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Am Abgrund
Ich stehe am Abgrund und schaue in die Tiefe. Ich kann den Boden nicht sehen, alles ist schwarz. Und diese Schwärze umwindet mich mit ihren kalten Armen, säuselt mir ins Ohr.
„Spring, komm zu mir. Hier unten herrscht Frieden und Ruhe. Lass dich fallen, es ist ganz einfach. Du brauchst nicht mehr aufstehen, betrachte den Trubel von hier unten, das ist viel bequemer."
Ich gehe einen Schritt vor. Einige Steinbrocken lösen sich, stürzen in den Abgrund um ohne einen Klang für immer zu verschwinden.
Die Dunkelheit dort unten ist unendlich, es gibt keinen Boden, keinen Aufprall.
Hinter mir herrscht Trubel. Viele gehen auf ihrem Weg an mir vorbei, rempeln mich an und sehen mich gar nicht. Der Ein oder Andere bleibt kurz stehen, um an mir zu zerren, an meinem Mut, meinem Stolz und meiner Würde zu reißen, iihn zu verschlingen um mich dabei anzulächeln. Ich wehre mich nicht mehr, ich bin schwach. Ihre Augen sind schwarz, so dunkel wie der Abgrund.
Es müssen Hunderte sein, Millionen, die sich um die knorrigen, vertrockneten Bäume winden, die am Rande des Abgunds stehen. Auf der Suche nach Etwas, das sie vielleicht niemals finden werden.
Vollkommenheit, Reichtum, Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Auch ich war einst unter ihnen, nun stehe ich am Abgrund.
Doch da steht ein kleiner Junge inmitten des windenden Pulks. Er steht ganz ruhig da und blickt zu mir hinüber.
Seine Augen sind nicht schwarz, sondern von einem klaren, ehrlichen, durchsichtigen Blau.
In seinem Blick steht Angst. Er steht dort ganz allein unter den ganzen Kreaturen. Aber noch was erkenne ich in ihrem Blick und in meinem geschundenes Herz züngelt eine kleine Flamme.
Er sieht mich an und ich sehe Liebe in ihren Augen. Bedingungslose Liebe. Liebe, die mich nicht fragt wer ich bin und warum, sondern einfach nur meiner selbst willen.
Ich spüre sein Vertrauen in mich, dass ich immer das Richtige für ihn tun werde. Und ich spüre sein Verlangen bei mir zu sein, für immer. Aber nun sieht er mich, und er sieht den Abgrund und er hat Angst vor ihm..
Die Dunkelheit umklammert meine Knöchel, versucht mich hinab zu ziehen. Aber ich reiße mich los und dränge mich durch den Pulk. Fäulnis und Verwesung schlagen mir entgegen, ich spüre die Übelkeit. Leichter wäre es, einfach zu springen.
Aber dann habe ich ihn erreicht, seine kleinen Arme strecken sich mir entgegen und ich schließe ihn in meine Arme.
"Es tut mir leid, das du mit ansehen mußtest wie ich mich habe gehen lassen, das du meinen Schmerz fühlen musstest.", sage ich zu ihm. Doch er lächelt nur, hat mir bereits verziehen.
Aber seine Angst vor dem Abgrund wird ein Leben lang bleiben.
Einige Zeit verweilen wir so, bis ich ihn hinunterlasse und ihn an meine Hand nehme.
Ich kenne den Weg nun, den wir gehen müssen. Viele Gestalten winden sich um uns, versuchen uns zu verführen, zu locken. Aber wir sind stark, zusammen.
Beschwerliche Pfade liegen vor uns, aber irgendwann werden wir vielleicht das Meer sehen.
Und wenn nicht, haben wir immer noch uns.
Solange ich seine Hand auf unserem Weg halte, kann uns niemand etwas anhaben.