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Am entgegengesetzten Ende der Welt
für Dominic (Irgendwo, ganz weit weg)
Er spürt solche Tage, spürt es, wenn die Sehnsucht in mir anwächst und ich nichts anderes will, als das wahre Leben hinter mir lassen. Vielleicht, weil es Frühling wird, die Sonne den grauen Himmel vertrieben hat und überall Vögel gegen den Straßenlärm ansingen.
Später wird er kommen, das weiß ich.
Es sollte mich wütend machen. Wenigstens ein bisschen. Weil er ein Nein nicht akzeptieren kann, nicht auf mich hört und macht was er will.
Wütend bin ich nur auf mich selbst. Weil ich mich schon jetzt auf ihn freue. Weil mir an Tagen wie diesen egal ist, was uns trennt. Und vor allem, weil ich es nicht schaffe, wütend, wenigstens ein bisschen wütend, auf ihn zu sein.
„Der Regen hat dich in mein Leben geschwemmt“, sagte ich einmal zu ihm.
„Nein, er hat es überschwemmt“, korrigierte er und lächelte, wie er es manchmal tut, mit Schatten in den Augen, die ich nie deuten kann.
Ein Wolkenbruch trieb mich unter die große Buche mit den ausladenden Ästen – er stand schon da und blinzelte, eine Angel in der Hand, in den düsteren Himmel.
Dass er einer der echten Menschen war, spürte ich sofort. Wusste es, als er mich ansah, mit seinen azurblauen Augen. Ganz tief sahen diese Augen, tiefer vielleicht, als ich mich selbst je gesehen hatte.
„Ich heiße Jano“, sagte er.
„Matilda“, antwortete ich und gab ihm die Hand.
„Jano“, flüstere ich. Das Wort zersplittert, teilt sich in tausend Bilder und ich finde eine ganze Welt dahinter: Herbst, ein blauer Himmel, er und ich. Ich und er. Weihnachtsmarkt, heißer Glühwein, verbrannte Finger. Dampfnudeln und warme Lippen, die nach Vanille schmecken. Kaminfeuer, Schatten an der Wand und heiße Schokolade. Und ein riesengroßer Scherbenhaufen.
Er hielt sie einen Moment zu lange, meine Hand. Und mir gefiel, wie sie sich anfühlte, ganz warm und ein bisschen rau.
„Kaffee?“ Er wartete meine Antwort nicht ab und reichte mir einen Becher. „Zu süß und viel zu viel Zucker, aber ich mag ihn so.“ Wir lächelten uns an, verstanden.
„Danke. Ich gehe hier oft spazieren, aber ich habe dich noch nie gesehen.“
„Ich komme nur selten her, aber immer wenn ich raus muss, zieht es mich an diesen Fluß.“ Er deutet mit dem Kinn auf seine Angel. „Ich angle immer mit leerem Haken. Das ist gut zum Entspannen“ Grinsend zuckt er mit den Achseln, als wollte er sich dafür entschuldigen.
„Warum macht man so etwas?“
„Weil man Mitleid mit den Fischen hat. Aber ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, warum ich dir so was erzähle.“
„Weil ich mit den gelben Gummistiefeln und dem quietschroten Regenmantel aussehe wie eine Vollidiotin?“
Ganz nah standen wir beieinander, Regentropfen klebten in seinen Wimpern und plötzlich wollte ich die Hand ausstrecken und ihm über das nasse Haar streichen – ich glaube, das war der Moment, in dem ich mich in ihn verliebt habe.
„Weißt du, Matilda“, sagte er viel, viel später, als schon alles verdorben war.
„Ich hab gewusst, wie das endet. Sogar das Warum hab ich geahnt.“
Nur ich, ich wusste nichts! Warum dürfen Menschen wie er Jano heißen? Warum haben sie azurblaue Augen und ein Lächeln, das meine Knie weich werden lässt? In Mittelerde ist doch auch leicht zu erkennen, wer die Bösen sind! Was ist mit all den Klischees, die einen angeblich warnen sollen? Er trug keine Londsdale- oder Consdapleklamotten. Und falls er CDs von Störkraft oder Noie Werte besaß, so habe ich sie nie gesehen.
Jano klingelt, steht vor meiner Tür und ich schaffe es noch nicht einmal, meine Freude zu verbergen. Mein Lächeln ist so breit, dass es buchstäblich von einem Ohr zum anderen reicht. Dabei wollte ich ihm wenigstens souverän gegenübertreten.
Er tritt von einem Fuß auf den anderen und grinst schief. Er grinst immer so, wenn er nicht weiß, was er als nächstes tun oder sagen soll.
Wir haben nicht viele Möglichkeiten und deswegen küsse ich ihn. Seine Lippen sind ganz warm und schmecken nach Tabak. Er presst mich gegen den Türrahmen, dringt mit seiner Zunge in meinen Mund. Beißt mich in die Lippen und obwohl es ein bisschen wehtut finde ich es schön. Ich schiebe meine Finger unter seinen Pullover und schramme über seinen Rücken.
„Matilda“, stöhnt er in mein Ohr. „Ich liebe dich.“
Ich nestle an seiner Jeans herum und wir lachen, weil meine Finger zittern und ich es nicht schaffe, die Knöpfe zu öffnen. Er presst mich noch fester an den Türrahmen und schiebt seine Hand in meine Hose.
„Die Gummis“, seufze ich.
„Was?“
„Die Gummis sind im Schlafzimmer.“
„Matilda“, sagte er. Seine Stimme klang ein bisschen kratzig und einen Hauch zu hoch. Ich stand am Herd und briet Steaks. Schon in diesem Moment wusste ich, dass ich nicht hören wollte, was er zu sagen hat.
„Ist schon gut“, flüsterte ich. „Erzähl es mir nach dem Essen.“
„Matilda.“ Er stand ganz nah bei mir und ich musste ihm in die Augen sehen.
„Morgen ist eine Demonstration der NPD mit anschließender Kundgebung zum Gedenken an die Opfer der Bombennächte.“
„Hm“, sagte ich und weigerte mich zu verstehen.
„Und ich werde daran teilnehmen.“
Alles schlug er kaputt mit diesen Worten und all meine Hoffnungen sah ich erst, als sie zerschlagen zwischen uns lagen.
Ich wollte etwas sagen, aber es erschien mir unendlich anstrengend, die Worte zu formen.
„Und ich wollte zur Gegendemonstration“, flüsterte ich. „Wie könnt ihr die Opfer für eure Zwecke missbrauchen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Findest du das richtig? Dass Stadt um Stadt zerbombt wurde? Dass alles kaputt war und tausende Menschen in etwas hineingezogen wurden, dass sie nie wollten?“
Ich konnte nichts dazu sagen, schon jetzt hatten wir die Grenzen ereicht. Nur halten wollte ich ihn noch für einen Augenblick. Und ganz kurz, ein paar Sekunden, war noch alles in Ordnung.
„Wir sehen uns morgen“, sagte er und ging.
Ich mag das Danach, wenn Jano in meinen Armen döst und mir gelegentlich feuchte Küsse auf die Wange haucht. Ich mag es ihm beim Schlafen zuzusehen. Seine Wimpern werfen Schatten auf seine Nase und seine Lider zucken im Traum. Ich streichle die weiche Haut an seinem Hals, verweile einen Moment an der Narbe knapp unter dem Bauchnabel.
„Ich liebe dich“, sage ich, aber er hört es nicht.
Wir wollten raus und es ist Frühling, wir liegen auf einer Decke. Der kalte Boden trägt noch den Winter in sich. Aber eindeutig: Frühling. An den Bäumen regt sich das erste zarte Grün und die Sonne kitzelt meine Nase und hinterlässt ein wenig Wärme.
Das alles sollte genügen, wenigstens jetzt – aber das tut es nicht.
„Erzähl mir von deinen Eltern“, fordere ich ihn auf.
Er pustet mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sieht mich an. Warum fragst du, wollen seine Augen wissen. Es gibt keine Worte, die Brücken zwischen uns bauen. Schweigen ist unsere einzige Sprache.
„Ich war oft mit meinem Vater angeln, meistens nachts. Es war unheimlich, wenn wir im Dunkeln zum Angelplatz liefen. Da gab es so viele Schatten und so viele knackende Äste. Ob ich Angst habe, wollte mein Vater oft wissen. Trotz schlotternder Knie habe ich das immer abgestritten.“
Er lächelt, sieht mich an und meint doch nicht mich. Ganz weit weg ist er, irgendwo in seiner Vergangenheit und als ich ihn küsse weiß ich, dass er es nicht spürt.
„Wohl fühlte ich mich erst, wenn mein Vater ein Feuer zum Brennen gebracht hatte. Für das Angeln habe ich schon damals nicht viel übrig gehabt, das Drumherum war immer interessanter. Ich tanzte um das Feuer und trug einen Indianerkopfschmuck, den mir meine Mutter aus gefärbten Entenfedern gebastelt hatte. Manchmal erzählte mein Vater Gruselgeschichten und ich schmiegte mich ganz nah an ihn. Er war so warm und roch nach Tabak und Minze. Manchmal glaube ich, dass ich nur rauche, weil es mich an meinen Vater erinnert.“
Seine Stimme entgleitet ihm und er kehrt zu mir zurück.
„Schön war das damals“, sagt er und nimmt meine Hand.
„Hat dein Vater dich jemals geschlagen?“ Die Worte kommen aus meinem Mund, obwohl ich das gar nicht will. Sie schwirren in der Luft und fegen ihm sein Lächeln vom Gesicht. Sie ist wieder da, die Mauer zwischen uns, himmelhoch türmt sie sich auf und er lässt meine Hand los.
„Würdest du dich dann besser fühlen?“ Seine Worte brennen. „Soll ich dir erzählen, dass er mich vergewaltigt hat? Dass ich eine schreckliche Kindheit hatte? Dass mein Vater ständig blau war und abwechselnd mich und meine Mutter geprügelt hat? Wäre das gut für dich? Brauchst du ein paar Szenen, die in dein Weltbild passen?“
„Vielleicht“, antworte ich. Und irgendwie ist der Tag jetzt verdorben.
Am Liebsten möchte ich weinen, als wir unsere Sachen zusammenpacken. Könnte ich ihn nur überzeugen, denke ich mir.
„Weißt du“, sagt er. „Du wärst nicht mehr die Gleiche, wenn du an etwas anderes glauben würdest.“ Wir sind uns so ähnlich und doch wohnt er am anderen Ende der Welt. Aber manchmal, denke ich, kann er mich besuchen kommen.