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Am alten Hafen

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10.09.2016
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Am alten Hafen

Da strahlt Wärme ab. Von den Betonplatten hier. Aus den Ritzen und Schlitzen im Beton wachsen Gräser und Hafenblumen. So nannte sie Hägar und er pflückte sie nie, denn Blumen waren nicht der Grund, weshalb Hägar zum Hafen kam. Dort am Ufer zwischen Ringen, Ketten und Pollern saßen wir, und nirgendwo sonst, im Sommer und schlugen, die Füße im Wasser, Blasen, die nach Kanal rochen. Wie schnell das geht, neun Jahre, und wie klar die Erinnerung ist an diesem Ort, den ich aufsuche wie einen Eintrag im Tagebuch. Ja, an diesem Ort fällt es leicht, mich an uns zu erinnern, und vielleicht bin ich heute nur deshalb hier und sicher bleibe ich noch eine Weile.

Zum Ufer, zu den Pollern laufe ich und die Strahlen wärmen meine Beine, heizen mich auf. Ich habe mir ein Bier mitgebracht, mit Absicht ohne Flaschenöffner. An den Pollern öffneten wir unsere Flaschen. Hägar zeigte mir den Trick: Kronkorken gegen das Eisen und dann mit der flachen Hand drauf, Schaum abtrinken, anstoßen und sich einen Schluck genehmigen. Meistens träumten wir und redeten nicht viel, er für sich, ich für mich. Jeden Tag kam er her nach der Arbeit wegen der Schiffe, die nicht fuhren. Einfach um sie sich vorzustellen. Hast du eigentlich einen Traum, Mari? Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht, weil ich das wörtlich nahm. Selbstverständlich gab es einiges, wovon ich träumte. In Worte fassen können, hätte ich es wohl trotzdem nicht.

In einem Krankenhaus ohne Kreißsaal wurde ich geboren, erhielt Namen und Geburtsurkunde. Meine Mutter entband und verließ mich. Mein Vater gab mir Milchersatz und Liebe. Einen Mangel habe ich nie empfunden, mich nie gefragt, wieso eigentlich. Wenn man so geboren wird, ist das normal für einen selbst, selbst wenn andere Kinder anders geliebt werden, man achtet darauf nicht, oder zumindest ich nicht. Freunde, Verwandte, alle halfen mit, damit aus mir jemand werden konnte, der keinen Mangel empfindet. Das geht. Theoretisch kann man mit einer Gehirnhälfte denken. Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.

Kindsein war eine schöne Zeit. Polly Pockets Wunderwald, Fruit Loops und Honey Pops, Kinderkanal und Kinderriegel, viele allerbeste Freundinnen, Übernachtungsparties, Stickeralben, Kindergeburtstage, Kino, Streichelzoo und Minigolf. Freibad nicht zu vergessen und Taschengeld. Irgendwie managte mein Vater immer, dass es mir gut ging. Manchmal kam er müde vom Museum nach Hause und dann dauerte es eine halbe Stunde und wir aßen Ravioli mit Speckwürfeln und Streukäse und ich erzählte, wovon auch immer, dass Julia eine Packung Stabilos in die Schule mitgebracht und mir den grünen geschenkt hatte, den schönsten, ach, das mache ihn wach wie ein frisch aufgebrühter Kaffee, erzähl mir noch mehr bitte. Ich tat ihm auf meine Weise also auch gut. Wie ein frisch aufgebrühter Kaffee.

Als ich älter wurde, wollte ich wissen, warum sie das E vergessen hatten. Welches, na das in meinem Namen, warum hat Marie aus der Sechs ein E und ich nicht? Das ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich auch nicht so genau. Ist das was Besonderes? Ja, auf jeden Fall!
Mein Vater war Kartenabreißer, Kassierer und Aufpasser im Museum, kein Guide oder Direktor. Das erklärte er mir, als ich mir zum Zwölften ein eigenes Pferd wünschte, am liebsten einen Haflinger mit schneeweißer Mähne und Stern. Wenn du dir etwas wünschst, Mari, dann bekommst du es irgendwann. Wenn du dir aber zu viel wünschst, dann werden deine Wünsche schnell alt und schrumpelig wie die Äpfel, die du nie isst, obwohl du sie immer bestellst. Wünsch dir lieber etwas, das du gleich haben kannst.

Das Ende vom Lied waren zwei Reitstunden, die ausreichten, um mich zu überzeugen, dass es sich mit den Pferden tatsächlich wie mit den schrumpeligen Äpfeln verhielt. Ich wünschte fortan vorsichtiger und weniger, je mehr die Zeit verging. Andere Mädchen schminkten sich, machten Führerscheine, wollten raus, ich interessierte mich für den Wald, war Eins-Minus-Schülerin und verhielt mich so unauffällig, dass ich halbwegs beliebt war, kaum wer mich kannte und kein Junge oder sonst jemand je an meiner Tür klopfte oder Steine gegen mein Fenster warf. Zum Abiball ging ich alleine, ich hatte einen Igel und eine Fledermaus zu Hause, einsam und verlassen fühlte ich mich jedenfalls nicht. Mein Vater lieh sich den Wagen eines Freundes und fuhr mich und sagte, wie schön ich aussähe und dass er immer neidisch auf die Abiturienten gewesen sei. Mit einundzwanzigeinhalb war ich die jüngste Laborassistentin, die dem Versuchsleiter je untergekommen war. Tausendsiebenhundert Netto.

Ich hatte meine Zellreihen. Das waren Mäusezellen. Aus der Leber. Schon seltsam, Teile eines toten Tieres in einer Nährlösung fortleben zu lassen. Mehr als ein Mal musste ich mir den Zweck unserer Forschung vor Augen führen, weil ich zwei Stunden über einen Western Blot gebeugt bereute, nicht Försterin, sondern Laborratte zu sein und meine Zeit mit fast unsichtbaren Zellvorgängen zu vergeuden. Doch etwas anderes wollen konnte man auch später noch, denn noch war es das Naheliegendste mit Zellen der Mäuseleber zu forschen und etwas mehr Geld als mein Vater zu verdienen. Jetzt kannst du mich zum Eis einladen, sagte er, wenn er mich zum Eis einlud. Manchmal kaufte ich mir etwas von meinem Geld, eine Limo zum Beispiel. Nach der Arbeit ging ich meist am stillgelegten Hafen und der Hundefutterfabrik vorbei in den Wald, um Tiere zu beobachten. Rehe in der Dämmerung, Bienen, Schnecken, manche Vögel, besonders den Flug der Bussarde, Insekten auch und Füchse und einmal einen Hirsch. Reine Neugier ließ mich eines Juniabends mit Gewitterwolken das Hafengelände betreten.

Ziemlich sicher stand ich an derselben Stelle, an der ich jetzt in diesem Augenblick stehe, als ich ihn dort bei den Pollern sitzen sah, die Beine bis zu den Knien im Wasser. Dass er einen Bob trug, ja, aber dass er ein Junge war, vermutete ich erst, als er sich nach mir umdrehte und ‚Huch‘ rief, weil er offensichtlich erschrak. So ein Gesicht hatte ich noch nicht gesehen. Die Augen waren weiter entfernt voneinander als gewöhnlich, die Brauen verwachsen, in der Mitte verbunden, aber schön. Dieses Paar Augen musterte mich scheu wie das eines Waldtieres. Darin meinte ich eine tiefwurzelnde Furcht zu erkennen und blieb stehen. Erst als seine langen, schmalen Lippen ein Lächeln aufspannten, kam ich näher.

Stört es dich, wenn? Nein, gar nicht, und er rutschte zur Seite. Ich zog meine Schuhe aus und meine Strumpfhose und tauchte beide Beine ins Wasser. Tut gut, oder? Ja, tut gut. Willst du deine Limo trinken? Ja, warum nicht. Soll ich sie aufmachen? Ja, warum nicht. Er zeigte mir den Trick und ein bisschen beeindruckte mich das. Wie heißt du? Hägar und du? Marie ohne E. Warum ohne E? Ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich nicht so genau, aber etwas Besonderes. Verstehe. Bist du öfters hier, fragte ich. Jeden Tag ein, zwei Mal. Willst du einen Schluck Limo? Ja, gerne.

Es blitzte und kam in Eimern auf uns runter. Um vor dem Regen zu fliehen, war es zu warm. Barfuß liefen wir zum Unterstand, der aus einem rostigen Dach mit splittrigem Glas und Betonboden bestand. Dort hockten wir herum. Hägar war einen Kopf kleiner als ich und hatte die Tendenz, nicht zu blinzeln und immer geradeaus zu starren. Jeder für sich beobachteten wir den Kanal auf dessen Oberfläche Regentropfen wie tausend Kieselsteine hagelten. Hägar atmete laut, als steckte etwas tief in seiner Nase, doch ich beschloss, ihn darauf nicht anzusprechen. Ich gehe normalerweise in den Wald, sagte ich. Hägar hob den Kopf. Dieses Gesicht, diese Augen und eigenwüchsigen Brauen wirkten auf mich schon jetzt so vertraut wie die Züge eines beliebigen Tieres, das ich bereits mehr als zwei Mal beobachtet hatte.

In den Folgetagen kam ich wieder zum Hafen. Wieder mit einer Limo und einer für Hägar. Ich saß und meine Schuhe und Strumpfhose lagen am extakt gleichen Ort und jetzt fragte Hägar, ob ich die Flaschen öffnen wolle. Der Flaschenhals brach ab und also teilten wir wieder. Ich erfuhr, dass Hägar wirklich Hägar hieß. Wegen Hägar dem Schrecklichen, so einem Comic-Wikinger. Naja, wenigstens seine Eltern hätten bei der Namensgebung Spaß gehabt. Das erzählst du nicht zum ersten Mal, oder? Nö.
Hägar wusste alles über den Hafen. Welche Güter sie hier früher verschifften: Kupfer vor allem, aber auch Porphyr, ein rötliches Gestein. Und welche Schiffe hier vorbeigekommen waren: Vierzig- bis Hunderttonner. Aber die Kanalschifffahrt lohnte sich heutzutage nicht mehr, kein Kupfer außerdem und Porphyr auch auf dem Landweg. Aber eigentlich interessieren mich andere Schiffe. Eines Tages wolle er mit einem Boot nach Helgoland, von dort ins Nordmeer, zur Karasee, zu den Tschuktschen und durch die Beringstraße, aber alles, was ich bisher habe, sind ein paar alte Reise- und Schifffahrtsbücher. Bei der Post, sieben Stunden. Briefträger.

Jeden Juniabend verbrachten wir mit den Beinen im Wasser. Ich erzählte Hägar von einem medizinischen Doktoranden, dem ich bei seinen Experimenten half. Er heißt Martin. Und weiter? Viele sagen, er hat gute Einstiegschancen. Er ist recht beliebt. Magst du ihn auch? Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, ja. Hägar nickte, eigentlich hob er nur die Nasenspitze. Der fällt mir ein, weil der ein Boot hat. Ein eigenes? Ja, der ist auch Bastler. Und wo hat der das? Bei seinen Eltern in Brandenburg. Achso, also Havel. Keine Ahnung, ich weiß nur, dass er eben ein Boot hat. Okay, sagte Hägar. Soll ich ihn mal fragen, wollte ich Hägar fragen, aber dann fragte ich lieber doch nicht. Es war auch so, dass Martin gerne mal was kochen wollte, aber gehörte diese Information wirklich an einen stillgelegten Hafen? Die Kanalluft hatte immer etwas Modriges, ich nahm einen Schluck Limo und der Geschmack von Zitrusfrüchten mischte sich dazu.

Es interessierte mich. Hägar wurde rot, auch wenn sein Gesicht wie aus Eisen war. Nein, ich hab noch nie. Noch nicht mal einen Kuss. Weil ich nichts sagte, planschte er mit den Füßen. Ganz schön peinlich, hm, sagte er mit verstellter Stimme. Mit dreiundzwanzig Jungfrau und bei der Post. Finde ich gar nicht peinlich, sagte ich. Ich aber schon.
Bislang hatte ich nicht darüber nachgedacht, ob ich Hägar attraktiv fände, wahrscheinlich eher nicht, doch jetzt, da er mir das Geheimnis, wenn das eines war, verraten hatte, musste ich mir auf seltsame Weise vorstellen, wie das wäre, Hägar dabei zu helfen, seine Jungfräulichkeit loszuwerden, und es hatte mehr was mit dem Gedanken im Allgemeinen zu tun, aber ich spürte auch, dass ich feucht wurde. Und du? Ein Typ im Labor der jetzt nicht mehr da ist. Martin? Nein, jemand anderes. Das war dein erstes Mal? Ja. Also bist du auch eine Spätzünderin. Sieht so aus. Er hat mich nicht mehr angeguckt danach. Dieser Typ? Ja, ich glaube, er war ein Arschloch. Wahrscheinlich, sagte Hägar, steckte den Finger in seine Flasche und floppte.

Seltener traf ich meinen Vater zum Eis oder Abendessen. Das hieß höchstens alle drei Wochen. Im Museum im Sommer. Zumindest sei es dort schön kühl. Morgens kaufe er sich immer eine Zeitung beim Kioskfritzen und ein belegtes Brötchen mit Salami. Da gehe der Tag schnell vorbei. Habe ja auch nur sechzehn Stunden etwa. Mit Freunden gerade nicht so viel los und bei dir? Hägar? Martin? Ein Boot, Doktorand, also wenn du mich fragst. Jaja, ich weiß, sexistisch. Ich bin halt ein Alter. Gut, reden wir über was anderes. Du willst schon gehen? Soll ich dir noch ein Brötchen schmieren? Du kommst zurecht. Gut. Dann will ich dich auch nicht länger aufhalten. Wann sehen wir uns? Ja, sehen wir dann. Du hast zu tun. Aber meld dich gerne.

Der Juli wurde ein heißer und trockener. Kein Staubkorn lag auf der Silbergelatine, auf der ich in diesem Sommer Tag um Tag abgelichtet wurde. Zu leben hatte endlich etwas von einem Spiel nach eigenen Regeln. Manchmal ging ich in den Wald, manchmal zu Hägar, immer ließ ich mir für Martins Einladungen Ausreden einfallen und nie kam mir ein Tag zu lang oder zu kurz vor. Wenn ich auf dem Weg zum Hafen in den bauschigen Wolken Tiere sah, sagte ich mir, dass es an der Zeit sei, großspurige Wünsche zu äußern. Betrunken und in der Nacht hatte mein Vater angerufen und gefragt, ob ich nicht wieder bei ihm einziehen wolle. Ich ahnte, wie bitter das schmecken musste, jemandem ein Leben ohne Mängel ermöglicht zu haben und am Ende nichts als eine mehr oder weniger verblümte Abfuhr nach der anderen zu erhalten und mit nicht viel mehr dazustehen als seinem Alter, der Einsamkeit und gelegentlichen Gesprächen mit anderen und manchmal auch mit der Tochter. Es war noch zu früh, angesichts solcher scheinbaren Lebensweisheiten zu weinen. Es war einfach noch nicht spürbar. Im Grunde also blieb mir kaum etwas anderes übrig, als diesen Sommer in vollen Zügen zu genießen.

Jeden Tag sah ich Martin, Hägar jeden zweiten und meinen Vater alle drei Monate etwa, das waren vier Treffen und dann war es wieder Juni und ich ein Jahr älter und Martin angestellt und Hägar immer noch bei der Post und meine Zellen immer noch aus der Mäuseleber und eigentlich kam es mir vor, als wäre dieses Jahr nie vergangen, ganz im Gegenteil, als hätten sich die Uhren nur um etwa einen Monat zurückgedreht. Scheinbar hatte es diese Zeit gebraucht. Wir tranken keine Limo mehr, sondern Bier. Hägar und ich. Neuerdings schmiedeten wir Pläne und Wünsche: Von tuckernden Booten vor Helgoland und selbstgebauten Hütten im Wald bei den Tieren und vom Ende der Post und der Mäuseleberforschung. Das war dort, mit den Beinen im Wasser bis zu den Knien.

Ich laufe zum Ufer, ziehe meine Schuhe und Strumpfhose aus. Bestimmt sind meine Beine nicht mehr so schön wie früher. Ins Wasser tauche ich sie und Myriarden im Entstehen befindlicher Fältchen und Besenreiser ziehen sich vor der Kälte zurück. Die Kronkorkenzähne greifen ins Eisen und ich schlage meine flache Hand darauf, trinke den Schaum ab und genehmige mir einen Schluck. Hier fing das an und wer weiß. Ich streiche mir über die Rippen, lege die Hände ab, schließe die Augen, rieche. Den Kanal, die Hafenblumen, den Sommerstaub, der auf allem liegt und die Zeit begraben hat vor etwa neun Jahren.

 

Salü @Carlo Zwei,

wie schön. Die Melancholie ist ein langer, ruhiger Fluss. Menschen, wie ich sie mag. Abseits aller Rennstrecken. Wie Irrlichter in kosmischen Mahlströmen. Das hat mir den Abend richtig versüßt. Weil ich solchen Menschen schon oft begegnet bin, weiß ich genau, wie sie aussehen und wie sie an den besten Stellen im Leben einfach schweigen, weil man nichts sagen muss.

zum Karasee, zu den Tschuktschen und durch die Behringstraße
zur Karasee ... die Beringstraße

Bis bald und Grüße
Morphin

 

Hey @Carlo Zwei

Lyrik in Prosaform. Du missachtest die Regeln der braven Kurzgeschichte. Was ist der Plot? Wo ist der Konflikt? Wo der Fokus? Wie hängt das alles zusammen? Was ist mit Hägar geschehen? All diese Fragen stellen sich mir nicht. Ich bin in der Nähe eines Sees aufgewachsen und da gab's einen Hafen und da sassen wir in lauen Nächten zu zweit oder ich manchmal auch alleine. Und so habe ich mich durch den Text tragen lassen und alles war gut. Danke dir!

Weil wir Wortkrieger sind:

Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.
Na ja, gespendet hat er seine Mutter ja nicht. Vielleicht: "Man kann seine Niere spenden oder auf Teile seiner Leber verzichten. Auf die Mutter auch, denke ich." Oder so ähnlich.
Hägar war einen Kopf kleiner als ich und hatte die Tendenz, nicht zu blinzeln und immer geradeaus zu starren.
Eher unlyrisch. ;)
Der Flaschenhals brach ab und also teilten wir wieder.
Gefiele mir ohne "und" und mit Komma besser.
Kein Staubkorn lag auf der Silbergelatine, auf der ich in diesem Sommer Tag um Tag abgelichtet wurde.
Aus dem Satz werde ich nicht schlau.
Myriarden im Entstehen befindlicher Fältchen und Besenreiser ziehen sich vor der Kälte zurück.
Maximal unlyrisch. ;)
Hier fing das an und wer weiß.
So ein geiler Satz!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Carlo Zwei,

tja, also was konstruktives habe ich da jetzt gar nicht zu sagen. Ich hab's einfach geliebt. Die Sprache ist interessant und hübsch, die Dialoge durch die fehlenden Zeilenumbrüche und Gänsefüßchen flott und unterhaltsam. Mir gefällt auch die Handlung und ihre Figuren: Man wird reingesogen in die Erzählung und stellt sich eine Menge Fragen, die du nicht alle beantwortest, aber das ist nicht schlimm - da hast du genau die richtige Balance gefunden.

Wird lange in Erinnerung bleiben, diese Geschichte. Ich schließe mich den zwei-drei kleineren Anmerkungen von Peeperkorn an und wünsche noch einen schönen Tag,

Manfred​

 

Da strahlt Wärme ab. Von den Betonplatten hier. Aus den Ritzen und Schlitzen im Beton wachsen Gräser und Hafenblumen.

Hallo @Carlo Zwei

Ist ein guter Titel. Der wärmt schön vor, würde ich mal sagen. Das verspricht Melancholie. Ich bin dabei! Guter erster Satz auch. Aber zweimal Beton in dem Absatz. Ich würde die Platten streichen und dann auch Ritze und Schlitze, das ist irgendwie klar, dass dort etwas aus dem Beton herauswächst. Würde dann eventuell so aussehen:

Da strahlt Wärme ab. Von den Betonplatten hier. Aus den Ritzen und Schlitzen Aus dem Beton wachsen Gräser und Hafenblumen.

Das hier ist geschickt gemacht. Warum ist er dann am Hafen? Das fragt sich der Leser aber schon. Diese Dimension eröffnest du bereits mit dem Pflücken. So nannte Hägar sie und pflückte sie nie. Stellst du diesen Spannungseffekt einmal konkret und direkt aus.
So nannte sie Hägar und er pflückte sie nie, denn Blumen waren nicht der Grund, weshalb Hägar zum Hafen kam.

Dort am Ufer zwischen Ringen, Ketten und Pollern saßen wir, und nirgendwo sonst, im Sommer und schlugen, die Füße im Wasser, Blasen, die nach Kanal rochen.
Irgendwie scheint der Satz durcheinander zu sein. Das Dort bezieht sich auf den Satz vorher, aber dann müsste es doch Hier heißen. Hier!. Hier im Hafen! Hägar kommt nicht wegen den Hafenblumen zum Hafen. Weswegen dann? Im Sommer sitzen wir am Ufer zwischen Ringen, Ketten und Pollern und schlugen die Füße ins Wasser. Oder so. Der liest sich etwas steif und ungelenk, wie so ein Boxer, der noch nicht richtig warm geworden ist, der Satz. Die Blasen riechen ja auch nicht nach Kanal, sondern es ist das Wasser. Ich glaube, du hast hier zu viel auf einmal gewollt, das ist wie ein Standbild aus Stand by me, sag ich mal, das alles erklären soll. Hast du gar nicht nötig. Der Text ist so schon stark, das muss nicht amplifiziert werden.

Wie schnell das geht, neun Jahre, und wie klar die Erinnerung ist an diesem Ort, den ich aufsuche wie einen Eintrag im Tagebuch.

Super. Aber warum dieser Vergleich? Wenn sich jetzt herausstellt, der Erzähler ist auch Autor oder fleißiger Tagebuchschreiber, und das wird relevant für den Text, weil in seinen Tagebüchern etwas über den Hafen und Hägar steht und das die Informationsquelle ist, wäre das etwas anderes. Er sucht ihn auf wie einen Eintrag ins Tagebuch. Wie sucht man denn einen Eintrag ins Tagebuch auf? Zielstrebig, oder eher: einfach so, eher zufällig, dann wäre es aber doch eher findend, ziellos, nicht methodisch.

Ja, an diesem Ort fällt es leicht, mich an uns zu erinnern, und vielleicht bin ich heute nur deshalb hier und sicher bleibe ich noch eine Weile.
Hier, eine bespielhafte Klarheit: HIER, an diesem Ort fällt es mir leicht, mich an uns zu erinnern. Ja, das ist super, da bist du voll bei dir. Es ist der Ort. Darum geht es. Es ist ein Hin und Her, er ist sich selber nicht sicher, der Erzähler, nur über den Ort ist er sich sicher, damit ist er verbunden und wird es auch bleiben, und er kostet die Zeit aus. Das ist stark!

So, ich muss leider stückeln, weil die Lehrlinge was von mir wollen.

Gruss, Jimmy

 

Hey @Morphin ,

danke fürs Vorbeischauen und Eisbrechen. Freut mich, was du dazu schreibst. "Irrlichter in kosmischen Mahlströmen" :D Diese kurze Rückmeldung hat gut getan. Musste bei der Post auch kurz an dich denken. Das mit der Karasee und Beringstraße habe ich mal lieber ganz schnell geändert :Pfeif: dazu sage ich jetzt auch mal lieber nichts.

Danke dir. Es steht auch noch ein Besuch in der Heinrich-Serie an ...


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Hallo @Peeperkorn ,

ist immer etwas Schönes, einen Kommentar von dir zu bekommen. Ich bin jedenfalls froh, dass das bei dir anknüpft. Jetzt bekomme ich meine Gelegenheit zu erwähnen, dass das ein Auszug aus etwas Längerem ist. Der Anfang. Deswegen ist der Titel auch noch ein bisschen Arbeitstitel (aber wenn Jimmy den 'aufwärmend' findet, hat der schon mal einen guten Einstand). Ich hatte das in der Infobox vermerkt. Aber dann hat mich ein Moderator (danke!) darauf hingewiesen, dass das für die Lesenden wahrscheinlich nicht notwendig ist und man das ja auch in den Kommentaren erklären kann. Jedenfalls ist der Rest der Story auch geplottet. Halbwegs ruhig ist die Idee. Gemeinsames Pläneschmieden (Hägar will raus / Mari ein Haus im Wald). So ein Antagonismus zwischen Martin und Hägar und ein Trennungsende, auch die endgültige Abnabelung vom Vater.
Aber wenn es so in sich geschlossen ist, freue ich mich darüber.

Spannend, dass du es 'lyrisch' findest. Das habe ich beim zweiten Lesen dann auch gedacht. Finde es cool, wie du deine Hinweise darauf abgestellt hast. Danke für die! Dieses 'und also' schreibe ich oft, weil ich das schon mag. Und jedes Mal stolpert jemand darüber. Muss ich mir vielleicht mal abgewöhnen oder ich muss es mit Haltung einfach ganz renitent weiternutzen :hmm: (wahrscheinlich eher nicht). Es ist für mich ein eleganteres 'und deshalb' außerdem habe ich über das 'und' gelernt, dass es die dadurch verbundenen Satzteile gleichwertig erscheinen lässt. Wenn man jetzt nur ' ..., deshalb ... ' schreibt, dann stellt man eine Konsequenz dar, aber wenn man '... und deshalb ... ' schreibt, würde man nach dieser Logik eine Gleichwertigkeit von beidem behaupten. Keine Ahnung ob das sinnvoll ist. Aber ich meine, dass das eine relativierende Wirkung hat.
Das mit der Silbergelatine war so ein Satz, bei dem ich auch beim Schreiben gemerkt hab, der ist drüber, aber cool. So ein Ausreißersatz, wo ich dachte, das kann Charme haben, so etwas wie ein blinder Fleck. Vielleicht nehme ich es wieder raus. Es gibt natürlich auch Bedeutungsebenen: Fotografie-Belichtung-Sonne-derSommer oder Momentaufnahme-'Selbstwürdigung'(?).

Vielen Dank, Peeperkorn :gelb:


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Hey @Manfred Deppi ,

schön, dich mal kennenzulernen, bist ja auch schon länger hier. Danke dir für diese Rückmeldung. Kurz und knackig. Freut mich jedenfalls sehr, dass dir das gefällt und wenn es dir sogar was bedeutet, bin ich richtig glücklich. Ich habe Peeperkorn schon was geschrieben wegen der Fragen, die sich nicht auflösen. Es ist im Grunde ein in sich geschlossener Auszug.
Hab vielen Dank für deinen Kommentar und bis bald!


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Hallo @jimmysalaryman ,

habe fast meinen Kaffee verschüttet, als ich gesehen hab, du kommentierst, hehe. Danke, dass du dir wieder so Zeit nimmst. Ich stelle mir das so vor, wie du da auf dem Laptop rumtippst und die Lehrlinge so: Er ist wieder bei Wortkrieger :rolleyes:
Ich finde deine Kürzungsvorschläge gut und es gibt auch wenige Leute, von denen ich das so gut annehmen könnte. Das Ding ist, dass der Text schon auch einen starken Rhythmus hat und auch mit Wiederholungen arbeitet, die hervorheben, aber auch Bedeutungen verdichten sollen. Ein wenig davon dürfte sich dann über den Erzählton erklären. Aber diese Kürzungsvorschläge sind trotzdem gut und tun dem keinen Abbruch.

Das mit den Blasen, die nach Kanal riechen, ist wahrscheinlich ein Darling. Obwohl ich da auch ein Henne-Ei-Problem wittere: Inwiefern ist die Blase nicht gleichzeitig auch Geruch bzw. wann ist sie noch Blase, wann Geruch. Ist ja auch etwas Sprachliches – wie man die Dinge eben bezeichnet.
Das Steife, Ungelenke an dem Satz kann ich auf jeden Fall nachvollziehen. Das hängt auch mit der Syntax zusammen, denke ich. Teilweise sehe ich das auch im Kontext mit dem übrigen Erzählton, der auch etwas Linkisches hat. Trotzdem ist es schon richtig. Gerade am Anfang muss man nichts verschenken. Es ist auch ein Auszug aus etwas Längerem (habe das Peeperkorn oben erklärt, Spoiler), da fällt der Anfang sicher noch mehr ins Gewicht.

Dieser Tagebuchvergleich und mit 'aufsuchen'. Ich hatte das dann so geschrieben und war auch konzentriert dabei. Ich bin selbst auch drüber gestolpert, aber bin da manchmal auch ein bisschen verzeihlich, weil ich denke, ist ja auch Figuren- bzw. Erzählerrede. Trotzdem bin ich dann froh, wenn du das herausschreibst. Auch ein guter Gedanke, dass man so einen Eintrag eher findet und nicht (auf-)sucht. Das wäre das bessere Wort.

Die Lehrlinge rollen wahrscheinlich schon wieder die Augen :D
Beste Grüße und vielen Dank dir bis hierhin!

 

Jetzt bekomme ich meine Gelegenheit zu erwähnen, dass das ein Auszug aus etwas Längerem ist. Der Anfang.
Ja, wenn das so ist, dann stelle ich natürlich schon die eine oder andere Frage: Was aus den beiden geworden ist, wie es mit dem Vater weitergeht. Der Text funktioniert also auch als Anfang einer längeren Geschichte sehr gut.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hi @Carlo Zwei,

ich finde deine Geschichte faszinierend. Sie präsentiert keine großen Konflikte, die zu überwinden sind und trotzdem schafft sie es, mich zu fesseln. Ich denke, dass das an dieser Kombination aus stillen Bildern und nuancierten Interaktionen der Charaktere liegt. Wirklich gut geschrieben.

Einige Sachen sind mir beim Lesen aufgefallen:

Mein Vater gab mir Milch und Liebe.
Über den Satz bin ich gestolpert. Klar, was du damit ausdrücken willst, aber "mein Vater gab mir Milch" klingt irgendwie eigenartig m.E.

Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.
Das soll heißen, dass der Vater der Protagonistin Mutterschaft spendet, oder? Irgendwie macht es schon Sinn, aber die ersten beiden Spenden lese ich aus der Sicht der Prota, weshalb der zweite Satz mich etwas rauswirft.

Ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich nicht so genau, aber etwas Besonderes.
Stilistisch finde ich das gut. Nur ist die Prota hier nicht schon 21? Klingt eher wie von einem Kind gesagt, finde ich.

Kein Staubkorn lag auf der Silbergelatine, auf der ich in diesem Sommer Tag um Tag abgelichtet wurde.
Den Satz habe ich erst nach einer Googlesuche verstanden. :)

Die ganze Beziehung zwischen der Prota und dem Vater finde ich sehr gut übrigens. Also wie gesagt, sehr gute Geschichte!

Beste Grüße
Klamm

 

Hey @Klamm ,

danke fürs Lesen und für deinen Kommentar. An der Stelle auch nochmal ein nachträgliches Willkommen.

ich finde deine Geschichte faszinierend. Sie präsentiert keine großen Konflikte, die zu überwinden sind und trotzdem schafft sie es, mich zu fesseln.

Freut mich sehr. Ich sehe da mittlerweile auch das Besondere dran. Anfangs habe ich immer gedacht, das wäre ein Mangel und ich könnte das mit den Konflikten nicht. War auch so. Aber nachdem ich mich darauf eine Weile fokussiert habe, bin ich wieder etwas entspannter geworden. Deswegen freut mich diese Bemerkung sehr. Es ist auch so, dass das meinen eigenen Leseinteressen an Texten entspricht. Auf den großen Konflikt bin ich oft nicht aus, auch wenn das was sehr Feines ist, wenn das beherrscht wird.

Mein Vater gab mir Milch und Liebe.
Über den Satz bin ich gestolpert. Klar, was du damit ausdrücken willst, aber "mein Vater gab mir Milch" klingt irgendwie eigenartig m.E.

Verstehe. Bin auch oft daran hängengeblieben. Ich habe auch gegoogelt, was man noch so schreiben könnte stattdessen. Ich lasse das erstmal auf mich wirken. Danke dir fürs Herausschreiben.

Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.
Das soll heißen, dass der Vater der Protagonistin Mutterschaft spendet, oder?

Ja, genau. Auch eine Stolperstelle. Ich frage mich hier immer, wie weit kann ich da gehen und behaupten, dass gehört zum Erzählton zur Flapsigkeit der Figur? Das ist eindeutig sehr offen formuliert. Wenn ich den Text nochmal etwas an solchen Stellen kläre (wenn ich wirklich ausschließen muss, dass jemand darüber stolpert), dann würde ich es rausnehmen. Auf jeden Fall ein brauchbarer Hinweis.

Ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich nicht so genau, aber etwas Besonderes.
Stilistisch finde ich das gut. Nur ist die Prota hier nicht schon 21?

Ich finde, du zeigst auf richtige Stellen. Das stimmt. Ich finde, die Sachen, die du rausgeschrieben hast, zehren von demselben Zugeständnis an Flapsigkeit oder Behauptung. Hier ist es genau das 'Humorige' daran, dass sie das selbst mit 21 noch nicht rausgefunden hat, obwohl sie so eine kleine Überfliegerin ist. Wackelpotential kriegt das da natürlich durch die Glaubwürdigkeit dessen. Insofern kann man hier auch über Klärung nachdenken. Wenn sie zum Beispiel sagen würde "Eine Sprache, sprechen sie in Wales", dann wird dadurch ja auch eine Entwicklung deutlich und auch eine Abgrenzung vom 'Unwissen' des Vaters, der ihr damals auf diese Frage keine wirklich schlaue Antwort geben konnte (offensichtlich, weil die Mutter für die Namensgebung verantwortlich war).

Kein Staubkorn lag auf der Silbergelatine, auf der ich in diesem Sommer Tag um Tag abgelichtet wurde.
Den Satz habe ich erst nach einer Googlesuche verstanden.

hehe. Ja, cool, dass du mir deswegen nicht auf die Barrikaden gehst :D Das ist in puncto Offenheit (Ungeklärtheit) hier sicher der markanteste Satz. Hab dazu auch was in der Antwort an Peeperkorn geschrieben. Es ist halt die Frage, ob so etwas dem Text nicht auch ein bisschen Souveränität verleiht, aber dann ganz klar auch, ob Lesende, denen der Text gefällt, da mitgehen oder es sie rauswirft.

Die ganze Beziehung zwischen der Prota und dem Vater finde ich sehr gut übrigens. Also wie gesagt, sehr gute Geschichte!

Danke dir, Klamm.

Schön, dass du vorbeigeschaut hast.
Viele Grüße
Carlo

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @nothing ,

freue mich über deinen Kommentar. Hätte mich ja interessiert, wie dein Eindruck vor dem dritten Absatz zustandegekommen ist :) aber das ist irgendwie auch eine verbotene Frage. Diese Sache mit der Wiederholung des Zitats hat Klamm auch rausgeschrieben. Das werde ich ändern. Wahrscheinlich dahin, dass sie diese Frage im Gegensatz zu ihrem Vater beantworten kann, wodurch ja auch nochmal ein zeitlicher und kognitiver Unterschied zur Vergangenheit deutlich wird. Freut mich, zu hören, dass dir die eingeflochtenen Dialoge zusagen, dass das keine Probleme bereitet hat, sondern sogar Spaß gemacht hat für dich. Und natürlich freut mich, dass du das Fehlen großer Konflikte nicht als Mangel wahrnimmst.

Vielen Dank dir fürs Lesen und Kommentieren und bis bald!
Carlo

 

Hey @Carlo Zwei,

viel Neues hab ich nicht mehr beizusteuern. Beim ersten Lesen habe ich mich gefragt, ob ich die ganze Hintergrundgeschichte erfahren muss, bin ich doch eine Freundin der klassischen Kurzgeschichte. :) Ich mag es, zu rätseln, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt und sich am Ende auflöst. Aber eben nicht nur. Manchmal ist es auch einfach nur eine Stimmung, die mich mitreißt, die ich auch nicht erklären muss oder aufgedröselt haben will. So wie ich im wahren Leben ja auch manchmal nur genieße, ohne zu analysieren. Da schwingt dann nur so eine Ahnung mit, und dabei darf es auch bleiben.

Bei dieser Geschichte ist das der Fall. Die melancholische Stimmung hat mich relativ schnell mitgerissen und auch hinterher noch nachgewirkt. Vermutlich resümieren gerade viele Menschen über ihr Leben, da kam dein Text gerade richtig.

Ich sehe hier zwei Außenseiter, oder zumindest zwei Menschen, die anderes tun, als ihre Altersgenossen. Mari geht in den Wald, Hägar ist noch Jungmann, sieht auch ungewöhnlich aus, so wie du ihn beschrieben hast.

Dass ich am Ende nicht erfahre, was aus ihm geworden ist, stört mich hier nicht, denn es wirkt wie aus dem Leben gegriffen. Die beiden waren sicher sehr wichtig füreinander, haben sich irgendwann aus den Augen verloren, aber ihre Begegnung hat Spuren hinterlassen.

Da strahlt Wärme ab. Von den Betonplatten hier. Aus den Ritzen und Schlitzen im Beton wachsen Gräser und Hafenblumen. So nannte sie Hägar und er pflückte sie nie, denn Blumen waren nicht der Grund, weshalb Hägar zum Hafen kam.
Wunderbarer Anfang!

Jeden Tag kam er her nach der Arbeit wegen der Schiffe, die nicht fuhren.
Schön.


Der Juli wurde ein heißer und trockener. Kein Staubkorn lag auf der Silbergelatine, auf der ich in diesem Sommer Tag um Tag abgelichtet wurde.
Das habe ich nicht verstanden.

Bestimmt sind meine Beine nicht mehr so schön wie früher. Ins Wasser tauche ich sie und Myriarden im Entstehen befindlicher Fältchen und Besenreiser ziehen sich vor der Kälte zurück.
Das hat mich irritiert. Wenn ich richtig gelesen habe, sind neun Jahre vergangen und vorher war sie so Anfang zwanzig. Hier klingt es aber, als wären Jahrzehnte vergangen. Besenreiser sehe ich eher bei einer sehr viel älteren Frau. :hmm:
Auch, dass an einer Stelle erwähnt wird, dass sie die Einsamkeit des Vaters noch nicht so an sich herangelassen hätte in jenem Sommer, klingt für mich, als würde eine sehr viel ältere Frau über ihr Leben resümieren. Am Schluss sehe ich sie im selben Alter wie ihr Vater damals.

Gern gelesen und frohe Ostern von
Chai

 

Hey @nothing ,

danke, dass du dich nochmal gemeldet hast.

Der Text ist ja von Beginn an gut geschrieben, allerdings habe ich die ersten zwei Absätze mit einer gewissen Gleichgültigkeit gelesen.

Ja, verstehe. Da schraube ich sicher noch ein bisschen herum. Wahrscheinlich kommt der zweite Satz einfach raus. Schaue ich noch. Danke erstmal, dass du das nochmal analysiert hast!

Der dritte Absatz hat mich dann aber auf einer emotionalen Ebene abgeholt

Ja, freut mich. Ich glaube, das deckt sich mit einigen Leseeindrücken.

Vielen Dank dir, nothing!


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Liebe @Chai ,

freue mich sehr, dich unter der Story zu lesen. Vielen Dank für deine Zeit und deinen Kommentar. Es wirkt, als hättest du die Geschichte nich nur ein Mal gelesen und dann auch sogar noch die Kommentare. In jedem Fall vielen Dank, dass du dich damit so beschäftigt hast :gelb:

Freut mich, dass dich das entgegen deiner Vorliebe für 'klassische Kurzgeschichten' abholen konnte. Witzigerweise finde ich ja, dass ausgerechnet auch deine Stories da einen interessanten Mix bieten, auch wenn sie immer schon auch viel Konflikt aufweisen (die Sachen in Indien, aber auch zuletzt in Die perfekte Frau). Hier fand ich es jedenfalls reizvoll, mich auf die Stimmung zu konzentrieren oder einfach auf diese Begegnungen und die Figuren mit ihren kleinen, miteinander vernetzten Geschichten, die eben auf andere Art schwingen.
Danke für die zwei herausgeschriebenen mag-ich-Stellen. Das mit der Silbergelatine ist wahrscheinlich mittlerweile das am einheitlichste, in den Kommentaren auftretende Fragezeichen. Habe dazu einiges geschrieben. Ich finde, die Stelle hat verschiedene Qualitäten. Sie fällt aus dem Text und bietet Anlass über Maris Veränderung nachzudenken. Es ist dann aber eine Metapher, die sich recht schnell auflösen lässt. Und das geht in Richtung Figurenrede, entspricht Maris poetischer Selbstwahrnehmung in dieser Situation; also welche Worte sie wählt, um das Gefühl in diesen Wochen zu beschreiben: wie eine feinkörnige, sauber abgelichtete Fotografie von ihr selbst. Das steckte dahinter. Finde es auch spannend, dass du sie am Ende älter einschätzt. Hatte deswegen eigentlich geschrieben "im Entstehen befindlicher Besenreiser etc.". Also sie ist jetzt dreißig und so langsam machen sich erste Spuren des Alterns bemerkbar. Erste graue Haare, eben solche Besenreiser (natürlich noch nicht so doll). Es hängt ja für dich auch mit den Gedanken zur Einsamkeit des Vaters in der Mitte des Textes zusammen. Das kann ich verstehen. Kann ich auch gar nicht widersprechen. Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder sie ist am Ende wirklich so alt wie er. Oder sie ist eben eine fast Dreißigjährige, die das reflektiert, bevor sie in dem Alter ist. Da treffen sich Erlebenswelt von Autor und Protagonistin, denke ich :D daher dürfte das kommen ...

Vielen Dank fürs Vorbeischauen Chai und bis ganz bald!
Carlo
(und dir natürlich auch ein paar Ostergrüße!)

 

Lieber @Carlo Zwei

was für eine schöne Geschichte, die ging mir richtig ans Herz, hat mich berührt. Ich mag Deinen Erzählstil, die Bilder, die Du im Kopf hervorrufst. Das Tempo, die Eindrücke, die Nähe zu den Protagonisten. Die Melancholie, die da durchblizt, damit hast Du mich voll getroffen. So schön!

Hier ein paar Leseeindrücke:

Da strahlt Wärme ab. Von den Betonplatten hier. Aus den Ritzen und Schlitzen im Beton wachsen Gräser und Hafenblumen. So nannte sie Hägar und er pflückte sie nie, denn Blumen waren nicht der Grund, weshalb Hägar zum Hafen kam. Dort am Ufer zwischen Ringen, Ketten und Pollern saßen wir, und nirgendwo sonst, im Sommer und schlugen, die Füße im Wasser, Blasen, die nach Kanal rochen. Wie schnell das geht, neun Jahre, und wie klar die Erinnerung ist an diesem Ort, den ich aufsuche wie einen Eintrag im Tagebuch. Ja, an diesem Ort fällt es leicht, mich an uns zu erinnern, und vielleicht bin ich heute nur deshalb hier und sicher bleibe ich noch eine Weile.

Der Einstieg nimmt mich sofort gefangen, da entstehen gleich tolle Bilder im Kopf.

Zum Ufer, zu den Pollern laufe ich und die Strahlen wärmen meine Beine, heizen mich auf. Ich habe mir ein Bier mitgebracht, mit Absicht ohne Flaschenöffner. An den Pollern öffneten wir unsere Flaschen. Hägar zeigte mir den Trick: Kronkorken gegen das Eisen und dann mit der flachen Hand drauf, Schaum abtrinken, anstoßen und sich einen Schluck genehmigen. Meistens träumten wir und redeten nicht viel, er für sich, ich für mich. Jeden Tag kam er her nach der Arbeit wegen der Schiffe, die nicht fuhren. Einfach um sie sich vorzustellen. Hast du eigentlich einen Traum, Mari? Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht, weil ich das wörtlich nahm. Selbstverständlich gab es einiges, wovon ich träumte. In Worte fassen können, hätte ich es wohl trotzdem nicht.

Schön, wie Du die Erinnerungen zum Leben erweckst. Ich bin voll dabei, mittendrin sozusagen.

Kindsein war eine schöne Zeit. Polly Pockets Wunderwald, Fruit Loops und Honey Pops, Kinderkanal und Kinderriegel, viele allerbeste Freundinnen, Übernachtungsparties, Stickeralben, Kindergeburtstage, Kino, Streichelzoo und Minigolf. Freibad nicht zu vergessen und Taschengeld. Irgendwie managte mein Vater immer, dass es mir gut ging.

Auch die Kindheit der Prota stell ich mir schön vor, so wie Du das erzählst. Ein toller Vater!

ach der Arbeit ging ich meist am stillgelegten Hafen und der Hundefutterfabrik vorbei in den Wald, um Tiere zu beoachten. Rehe in der Dämmerung, Bienen, Schnecken, manche Vögel, besonders den Flug der Bussarde, Insekten auch und Füchse und einmal einen Hirsch. Reine Neugier ließ mich eines Juniabends mit Gewitterwolken das Hafengelände betreten.

Ich mag Deine Prota! Statt mit Oberflächlichkeiten beschäftigt sie sich mit der Natur und Tieren. Sehr schön beschrieben.

Ziemlich sicher stand ich an derselben Stelle, an der ich jetzt in diesem Augenblick stehe, als ich ihn dort bei den Pollern sitzen sah, die Beine bis zu den Knien im Wasser. Dass er einen Bob trug, ja, aber dass er ein Junge war, vermutete ich erst, als er sich nach mir umdrehte und ‚Huch‘ rief, weil er offensichtlich erschrak. So ein Gesicht hatte ich noch nicht gesehen.

Da ist mir die Wortwiederholung aufgefallen.

tört es dich, wenn? Nein, gar nicht, und er rutschte zur Seite. Ich zog meine Schuhe aus und meine Strumpfhose und tauchte beide Beine ins Wasser. Tut gut, oder? Ja, tut gut. Willst du deine Limo trinken? Ja, warum nicht. Soll ich sie aufmachen? Ja, warum nicht. Er zeigte mir den Trick und ein bisschen beeindruckte mich das. Wie heißt du? Hägar und du? Marie ohne E. Warum ohne E? Ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich nicht so genau, aber etwas Besonderes. Verstehe. Bist du öfters hier, fragte ich. Jeden Tag ein, zwei Mal. Willst du einen Schluck Limo? Ja, gerne.

Sehr schöne Bilder.
Ich mag es auch, wie Du die Dialoge in der Geschichte schreibst. Ein ganz eigener Stil. Echt toll!

Es blitzte und kam in Eimern auf uns runter. Um vor dem Regen zu fliehen, war es zu warm. Barfuß liefen wir zum Unterstand, der aus einem rostigen Dach mit splittrigem Glas und Betonboden bestand. Dort hockten wir herum.

Das hab ich nicht so ganz verstanden. Du schreibst zum fliehen ist es zu warm, aber sie gehen ja unter den Unterstand um sich zu schützen. Hat mich bisschen irritiert.

Es interessierte mich. Hägar wurde rot, auch wenn sein Gesicht wie aus Eisen war. Nein, ich hab noch nie. Noch nicht mal einen Kuss. Weil ich nichts sagte, planschte er mit den Füßen. Ganz schön peinlich, hm, sagte er mit verstellter Stimme. Mit dreiundzwanzig Jungfrau und bei der Post. Finde ich gar nicht peinlich, sagte ich. Ich aber schon.

Die Scham bringst Du gut rüber.
Hier musste ich kichern. Hatte mir Hägar jünger vorstellt.

Seltener traf ich meinen Vater zum Eis oder Abendessen. Das hieß höchstens alle drei Wochen. Im Museum im Sommer. Zumindest sei es dort schön kühl. Morgens kaufe er sich immer eine Zeitung beim Kioskfritzen und ein belegtes Brötchen mit Salami.

Und hier hab ich mit dem Vater mitgelitten, der seine Tochter nur noch so selten zu Gesicht bekommt. Hat mich berührt.

Betrunken und in der Nacht hatte mein Vater angerufen und gefragt, ob ich nicht wieder bei ihm einziehen wolle. Ich ahnte, wie bitter das schmecken musste, jemandem ein Leben ohne Mängel ermöglicht zu haben und am Ende nichts als eine mehr oder weniger verblümte Abfuhr nach der anderen zu erhalten und mit nicht viel mehr dazustehen als seinem Alter, der Einsamkeit und gelegentlichen Gesprächen mit anderen und manchmal auch mit der Tochter.

Auch das geht total ans Herz. Der betrunkene Vater, der nach Liebe bettelt und die Prota mit ihren Gedanken.

Hier fing das an und wer weiß. Ich streiche mir über die Rippen, lege die Hände ab, schließe die Augen, rieche. Den Kanal, die Hafenblumen, den Sommerstaub, der auf allem liegt und die Zeit begraben hat vor etwa neun Jahren.

Und hier hab ich mich natürlich gefragt, was passiert ist und warum Hägar aus ihrem Leben verschwunden ist.

Gern gelesen!

Liebe Grüße,
Silvita

 

Liebe @Silvita ,

danke, dass du wieder dabei bist :gelb: Vielleicht kommt ja bald mal wieder was von dir und ich erhalte Gelegenheit, mich mal zu revanchieren. Dein Besuch hat mich jedenfalls sehr gefreut und natürlich, dass du den Text magst.

was für eine schöne Geschichte, die ging mir richtig ans Herz, hat mich berührt. Ich mag Deinen Erzählstil
So schön!

Danke dir. Das tut sehr gut zu hören.

Ziemlich sicher stand ich an derselben Stelle, an der ich jetzt in diesem Augenblick stehe, als ich ihn dort bei den Pollern sitzen sah, die Beine bis zu den Knien im Wasser. Dass er einen Bob trug, ja, aber dass er ein Junge war, vermutete ich erst, als er sich nach mir umdrehte und ‚Huch‘ rief, weil er offensichtlich erschrak. So ein Gesicht hatte ich noch nicht gesehen.
Da ist mir die Wortwiederholung aufgefallen.

Das zweite sehen (gesehen) ist gut verzichtbar. Danke. Ist mir nicht aufgefallen. Und es ist ja schon wichtig, weil der Text ja auch mit Wortwiederholungen arbeitet, aber das hier gehört nicht dazu.

Es blitzte und kam in Eimern auf uns runter. Um vor dem Regen zu fliehen, war es zu warm. Barfuß liefen wir zum Unterstand, der aus einem rostigen Dach mit splittrigem Glas und Betonboden bestand. Dort hockten wir herum.
Das hab ich nicht so ganz verstanden. Du schreibst zum fliehen ist es zu warm, aber sie gehen ja unter den Unterstand um sich zu schützen. Hat mich bisschen irritiert.

Ja, das ist nur so eine etwas eigenwillige Ausdrucksweise. Richtiger müsste es wahrscheinlich heißen: "Die Regentropfen fühlten sich warm an auf der Haut. Einen Grund, uns bei der Flucht ins Trockene zu beeilen, gab es nicht."
So war das gemeint. Ist halt so ihre in ihrer Logik verdichtete Sprache. Aber ich beobachte das nochmal.

Hier fing das an und wer weiß. Ich streiche mir über die Rippen, lege die Hände ab, schließe die Augen, rieche. Den Kanal, die Hafenblumen, den Sommerstaub, der auf allem liegt und die Zeit begraben hat vor etwa neun Jahren.
Und hier hab ich mich natürlich gefragt, was passiert ist und warum Hägar aus ihrem Leben verschwunden ist.

Die Story ist ein Ausschnitt aus etwas Längerem, erste ein, zwei Kapitel sozusagen.

Danke dir für deinen sehr schönen Kommentar, Silvita, und bis ganz bald!
Liebe Grüße
Carlo

 

Hallo @Carlo Zwei ,
das ist eine sehr schöne melancholische Rückschau auf ein Stück Jugendzeit.

Die Story ist ein Ausschnitt aus etwas Längerem, erste ein, zwei Kapitel sozusagen.
Du hast sie mit "Jugend" getaggt, ist aber nach meinem Empfinden eher an Ältere, so ab dreißig gedacht. Das ist so eine Zeit, wo die Rückschauen beginnen, die Erwartungen ambivalent werden und je nach Temperament Zufriedenheit oder Enttäuschungen sich breit machen.
Bei weiter fortgeschrittenem Alter, das kann ich dir versichern, kommt (hoffentlich) eine Gelassenheit dazu, so dass selbst Schicksalsschläge als gelebtes Leben akzeptiert werden können. Deine Prota hat gute Voraussetzungen für ein erfülltes Leben. Du hast ihr eine günstige Ausgangslage beschert.
Mein Vater gab mir Milch und Liebe. Einen Mangel habe ich nie empfunden, mich nie gefragt, wieso eigentlich. Wenn man so geboren wird, ist das normal für einen selbst, selbst wenn andere Kinder anders geliebt werden, man achtet darauf nicht, oder zumindest ich nicht. Freunde, Verwandte, alle halfen mit, damit aus mir jemand werden konnte, der keinen Mangel empfindet. Das geht

Irgendwie managte mein Vater immer, dass es mir gut ging. Manchmal kam er müde vom Museum nach Hause und dann dauerte es eine halbe Stunde und wir aßen Ravioli mit Speckwürfeln und Streukäse und ich erzählte, wovon auch immer, dass Julia eine Packung Stabilos in die Schule mitgebracht und mir den grünen geschenkt hatte, den schönsten, ach, das mache ihn wach wie ein frisch aufgebrühter Kaffee, erzähl mir noch mehr bitte. Ich tat ihm auf meine Weise also auch gut.
Mal sehen, wie du diesen Strang weiterverfolgst oder doch einen hochdramatischen, konfliktreichen Roman inszenierst.
Ich greife jetzt mal einzelne Textstellen heraus, die mir besonders gefallen haben und/oder mich stutzig gemacht haben.
Wünsch dir lieber etwas, das du gleich haben kannst.
ich interessierte mich für den Wald, war Eins-Minus-Schülerin und verhielt mich so unauffällig, dass ich halbwegs beliebt war, kaum wer mich kannte und kein Junge oder sonst jemand je an meiner Tür klopfte oder Steine gegen mein Fenster warf.
Selbstgenügsamkeit als Charaktermerkmal, Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für die Natur, das ist mehr als eine stilistische Attitüde. Vielleicht ein Entwurf zu einer neuen Innerlichkeit? Es muss ja keine neue Heilige aus ihr werden ;).

Hier ein Beispiel, bei dem ich , glaube ich, auf (unfreiwillige?) Komik gestoßen bin:

die Füße im Wasser, Blasen, die nach Kanal rochen
Es sind nicht Blasen an den Füßen, sondern die im Wasser gemeint:D?

Und hier:

Hägar war einen Kopf kleiner als ich
Ganz schön peinlich, hm, sagte er mit verstellter Stimme. Mit dreiundzwanzig Jungfrau und bei der Post. Finde ich gar nicht peinlich, sagte ich. Ich aber schon.
Kündigt sich hier ein neues Männerbild an?
Hier fing das an und wer weiß. Ich streiche mir über die Rippen, lege die Hände ab, schließe die Augen, rieche. Den Kanal, die Hafenblumen, den Sommerstaub, der auf allem liegt und die Zeit begraben hat vor etwa neun Jahren.
Ja, wer weiß! Ich bin ganz schön gespannt.

Liebe Grüße
wieselmaus

 

Liebe @wieselmaus ,

vielen Dank für deinen Kommentar. Da ist sehr viel für mich Wichtiges dabei.

das ist eine sehr schöne melancholische Rückschau auf ein Stück Jugendzeit.

Danke dir

Du hast sie mit "Jugend" getaggt, ist aber nach meinem Empfinden eher an Ältere, so ab dreißig gedacht.

Da sprichst du was an. Ich habe mich nämlich eine Zeit lang intensiv mit dem Jugend-Genre auseinandergesetzt und immer wieder auch festgestellt, dass das eigentlich was anderes ist. Trotzdem ist es so ein Ding von mir geworden, dass es oft um solche Jugendlichen/jungen Erwachsenen geht und trotzdem das eher etwas für Ältere ist, das stimmt.

Das ist so eine Zeit, wo die Rückschauen beginnen, die Erwartungen ambivalent werden und je nach Temperament Zufriedenheit oder Enttäuschungen sich breit machen.
Bei weiter fortgeschrittenem Alter, das kann ich dir versichern, kommt (hoffentlich) eine Gelassenheit dazu, so dass selbst Schicksalsschläge als gelebtes Leben akzeptiert werden können.

ich finde das spannend. Gerade dieses Akzeptieren ist ja aus einer außenstehenden Perspektive auch das Traurige daran. Das Sichabfinden. Dabei ist es, das denke ich auch, der 'richtige' Weg, wenn auch nicht der einzige, wie diverse traurige Schicksale belegen.

Mal sehen, wie du diesen Strang weiterverfolgst oder doch einen hochdramatischen, konfliktreichen Roman inszenierst.

hochdramatisch und konfliktreich wahrscheinlich nicht. Nicht mehr als in dieser Geschichte, denke ich. Aber mit dem Vater soll es da schon noch eine starke, überraschende Wendung nehmen.

Selbstgenügsamkeit als Charaktermerkmal, Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für die Natur, das ist mehr als eine stilistische Attitüde.

Darüber habe ich mich sehr gefreut und danke dir dafür. Ich sehe die Figur auch so. Es geht ja auch um so eine Bescheidenheit/Demut, die irgendwie auch etwas Tragisches hat, weil man bzw. weil ich mich da frage, was wäre, wenn sie ein bisschen gieriger nach Chancen und Möglichkeiten greifen würde. Aber das ist auch genau wieder, was mich an der Figur interessiert, dass sie eben nicht so ist.

Es sind nicht Blasen an den Füßen, sondern die im Wasser gemeint:D?

Ja, das ist richtig. Habe es zu 'Beine' geändert. Da passiert das nicht. Allerdings entsteht dann eine Wortdoppelung zum zweiten Absatz. Deswegen habe ich es jetzt erstmal noch rausgenommen, werde es aber ändern.

Kündigt sich hier ein neues Männerbild an?

Ja, ich denke schon :D

Danke, Wieselmaus! Hab mich sehr über deine Gedanken zum Text gefreut.
Liebe Grüße
Carlo

 

Hallo @Carlo Zwei :-)

Der Text folgt den Kriterien einer Kurzgeschichte nicht, er versucht eine Erinnerung aufzugreifen, vor allem aber das Unsystematische von Erinnerungen, die in ihren mentalen Repräsentation seltsam wabern und deren Regeln sich - welches Gefühl, welches innere Bild wann wie und warum erscheint - dem eigenen Ich entziehen. So trägt die Sprache die Struktur deines Texts. Aber auch etwas, was ich gar nicht so genau benennen kann. Man könnte es jetzt über-psychologisierend das ICH des Erzählers nennen, oder eher die Art, wie das Denken das ICHs verbalisiert.
Ich klinge jetzt überkompliziert, aber ich hoffe du verstehst, was ich meine: Das ICH kann nur auf eine bestimmte Art und Weise das verbalisieren, was es denkt und nur das scheint den Text zusammenzuhalten. Es ist also wichtig, dass ein Leser den Eindruck hat, dass jeder Satz, jedes Wort, plausibel dem ICH zugeordnet werden kann. Den Eindruck hatte ich. Ich habe deinen Text sehr gerne gelesen. Er ist dicht. Und ich mag es, dass du einen Weg abseits des typischen Plots gehst.

Eigentlich habe ich gar nicht viel, keine großen Anmerkungen. Der Text wirkt auf mich geschliffen. Auch, wie sich die Figuren bewegen. Das ist ein Gerüst, in dem sehr viel passieren kann.

Das Gefühl der Überraschung, dass sprachlich etwas passt ohne genau zu erklären, warum es passt. Dem bist du sehr nahe.

Im Grunde habe ich Fragen, keine kritischen, sondern Fragen, deren Antworten vielleicht auf das Bild verweisen, das du von Mari beim Schreiben gehabt hast.

Zum Ufer, zu den Pollern laufe ich und die Strahlen wärmen meine Beine, heizen mich auf. Ich habe mir ein Bier mitgebracht, mit Absicht ohne Flaschenöffner.
Mari sucht nach einem bestimmten Gefühl. Vielleicht ist es Vertrauen; ich dachte mehr an Geborgenheit, sogar Nostalgie. Auf mich macht Mari den Eindruck eines Menschen, der sehr bewusst, sehr achtsam lebt und nachdenkt über das, was sie tut. Ihren analytischen Job empfand ich als passend. Sie fordert keine Kontrolle über ihre Gefühlswelt, aber sie sucht nach bestimmten Stimmungen und handelt danach. Vielleicht auch jemand, der über sich selbst überrascht ist, wie "gut" alles gelaufen ist. Trotz denkbar ungünstigen Ausgangsvoraussetzungen ...
In einem Krankenhaus ohne Kreißsaal wurde ich geboren, erhielt Namen und Geburtsurkunde. Meine Mutter entband und verließ mich. Mein Vater gab mir Milch und Liebe. Einen Mangel habe ich nie empfunden, mich nie gefragt, wieso eigentlich. Wenn man so geboren wird, ist das normal für einen selbst, selbst wenn andere Kinder anders geliebt werden, man achtet darauf nicht, oder zumindest ich nicht. Freunde, Verwandte, alle halfen mit, damit aus mir jemand werden konnte, der keinen Mangel empfindet. Das geht. Theoretisch kann man mit einer Gehirnhälfte denken. Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.
... erlebt sie eine geborgene, "typische" Kindheit. Sie selber scheint zu wissen, dass ihre Kindheit auch eine andere Richtung hätte nehmen können. "Das geht", das wirkt fast wie eine Rechtfertigung. "Hallo liebe Welt, das geht! Dank der sozialen Unterstützung meines Umfelds konnte ich ohne Mutter aufwachsen!" Das Thema Dankbarkeit schneidest du nur kurz an:
Irgendwie managte mein Vater immer, dass es mir gut ging. Manchmal kam er müde vom Museum nach Hause und dann dauerte es eine halbe Stunde und wir aßen Ravioli mit Speckwürfeln und Streukäse und ich erzählte, wovon auch immer, dass Julia eine Packung Stabilos in die Schule mitgebracht und mir den grünen geschenkt hatte, den schönsten, ach, das mache ihn wach wie ein frisch aufgebrühter Kaffee, erzähl mir noch mehr bitte. Ich tat ihm auf meine Weise also auch gut. Wie ein frisch aufgebrühter Kaffee.
... vor allem gibt sie ihm eine Dankbarkeit, für die sie nichts tun muss. Mit Nichts meine ich: Sie muss nicht kämpfen, sie muss nicht arbeiten, sie muss ihren Vater nicht "stolz" machen durch irgendeinen Berufs- oder Schulerfolg. Das Verhältnis zwischen beiden ist seltsam geklärt. Ich frage mich nur wie ein solch achtsamer Mensch, der eine hohes Reflexionsvermögen aufweist, mit Konflikten zum Vater umgeht? Oder mit der Frage, was mit der Mutter geschehen ist? Alles so leicht, alles so einfach in der Kindheit ... Papa arbeitet hart und Mari muss nur von Stabilo-Dutts berichten, so wird alles gut. Klar, die Stimmung der Erinnerung färbt Konflikte unsichtbar.
Es war auch so, dass Martin gerne mal was kochen wollte, aber gehörte diese Information wirklich an einen stillgelegten Hafen? Die Kanalluft hatte immer etwas Modriges, ich nahm einen Schluck Limo und der Geschmack von Zitrusfrüchten mischte sich dazu.
So etwas muss erstmal gedacht werden. Auch hier wieder dieses Berechenbare und Bewusste in ihrem Denken.
Sieht so aus. Er hat mich nicht mehr angeguckt danach. Dieser Typ? Ja, ich glaube, er war ein Arschloch. Wahrscheinlich, sagte Hägar, steckte den Finger in seine Flasche und floppte.
Und dann eben die plötzliche Feststellung, dass Martin ein Arschloch ist. Vielleicht liege ich falsch, aber Mari - Mari sagt, dass Martin ein Arschloch ist. Mari! Da muss es emotional ganz schön gebrodelt haben, dass ein Mensch wie Mari zu der Erkenntnis gelangt, dass a) ein Mensch ein Arschloch sein kann und b) ein Mensch auch ein Arschloch ist.

Das wars!

Lg aus Lankwitz,
kiroly :-)

 

Hallo @Carlo Zwei,

dein Text entspricht genau meinen Geschmack bzw. einer Lesevorliebe (also einer unter anderen). Ich mag den Rhythmus, das Plätschern, die Stimmung. Ich glaube, mit so Außenseiter- oder Einzelgängercharakteren findet man außerdem ein dankbares Publikum beim schreibenden Volk, vielleicht auch insgesamt, keine Ahnung. Ich versuche jetzt noch mal - vor allem für mich - zu ergründen, warum und wo ich so gut andocken konnte und ich hoffe, du hast auch irgendwas davon ;-)

Die ersten beiden Absätze sind ja eine Art Einführung in die Stimmung. Die Erzählering beginnt im Präsenz an und erschafft über eine narrative Erzählweise eine schöne melancholische oder nostalgische Stimmung. Darum lese ich weiter, weil ich das mag, das Narrative und die Stimmung, aber auch weil es hier einen Spannungsbogen gibt - warum ist sie zurückgekehrt und vor allem auch: zu was ist sie zurückgekehrt? Das will ich wissen ...

Dann beginnt die eigentliche Rückblende. Auch die Rückblende ist vor allem narrativ, die Erzählerin erschafft Bilder eines langen Zeitraumes, ihrer Kindheit, mit wenigen Sätzen. Genau wie es bei Szenen wichtig ist, soviel zu beschreiben, dass bei Leser:innen Bilder entstehen, sie aber nicht mit Nebensächlichkeiten zu langweilen, so ist es auch beim narrativen Erzählen wichtig, soviel zu beschreiben, dass eben Bilder dieser Kindheit entstehen und der Beziehung zum Vater, ohne mit Nebensächlichkeiten zu langweilen. Das gelingt dir bzw. deiner Erzählerin mMn gut. Und es ist ja nicht nur die Kindheit, die du einfängst, sondern auch die weitere Entwicklung, die Beziehung zu Hägar, da setzen ja dann auch die irgendwie bedeutsamen Erinnerungen ein, mit denen der Text eingeleitet wird, also der Grund, warum sie wieder an diesem Ort ist, das muss ja was mit Hägar bzw der Beziehung zu ihm zu tun haben. Meine Vorstellung ist tatsächlich, dass sie seit nx Jahren mit Martin verheiratet/zusammen ist und jetzt merkt, dass das ne bescheuerte Idee ist. Also irgendwas fasziniert sie ja doch an Hägar, also ich bin interessiert, ich würde gerne weiterlesen. Dadurch, dass sie am Ende wieder ins Präsenz wechselt, auch wenn es jetzt keine neue Erkenntnis für sie gibt, erscheint mir die Geschichte trotzdem rund und abgeschlossen, obwohl ja eigentlich vieles offen bleibt, für mich aber auf eine gute Art.

Hin und wieder stolper ich im Text über Einschübe usw, auch im ersten Absatz, weil ich offenbar in einem leicht anderen Rhythmus lese, als du schreibst. Und auch bei ein paar Bildern, habe ich Probleme. Darum empfinde ich den Text zwar als sehr gut, aber noch feinschliffbedürftig. Aber insbesondere was den Rhythmus angeht, könnte es auch sein, dass, wenn du es vorliest, es natürlich dieses Problem nicht gäbe ...

Noch ein paar Details:

Theoretisch kann man mit einer Gehirnhälfte denken. Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.
Damit komme ich nicht ganz klar. Wieso das theoretisch, wo es doch hier um Praxis geht? Praktisch kann man seine Niere spenden oder auch Teile seiner Leber. Praktisch kann man nicht mit nur einer Hirnhälfte denken und auch theoretisch nicht, also nee ... Ich denke, was die Erzählerin sagen will, ist, dass man mit nur einem Elternteil leben kann, so wie man auch mit nur einer Niere leben kann, obwohl die zumeist als Paar vorkommen oder auch mit einer unvollständigen Leber. Also ich beziehe das direkt auf die Prota. Dann kommt, dass man auch Mutterschaft spenden kann und ich bin mir nicht sicher, aber ich lese es so, dass ihre Mutter quasi als Leihmutter ihre Mutterschaft gespendet hat und dass sie auch darum keinen Mangel empfunden hat, weil die Mutter sie eben nicht verlassen hat, sondern ihren Körper gespendet hat für neun Monate, damit Mari Tochter ihres Vaters sein kann. Aber vielleicht bedeutet es auch, dass die Verwandten alle etwas Mutterschaft gespendet haben. Ich mag den letzten Satz, aber das mit dem Gehirn ... nee, das passt für mich gar nicht.

Wenn du dir aber zu viel wünschst, dann werden deine Wünsche schnell alt und schrumpelig wie die Äpfel, die du nie isst, obwohl du sie immer bestellst. Wünsch dir lieber etwas, das du gleich haben kannst.
Für mich eine Schlüsselstelle, der den zentralen Konflikt der Geschichte (für mich zumindest) anreißt. Der Vater sagt: Wünsche weniger, und wer Kinder hat, kennt deren mitunter vorkommende Maßlosigkeit ... Doch dann passiert das:
Ich wünschte fortan vorsichtiger und weniger, je mehr die Zeit verging. Andere Mädchen schminkten sich, machten Führerscheine, wollten raus, ich interessierte mich für den Wald, war Eins-Minus-Schülerin und verhielt mich so unauffällig, dass ich halbwegs beliebt war, kaum wer mich kannte und kein Junge oder sonst jemand je an meiner Tür klopfte oder Steine gegen mein Fenster warf.
Und zack, das ist der Konflikt offensichtlich und wird es mehr und mehr. Einerseits ist es sicher leichter, durchs Leben zu gehen, wenn man nicht _alles_ haben will, andererseits ist doch das Leben voll von tollen Momenten, warum nicht so viele davon greifen, wie man kann? MMn machst du das sehr geschickt. Denn der Vater spricht ja über Dinge, denke ich, über Materie, darum ist es durchaus nachvollziehbar, was er sagt, aber irgendwie entwickelt sich die Idee des Wünschens in Mari zu einer Bescheidenheit dem Leben gegenüber und das ist doch nicht das, was wir für uns und unsere Kinder wollen. Ich will (und als Mutter habe ich gerade mehr diese Perspektive) für Kinder, dass sie Träume haben ... unbedingt ... so groß wie es geht ... aber ja, ich will nicht, dass sie zu so totalen Materialsurfern werden. Und für mich ist genau dieser Konflikt das Spannende an deinem Text.

Irgendwie managte mein Vater immer, dass es mir gut ging. Manchmal kam er müde vom Museum nach Hause und dann dauerte es eine halbe Stunde und wir aßen Ravioli mit Speckwürfeln und Streukäse und ich erzählte, wovon auch immer, dass Julia eine Packung Stabilos in die Schule mitgebracht und mir den grünen geschenkt hatte, den schönsten, ach, das mache ihn wach wie ein frisch aufgebrühter Kaffee, erzähl mir noch mehr bitte. Ich tat ihm auf meine Weise also auch gut. Wie ein frisch aufgebrühter Kaffee.
Ich finde da spricht auch eine gewissen erwachsene Reflexion heraus, eine Form von Dankbarkeit oder Bewusstsein, dass es eben für den Vater wahrscheinlich auch nicht immer ganz einfach gewesen ist und bei aller Schwere sind die Alltäglichkeiten des Kindes eine so große Ressource im Leben. Die fette Stelle beschreibt auch ganz wunderbar meine eigenen Gefühle. Ich liebe es, wenn mein Sohn davon erzählt, was er so gemacht hat den ganzen Tag, die ganzen vielen Kleinigkeiten ... leider erzählt er nur nicht so viel :crying:
Auch finde ich, dass du den Konflikt mit dem Vater geschickt einführst, denn die Beziehung wird von ihr niemals als problematisch beschrieben oder der Vater irgendwie negativ bewertet, verurteilt oder so, ganz im Gegenteil (siehe oben). Der Vater habe sie niemals einen mangel fühlen lassen, klingt ja alles schick und harmonisch, aber dann hat sie halt eben doch keinen Bock auf ihn, sieht ihn 1x in drei Monaten, was nun nicht gerade auf eine enge Bindung oder gute Beziehung hinweist. Im Grund wirkt der Vater ja recht bedürftig und es ist klar, dass sie keinen Bock hat Sinn des Lebens zu sein, ganz klein wird das oben in dem Zitat ja auch schon angedeutet, dass sie auch eine Funktion für ihn hat.

Sehr gerne gelesen.
Viele Grüße
Katja

 

Lieber @kiroly ,

danke für deinen Kommentar. Spannend, wie du das als Erzähltechnik analysierst. Jeder Satz ist dem Ich-Erzähler klar zugeordnet, hast du geschrieben. Das sehe ich auch so. Das ist sicher nicht die Neuerfindung des Rads. Ein personaler Ich-Erzähler, würde ich sagen. Hört sich wie gedoppelt an, bringt das aber vielleicht auf den Punkt. Es gibt ja auch wesentlich distanziertere Ich-Erzähler. Und hier ist eben der Versuch, möglichst viel 'Erleben' des Erzählers mit reinzubringen. Wozu das gut ist, mag man sich fragen. Eine Chance wäre wahrscheinlich die größere Nähe und die Behauptung einer Dringlichkeit. Eben weil das Erlebte stärker mitgeschildert wird. Dadurch wird ja auch ausgesagt bzw. gezeigt: das Ereignis xy ist eben genau für die Erzählerin deshalb sehr wichtig gewesen, eben weil sie da so und so drauf reagiert und das aus der Fülle kleiner Ereignisse als etwas Wichtiges herausschöpft.
Freut mich auch, was du sagst mit der Überraschung in den Sätzen selbst. Das ist etwas, worum ich mich gerne weiter bemühen will. Der Anspruch: Jeder Satz soll etwas hergeben.
Wie du Maris Motivation beschrieben hast, finde ich übrigens treffend. Ich finde Mari deshalb interessant, weil sie irgendwie so offen und trotz ihrer Vergangenheit unbeschrieben ist, zumindest in meiner Vorstellung. Zurückhaltend irgendwie.
Dieses Thema Dankbarkeit, was du angeschnitten hast, hat mich auch nochmal zum Nachdenken gebracht. Ich würde gar nicht sagen, dass Mari da nicht auch große Dankbarkeit empfindet. Diese Trennung ist in meiner Vorstellung etwas, über das sie nur bedingt Kontrolle hat. Es bricht so halb auch über sie herein. Ihre Situation hat sich verändert. Da ist viel Neues. Und ihr Vater entwickelt sich einfach nicht mit. Habe neulich ein Kurz-Gesagt Video (youtube) gesehen, wo es darum ging, wie wir unsere Zeit verbringen. Das Leben ist dort nach Durchschnitt in Lebenszeit (in Wochen bemessen) umgerechnet. Ein kleiner, aber treffender Kommentar im Video war: 'Neunzig Prozent der Zeit, die du mit deinen Eltern in deinem Leben verbringen wirst, sind bereits vorbei'.

(für manche ein Segen hehe ...)

Sieht so aus. Er hat mich nicht mehr angeguckt danach. Dieser Typ? Ja, ich glaube, er war ein Arschloch. Wahrscheinlich, sagte Hägar, steckte den Finger in seine Flasche und floppte.
Und dann eben die plötzliche Feststellung, dass Martin ein Arschloch ist.

Ja, das ist etwas missverständlich, weil die Figurenkonstellation ja sonst schon recht übersichtlich ist. Aber dieser Typ, mit dem sie was im Labor hatte, ist nicht Martin, sondern jemand anderes:

Und du? Ein Typ im Labor der jetzt nicht mehr da ist. Martin? Nein, jemand anderes. Das war dein erstes Mal? Ja. Also bist du auch eine Spätzünderin. Sieht so aus.

Vielleicht füge ich da nochmal was hinzu. Wäre unglücklich, wenn das gerade bei einem längeren Umfang nicht klar genug wäre.

Danke dir. Ein sehr schöner Kommentar, der mir nochmal richtig Denkfutter gegeben hat :)Immer schön, etwas von dir geschrieben zu bekommen.
Viele und gute Grüße
Carlo

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @Katta ,

vielen Dank für diesen sehr schönen und umfangreichen Kommentar. Da dachte ich, jetzt kommentiert bestimmt niemand mehr, und dann kiroly am Freitag und du am Samstag gleich hinterher :) Ich wollte nicht so sehr aufs Handy glotzen, aber habe den Film (Django Unchained zum tausendsten Mal) nur noch halb so konzentriert geschaut.

Freut mich, dass der Text deinen Geschmack bzw. noch wichtiger (d)eine Lesevorliebe trifft. Falls ich mal etwas abseits von Kurzgeschichten raushaue, wünsche ich mir, dass diese Geschichte in so einer Weise ankommt. Es gibt ja sehr unterschiedliche Erwartungen an Texte und wenn es ein paar Leuten gefällt und es eher ist, dass man etwas Gemeinsames teilt, als dass man den anderen mit heftigen Konflikten und reißender Spannung bedient, dann ist das toll und irgendwie auch das, was ich mir wünsche. Deine Interpretation, dass man da beim schreibenden Volk auf Zuspruch trifft, vielleicht hast du recht damit, ich kann mir jedenfalls auch gut vorstellen, dass viele von uns sich von diesen Einzelgängerfiguren angesprochen fühlen :lol:.

Deine Rückmeldung über die ersten zwei Sätze ist hilfreich. Das ist ja etwas Essentielles, wenn man sagen kann: Die ersten Sätze verdeutlichen die Stimmung und so gelingt es jemandem zu überprüfen, ob das nun ein Text ist, den er/sie lesen will. Freut mich auch, dass dieser Satz zu Hägar als Haken für Spannung funktioniert, genau wie die Rückblende an sich. Darüber hatte ich vor kurzem eine Unterhaltung mit Peeperkorn. Es ging darum, dass sich da auch die Geister scheiden können. Manche fragen sich vielleicht: warum nicht gleich aus dem Präsens erzählen. Aber es ist eben eine ganz bestimmte Art der Verortung der Erzählposition. Außerdem war die Frage: ist es denn immer noch spannend, wenn man hier zum Beispiel schon erahnen kann, dass Hägar und sie hinterher nicht mehr so viel miteinander zu tun haben? Da gibt es dann halt eben auch, wie dein Beispiel belegt, die Gegenmeinung, dass das ja auch eine Spannung birgt: Wie ist es zum Punkt dieser Rückblende überhaupt gekommen?
Am Ende schließt sich dieses Bild dann ja mehr oder weniger.

Meine Vorstellung ist tatsächlich, dass sie seit nx Jahren mit Martin verheiratet/zusammen ist und jetzt merkt, dass das ne bescheuerte Idee ist. Also irgendwas fasziniert sie ja doch an Hägar, also ich bin interessiert, ich würde gerne weiterlesen.

heheh. Soll ich das jetzt auflösen, so wie ich das weitergesponnen habe? Ein Exposé dazu steht bereits. Vielleicht wird ja mal was daraus, also erspare ich mir den Spoiler :)

Dadurch, dass sie am Ende wieder ins Präsenz wechselt, auch wenn es jetzt keine neue Erkenntnis für sie gibt, erscheint mir die Geschichte trotzdem rund und abgeschlossen

Das freut mich. Dann ist der Text nicht bloß ein Versprechen, das auf Einlösung wartet.

Was du dann über dein Stolpern geschrieben hast bzw. was du vermutest (dass du einen Leserhythmus hast, der sich von meinem Schreibrhythmus unterscheidet), finde ich sehr spannend. Das ist aus der Frage, wie Texte rezipiert werden, schon ein sehr interessanter Punkt. Ich denke, damit könntest du recht haben bzw. deine Vermutung klingt sehr plausibel für mich. Mindestens einige Worte haben einen mündlichen Aspekt, der nicht direkt verschriftlicht ist. Das merke ich dann auch, wenn ich das vorlese bzw. fällt mir auf, dass ich weiß, wie man das betonen muss, damit es das ist, was ich meine. Da habe ich beim Vorlesen öfter schon für einen kurzen Moment gedacht: okay, wie würde eine andere Person das jetzt lesen? Kann ich auf jeden Fall sehr gut nachvollziehen. Ich frage mich, inwiefern das für LeserInnen zumutbar ist bzw. wo, wie und wann der Punkt käme, wo selbst offene LektorInnen da einschreiten würden.

Das mit der Gehirnhälfte: also es gibt ja theoretisch schon die Möglichkeit, zumindest habe ich davon gelesen . Aber darum ging es dir, wenn ich dich richtig verstehe, auch nicht, sondern dass da der Übertrag nicht stimmt. Diese Stelle haben einige rausgeschrieben und ich schaue mir das auf jeden Fall nochmal an, auch wenn ich da noch nicht den Masterplan habe. Die meisten hatten sich am 'Mutterschaft spenden' aufgehängt, dass da so grammatisch als Möglichkeit entsteht. Weil das etwas anderes wäre. Es ist definitiv eine krude und etwas schiefe Metapher. Muss mal sehen, wie ich damit umgehe.

War für mich auch erhellend bzw. anregend, was für dich die zentrale Stelle im Text war und wie du das begründest. Vielen Dank für diese Ausführlichkeit und die Zeit, die da drinsteckt! Es ist ja so eine Nuance: Der Vater meint die materielle Seite des Wünschens und Mari übersetzt das im größeren Maßstab. Es ist ja unklar, ob das eine das andere wirklich bedingt hat, aber in Maris Narration wird es nahegelegt. Beim Schreiben habe ich da eine Person im Kopf, die so ähnlich ist wie Mari, aber weniger schlicht und bescheiden. Die Kindheit passt schon zu beiden. Aber viel mehr materielle Vergangenheit hätte das, glaube ich, nicht vertragen, und da muss ich auch aufpassen, dass es nicht zu der mir bekannten Person wird, sondern dass es Mari bleibt. Materialsurfer ist übrigens ein geiles Wort :D Ja, ich verstehe diese Perspektive, wie du das beschreibst: Kinder sollen Wünsche/Träume haben. Das ist für mich auch mit das Zentrale an dieser Story; oder vielmehr der Konflikt zwischen Verantwortung und Selbstverantwortung. Wald und Labor. Hägar und Martin/Vater. So habe ich auch das Exposé aufgezogen. Danke auf jeden Fall auch, dass du da deinen Leseeindruck aus Elternperspektive geteilt hast. Was diese Trennung vom Vater angeht, hatte ich auch an kiroly etwas geschrieben. Dass es fast schon von selbst passiert und ein Stück weit sogar vom Vater initiert ist, wenn man das mit dem Wünschen so weiterlesen mag. Sie geht diesen Weg, macht dort im Labor ihren Job und entwächst ihrem Vater fast von selbst.

Danke dir für deinen Besuch, Katja, hat mich sehr gefreut :)
Viele Grüße
Carlo

 

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