so die Randfiguren müssen ja doch auch irgendwie erlöst werden, auch wenn sie Schuld auf sich geladen haben. Und findet er ihn wirklich schön? Ist schön hier der korrekte Begriff? Ich weiß nicht.

Ich meine mich erinnern zu können, dass du das in einer anderen Geschichte von mir, die quasi dasselbe Thema behandelt, auch hinterfragt hast. Und ich weiß nicht mehr, was ich damals darauf entgegnet habe, aber heute, mit noch etwas mehr Abstand, kann ich sagen, dass ich persönlich doch immer wieder in diese Richtung drifte: Ich sehe all die Schattenseiten, versuche aber immer wieder, das Gute zu sehen.
Ich denke nicht, dass man nur, weil ein Mensch gestorben ist, diesen zu einem Heiligen machen muss und dass ein Arschloch auch tot noch ein Arschloch sein darf. Ich denke aber, dass auch ein Arschloch nicht ausschließlich Arschloch ist und ich bemühe mich immer, ein vollumfängliches Bild von einer Sache zu bekommen. Das hat nichts mit Christlichkeit zu tun, das ist einfach ein teifsitzendes Verlangen: Verstehen zu wollen, was erst mal unverständlich wirkt.

Mir kommt die Gewichtung nicht richtig vor. Der Suizid wirkt wie ein Aufhänger für den Rest, und das macht ihn zum Gimmick, obwohl sich daran alles an Narrative entzünden könnte. Ich denke, du willst das mit deiner dir eigenen Stilistik lösen, das Fließende, aber hier würde ich für schlichte, reduzierte Prosa werben, die auch mit mehr Dialog arbeitet, die auch Zeit mit Schweigen verstreichen lassen kann, die dieses Kollidieren wirken lässt im Angesicht der nahenden oder schon geschehenen Tragödie.

Ja, ich denke, das fasst es ganz gut zusammen und ich hoffe, bald wieder mehr Kapazität für das Schreiben zu haben. Dann möchte ich mich weiter an die Sache annähern und deinen Hinweis hier behalte ich dann im Hinterkopf - gut möglich, dass ich genau denselben Text dann noch mal in einer neuen Form verwurschtel.

Vielen Dank fürs Vorbeischauen auf alle Fälle. Und an der Stelle hier auch danke für deinen Challengetext, den ich sehr, sehr gerne gelesen habe. Der mir auch gut aufzeigt, wie man sich auf anderem Weg an die eigene Vergangenheit annähern kann.

Hallo @H. Kopper,

auch dir vielen Dank fürs Vorbeischauen.

Es fällt mir ein bisschen schwer, auf deinen Kommentar zu antworten, da du darin ja eher grundsätzlich mein Schreiben analysierst und aufzeigst, wo du persönlich dabei immer wieder ins Stolpern gerätst.

Die von dir angesprochenen Punkte sind mir größtenteils bewusst und es schadet auch nicht, die noch mal von einem Außenstehenden zu hören, im Gegenteil, deshalb danke für deine Offenheit. Ich würde vieles davon gerne ändern, allerdings bin ich vor allem froh, überhaupt in irgendeiner Form schreiben zu können und das ist nun mal die, die mir derzeit, zwischen all dem ... Gelebe, übrig bleibt - schnell mal eine Stunde in die Tasten hauen und gut ist. Aber ich bin beinahe täglich drauf und dran, meinen Job hinzuschmeißen und eine Selbstversorgerhütte im Wald zu beziehen und dann schreibe ich endlich seitenlange Dialoge :shy: ...

Nein, ernsthaft, danke für deine Beschäftigung mit meinem Schreiben und auch mit diesem Text hier, der ja an denselben Stellen krankt wie viele meiner anderen auch. Ich hoffe wirklich, da in naher Zukunft noch den Switch zu finden, um dann mit noch mehr Ernsthaftigkeit in die Tiefe gehen zu können.

Bas

 

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