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Am Fort Douaumont
Seit einigen Tagen ist Bewegung in die Sache gekommen. Noch kann ich nicht erkennen, was genau passiert ist. Anfangs habe ich hin und wieder gedämpfte Stimmen gehört, aber nun höre ich nur noch ein Rattern. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr da bin, wo ich so lange Zeit war. Soweit ich das beurteilen kann, befinden sich die Wände um mich zwar noch immer an ihrem Ort, aber mein ganzes Gefängnis scheint gleichmäßig zu vibrieren.
Ab und zu höre ich von irgendwo her ein Pfeifen wie von einem riesigen Teekessel, doch das Rattern geht immer weiter.
An der Dunkelheit, die mich wie schwarze Watte umschließt hat sich allerdings nichts geändert, doch ich bin von einer inneren Anspannung erfüllt wie noch nie.
Ich weiß nicht wo ich bin und auch nicht wie ich hier her gekommen bin. Die einzigen Erinnerungen, die ich noch an die Zeit davor habe, sind wie von Nebel verschleiert. Nur kurze Bildfetzen, Geräusche und Gerüche kommen mir dann wieder in den Sinn. Feuer, Stahl, Schwefel, Hitze, das Zischen eines Hochofens und das monotone Hämmern einer Stahlpresse.
Doch nichts ergibt einen Sinn, nichts passt zusammen. Ich erinnere mich an eine menschliche Berührung. Sie spielt sich immer wieder vor meinem geistigen Auge ab. Eine schmutzige, ölige, von Schwielen zerfurchte Hand packt mich und mit der selben Bewegung befördert sie mich in mein Verlies.
Seit diesem Moment lebe ich in absoluter Finsternis, eingekeilt zwischen vier Holzwände, unfähig mich zu bewegen. Wie lange ich schon hier bin? Ich weiß es nicht. Vielleicht Tage, vielleicht Stunden, vielleicht Jahre. Das Rattern, die Stimmen, die Bewegungen, das alles hat jedoch erst vor kurzem begonnen.
Das Rattern hört auf! Metall trifft kreischend auf Metall, noch ein kurzer Ruck, Überdruckventile lassen zischend Dampf ab – Stille! Doch ich kann wieder die Stimmen hören, noch scheinen sie weit weg und nur Wortfragmente dringen zu mir. Meine Aufregung bringt mich fast zum Explodieren! Vielleicht lüftet sich nun endlich das Geheimnis meiner Existenz und meiner Gefangenschaft. „LKW ..... Bahnhof ..... Oberndorf ..... Verdun ..... Frontabschnitt .....“ Ich kann die Worte nicht ordnen, keinen klaren Gedanken fassen! Die Stimmen sind schon ganz nah. Die Spannung ist greifbar, ein Knacken über mir, Holz zerbricht. Plötzlich wird alles von Licht durchflutet, ich bin geblendet. Die Stimmen, eben zwar schon nah, doch nur undeutlich zu verstehen, dröhnen mit einer nicht gekannten Klarheit auf mich ein. Jemand muss das Dach meines Gefängnisses aufgebrochen haben!
„Sind die für das 24. Brandenburgische? Hab gehört, es soll gegen Fort Douaumont gehen. Dicke Mauern!“
Noch ehe diese Worte in meinem Bewusstsein zu einem Gedanken werden oder ich mich an die Helligkeit gewöhnen kann, werde ich schon unsanft gegriffen und hoch gehoben. Erinnerungen an Schwielen und Schmutz. Doch diese Hand ist anders. Viel grobschlächtiger als die, die mich vor einer Ewigkeit gepackt und eingesperrt hat. Eine Männerhand!
Ich kann mich meiner neu gewonnenen Freiheit nur kurz erfreuen, denn schon geht es vom grellen, alles überleuchtenden Licht wieder in tiefe, leere Dunkelheit.
Wenn ich nur wüsste wo ich bin und was ich hier soll! Ich hänge meinen Gedanken nach und versuche zu verstehen. Es gelingt mir nicht.
Mein neues Gefängnis scheint aus Leder zu sein, es riecht nach altem Brot. Doch auch hier ist es stockfinster. Aber bei weitem nicht so ruhig, wie in dem alten! Geschrei, Befehle und klirrender Stahl und in der Ferne ein bedrohliches, kaum merklich näher kommendes Grollen. Ich werde völlig durchgeschüttelt während die Stimmen um mich immer aufgeregter und angespannter klingen. Ich kann nicht verstehen, was sie reden, doch in ihrem Ton schwingt eindeutig Angst.
Das entfernte Grollen ist zu einem tödlichen Dröhnen angeschwollen. Ein heftiger Schlag, ich werde nicht mehr von der einen Seite meines Gefängnisses auf die andere geschleudert.
Dafür durchflutet auf einmal wieder grelles Licht den Raum, die gleiche Männerhand, die mich hier hinein gesteckt hat, packt mich erneut, zieht mich hinaus in die grelle Helligkeit, in den schmerzenden Lärm und schleudert mich fort von sich! Wieso werde ich fortgeschleudert? Ich will bei dir bleiben! Ich war mein Leben lang eingesperrt, ich will zurück in die Dunkelheit, das Licht und die Farben ängstigen mich!
Das unerträgliche Dröhnen wird noch ein bisschen lauter und ich fliege.
Ich fliege! Ich bin frei!
Zum ersten Mal nehme ich meine Umgebung bewusst wahr.
Das Grollen und Dröhnen lasse ich hinter mir, es schwindet zu einem leisen Summen im Hintergrund. Über mir der blaue Himmel eines eisigen Januarmorgens, unter mir die zerwühlte, graue Erde, vom Blut der Soldaten getränkt.
Doch was kümmert’ s mich? Ich hab meinen Sinn, meine Existenz gefunden, ich könnte ewig so weiter fliegen!
Die Sonne spiegelt sich an meinem stählernen Körper. Stolz blicke ich an mir herunter und entdecke eine eingeprägte Inschrift, die auf dem Kopf steht. „Waffenfabrik Mauser, Oberndorf. 1915.“
Langsam dringt der Lärm wieder in mein Bewusstsein, der Himmel schwindet aus meinem Blickfeld und der Boden kommt drohend näher. Plötzlich kann ich auch wieder Stimmen wahrnehmen. Auch sie schreien, doch in einer Sprache die ich nicht verstehen kann.
„Attention, grenade à main!“
Mit unglaublicher Wucht schlage ich auf dem hartgefrorenen Boden auf und bleibe benommen liegen.
Mit einem Mal wird mir alles klar.
Ich bin nicht frei. Ich war nie frei.
Von dem Moment meiner Geburt in einem Stahlofen in Deutschland war ich ein Gefangener, mein Schicksal vorbestimmt. Ich diene nur einem Zweck, dem Töten. Die Erkenntnis macht mich wütend.
Wütend auf die Frau, die mich in der Waffenfabrik in eine Holzkiste gepackt hat. Wütend auf den Soldaten, der mich aus dieser Kiste in der ich im Zug nach Frankreich gebracht wurde, genommen und in seine Tasche gepackt hat. Auf eben diesen Soldaten der mich am Fort Douaumont in einen französischen Schützengraben geworfen hat und mir auf dem Flug dahin die Illusion der Freiheit vorgegaukelt hat.
Und am meisten auf meine Unfähigkeit eigene Entscheidungen zu treffen, darauf nur eine Schachfigur zu sein.
Ein Junge, höchstens 18 kauert ängstlich an der Wand des Schützengrabens und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er müsste mich nur aufheben und zurückschleudern! Er bewegt sich nicht. Er klammert sich zitternd an sein Gewehr und starrt mich nur an.
„Wirf mich zurück!“, will ich ihm zurufen „Wir gehören alle nicht hierher. Wir sind beide nur die Werkzeuge anderer!“
Und dann, im Angesicht des Todes den ich dem unschuldigen Jungen bringen werde, wird mir klar, was ich zu tun habe. Ich treffe eine Entscheidung. Es ist die erste freie Entscheidung in meinem Dasein.
Ich war nicht frei gebaut zu werden, ich war nicht frei verschickt zu werden, ich war nicht frei geworfen zu werden.
Ich bin eine Handgranate und nehme mir die Freiheit, nicht zu explodieren.
Ende