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Alter Freund
Harry stand vor einer weißen Tür mit einem goldenen Schild, auf dem „173“ stand. Harry befand sich in einem großen Krankenhaus in Frankfurt. Über den Flur hasteten Krankenschwestern, deren weiße Kittel hinter ihnen herwehten und Ärzte, die, wie Harry. an ihren Augen erkennen konnte, total überarbeitet waren.
Harry strich sich mit der rechten Hand durch das, was von seinem ehemals dichten Haar übrig geblieben war. Harry war Anfang 60 und er merkte das bei jedem Treppensteigen und bei jeder körperlicher oder geistiger Anstrengung.
Jetzt drückte Harry die Klinke der Tür herunter und ging in das dahinterliegende Krankenzimmer. In dem kleinen Raum stand nur ein Bett. Ein Mann lag mit dem Rücken zu Harry darin und döste. Als er das Geräusch der schließenden Tür hörte drehte er sich um: „Harry! Ich habe gewartet!“, brachte er mit schwacher und heiser klingender Stimme hervor. „Joe, wie geht es dir?“ „Es frisst mich auf!“ Harry nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett des Kranken, der sich inzwischen aufgerichtet hatte.
Harry blickte sich um, seit seinem letzten Besuch hatte sich nicht viel verändert. Das Zimmer war immer noch, bis auf zwei Blumenvasen sehr kahl und es wirkte äußerst kühl. „Hast du es?“, fragte Joe mit zittriger Stimme. Harry überlegte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. „Ich habe es, aber ich denke du solltest es nicht bekommen!“ „Zeig es mir!“ Harry kramte in der Tasche seiner Jeans und fand das Döschen, nach dem Joe verlangte. Es war eine durchsichtige Dose, in die man normalerweise Filme tat, die man entwickeln lassen wollte. In der Dose klapperten zwei weiße Pillen. Joe griff nach dem Döschen, doch Harry zog die Hand zurück, so dass das Döschen in weite Entfernung von Joes Hand gebracht wurde. „Ich weiß nicht….“, begann Harry und er senkte den Kopf und starrte die weißen Fliesen an, mit denen der Boden des Zimmers bedeckt war. Harry spürte, dass Joe den Blickkontakt suchte, aber Harry starrte weiter auf den Boden. „Gib sie mir, bitte!“ „Joe, wir haben alles zusammen durchgemacht! Wir waren auf demselben Gymnasium, in derselben Klasse, wir haben zusammen studiert, selbes Fach. Danach haben wir in derselben Firma gearbeitet, zwar nicht in derselben Abteilung, aber trotzdem waren wir immer beste Freunde oder?“ „Na klar!“, hauchte Joe. „Wir haben 50 Jahre unseres Lebens immer zueinander gehalten! Und jetzt, jetzt willst du, dass ich dir ein Mittel gebe, damit du dich umbringen kannst? Ich kann das nicht, du hast mich mein ganzes Leben lang begleitet, wir haben viel ausgefressen, aber immer haben wir zusammengehalten!“ Erst jetzt wagte es Harry wieder Joe in die glasigen Augen zu blicken. „Weißt du noch, als deine Frau dich verlassen hatte? Wer hat sich eine Woche lang jeden Abend mit dir betrunken?“ „Du, also wir sind die besten Freunde und guten Freunde sollte man etwas geben, wenn sie es wollen!“
Harrys t-shirt klebte dank seinem schweiß an seinem rücken, doch es war nicht nur die Wäre dieses Sommernachmittags, die ihn schwitzen ließ. Er stand vor einer Entscheidung. „Wenn ich dir das Mittel gebe, dann bist du bald nicht mehr, an wen soll ich mich dann wenden? Du warst der Hauptanlaufpunkt in meinem Leben, neben meiner Familie. Wenn ich es dir ermögliche, dich umzubringen, dann bin ich ein Mörder!“ „Nein, Harry!“ Joe legte seine Hand auf Harrys Oberschenkel. „Du bist ein guter Mensch, betrachte das als eine Gefälligkeit, die du deinem besten Freund tust!“
Harry blickte sich im Zimmer um. Über dem Bett hing ein Kruzifix. Harry hatte nie an Gott geglaubt. Und wenn es Gott geben würde, hätte Harry nicht viel von ihm gehalten. Denn ein guter Gott hätte ihn nie vor so eine Entscheidung gestellt.
Harry hatte einen Entschluss gefasst, er würde Joe das Mittel überlassen, er soll dann selber entscheiden, ob er es nimmt oder nicht.
Harry gab Joe die Dose mit den Pillen. Normalerweise weinte er nicht, aber in diesem Moment hatte er sehr viel Mühe, die Tränen wegzublinzeln. Als er Joe umarmte und Harry wusste, dass dies das letzte Mal im Leben sein würde, fing er bitterlich an zu weinen.
Erst nach einiger Zeit hatte Harry genug Kraft um Joe wieder loszulassen. „Danke, du hast was gut bei mir!“, sagte Joe, nachdem Harry aufgestanden war. Er versuchte zu lächeln, doch es misslang kläglich. „Harry, du warst der beste Freund, den man sich vorstellen kann, wir sehen uns auf jeden Fall im Himmel!“ Harry hatte nicht die Kraft etwas zu erwidern. Er ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Er setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Aufzug stand und fing an zu schluchzen. Er wartete auf den Alarm, auf den hin alle Bediensteten sofort in Joes Krankenzimmer eilen würden. Nach etwa einer halben Stunde ertönte ein schriller Ton und ein paar Schwestern liefen sofort in Joes Zimmer.
"Tschüss alter Freund!", sagte Harry leise, bevor er aufstand und ging