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Alter Sack
Alter Sack
Das darf doch wohl nicht wahr sein! Sven macht wirklich nicht häufig blau und ausgerechnet heute, an diesem wunderschönen Junitag, an dem es doch echt buchstäblich cooler ist, ins Schwimmbad zu gehen, als in die Schule, zieht es auch einen seiner Lehrer ins kühle Nass und zwar seinen Deutschlehrer Lehmann, Oberstudienrat Werner Lehmann.
Sven kann Lehmann nicht leiden und umgekehrt ist es auch so; warum - darüber haben sich beide noch keine Gedanken gemacht. Vielleicht weil Sven ein sportlicher Typ ist und auch deshalb ein bisschen großmäulig und Lehmann ziemlich alt und auch deshalb oft schlecht gelaunt.
Heute allerdings ist Lehmann relativ gut gelaunt, zumindest bis er Sven sieht, denn er hat donnerstags nur drei Unterrichtsstunden und kann deshalb schon jetzt, um 11 Uhr, im Schwimmbad sein.
Lehmann (Bademütze über dem schütteren Haar, altmodisch-karierte Badehose über den Schmeerbauch bis über den Nabel gezogen) schlurft auf die Dusche am Beckenrand zu, um sich - vorschriftsmäßig - vor dem Schwimmen abzukühlen, als Sven (seine langen Haare in der Sonne trocknend, neongelbe Bermuda-Shorts unter einem makellosen Waschbrettbauch) gerade direkt am Beckenrand - vorschiftswidrig - eine Zigarette raucht.
Als Sven in Lehmanns Blickfeld gerät, ist seine Zigarette einem verlegenen, scheinbar freundlichen Grinsen gewichen und er quält sich ein: „Tach, Herr Lehmann“ ab, was dieser mit einem spöttisch-mürrischen „Tach! Krank - was?“ quittiert.
Lehmann ist dieses Zusammentreffen, wenn auch natürlich aus anderen Gründen, genauso unangenehm wie Sven und er steigt deshalb so schnell wie möglich, aber doch recht schwerfällig, ohne Sven weiter zu beachten, die chromblitzende Schwimmbeckenleiter hinab und lässt sich ins Wasser gleiten. Vorsichtig, denn seit einiger Zeit können seine Augen Chlorwasser überhaupt nicht mehr vertragen. Mancher hätte von einer Allergie geredet, Lehmann verflucht nur insgeheim sein Alter, auf das er auch diese Probleme mit dem Chlorwasser zurückführt.
Also zieht Lehmann behutsam, fast ängstlich seine Bahnen, den Kopf krampfhaft nach hinten gestreckt, nicht einmal sein Kinn wird nass. Sven hat sich inzwischen zu einer Cola auf die Schwimmbad-Terrasse zurückgezogen und sein Grinsen wird immer breiter, natürlich lässt er sich dieses Schauspiel, wenn auch aus einiger Entfernung, („Vielleicht vergisst der alte Sack mich ja?“) nicht entgehen, denn Lehmann schwimmt noch schlechter, als Sven Aufsätze schreibt.
Aber immerhin, Lehmann schwimmt und er schwimmt lange, schon 15 Minuten und Sven schaut schon öfter auf eine Gruppe junger Männer, die unter viel Gejohle immer wieder auf möglichst ungewöhnliche oder komische Art und Weise vom 3-Meter-Brett springen, und nicht mehr so oft auf Lehmann, der unbeirrt seine Bahnen zieht, nun schon 20 Minuten.
Plötzlich werden am Rande des tiefen Sprungturmbeckens, das an einer Ecke an das Schwimmbecken grenzt, aufgeregte Stimmen laut: „Der kommt ja gar nicht mehr hoch, der bewegt sich nicht mehr!“ hört Sven aus dem Stimmengewirr heraus und schließlich brüllt jemand: „Hilfe! Bademeister!“
Noch bevor der auch schon etwas ältere Bademeister aus seiner Kabine kommt und um das Schwimmbecken zum Sprungbecken läuft, ist Lehmann bereits unterwegs: in vorbildlichem Stil und mit einem für sein Alter schier unglaublichen Geschwindigkeit krault er auf das Sprungbecken zu, trifft einige Sekunden früher als der Bademeister ein, wichtige Sekunden früher, taucht sofort ab und schleppt den leblosen Körper eines jungen Mannes an die Wasseroberfläche und an den Beckenrand.
Hastig wird der von seinen Freunden auf den Beckenrand gezogen und der Bademeister beginnt mit Wiederbelebung. Lehmann, völlig ausgepumpt, seine Augen ähneln denen eines Albino-Kaninchens, hält sich, keuchend um Atem ringend, an der Überlaufrinne fest.
Doch niemand beachtet ihn, alle Aufmerksamkeit, auch die von Sven, der sich inzwischen unter die Neugierigen gemischt hat, die der Vorfall angelockt hat, gilt den Bemühungen des Bademeisters und dem jungen Mann, der aber rasch erste Lebenszeichen von sich gibt, röchelnd einen Schwall Chlorwasser ausspeit und schon wenig später über die freundlich-derben Kommentare seiner Kumpels grinsen kann.
„Glück gehabt“, begrüßt ihn der Bademeister in seinem neuen Leben, „da kannst du Herrn Lehmann aber dankbar sein!“ Alle Augen richten sich auf den Beckenrand, doch Lehmann ist dort nicht mehr - man sieht ihn, immer noch offensichtlich schwer atmend, auf die Dusche zuschlurfen.
„Typisch Lehmann“, sagt der Bademeister, wohlwollend lächelnd, „Rummel mag er keinen, nicht einmal damals, 1965!“ - Und als Sven das Folgende hört hat er einiges in der Schule zu erzählen. „Lehmann war Deutscher Meister im Schwimmen: 1500 Meter Freistil, da kommt von euch keiner hin!“